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Der Hund

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11.02.2003
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Der Hund

Heute ist mein 12. Geburtstag. Ich habe keine Geschenk erhalten. Mutter sagt, wir könnten es uns nicht leisten. Ich weiss schon, wieso wir es uns nicht leisten können; Vater versäuft alles Geld, dass er verdient. Ein Wunder, dass wir uns die Miete noch leisten können. Er hat mich nie geschlagen, dass muss ich zu seiner Verteidigung sagen. Bei Mutter schlug er nur ein einziges Mal, dann hat es ihm aber sofort wieder leid getan und er hat geheult wie ein Baby. Mutter hat sich damit abgefunden, einen Schwächling geheiratet zu haben; sie sah meistens fern.

Es waren grosse Sommerferien und alle meine Freunde aus der Umgebung waren mit ihren Eltern in Urlaub gefahren, oder gar geflogen. Ich bin noch nie geflogen. Wir wohnten in einer von Gott verlassenen Gegend, einem Vororts des Vororts der kleinen Stadt, in der Vater arbeitete und sich eben auch betrank.

Heute war ein heisser Tag, selbst für einen Hitzkopf wie mich. Ich wollte heute etwas erleben, schliesslich war es mein Geburtstag. Ich beschloss, in den Wald zu gehen, wo es wenigstens Schatten gab. «Wo willst du hin, Josh?» – «Nach draussen, Mum.» – «Wo, nach draussen, Josh?» Ich wollte schon antworten, dass ich mit meinen Freunden spielen gehe, die allesamt nicht in den Ferien waren, und dass ich nicht sauer bin, weil ich an meinem Geburtstag leer ausgehe, und dass ich nicht zu den Kindern gehörte, die die Welt für ungerecht hielten. Meine Mutter konnte es nicht ausstehen, wenn ich so zynisch war, vielleicht, weil es sie daran erinnerte, dass sie ihr Leben genauso hasste. Ich antwortete ihr aber gar nicht und ging hinaus.

Ich war schon auf dem Feldweg, als sie mir nochmals etwas hinterherrief, das ich aber nicht mehr verstand. Ich achtete weder die Schönheit der Natur, noch genoss ich die Freiheit der Schulferien. Ich war einfach nur sauer, weil ich kein Geburtstagsgeschenk erhalten hatte, weil meine Eltern nie mit mir in Urlaub fuhren, weil sie alle beide Versager waren. Vater ertränkte sich selbst im Alkohol und Mutters Leben war eine Anreihung von Soaps und Talkshows. Geschwister mit denen ich hätte spielen können, hatte ich auch keine.

Ich hatte meine Steinschleuder mitgenommen, um auf «Fergussons» Jagdstuhl auf alles zu schiessen, was sich bewegte. Fergusson war ein alter Jäger aus der Umgebung. Er war überhaupt nicht begeistert davon, dass jemand ausser ihm seinen Jagdstuhl bestieg. Er hatte mich schon ein paarmal davongejagt, ja mir sogar gedroht, er würde mich verprügeln, wenn ich es je wieder wagen würde. Doch ich hatte schon lange keinen Respekt mehr vor dem Alter und dessen leeren Drohungen. Ausserdem war heute mein Geburtstag und ich hatte das Recht, mich zu amüsieren.

Als der Feldweg in den Wald führte, hob ich ein paar Steine auf und spannte einen nach dem andern in meine Schleuder und schoss willkürlich umher. Ich fühlte mich augenblicklich besser und nahm gleich noch eine Hand voll Steine als Munition. Fergusson war weit und breit nicht zu sehen, als ich mich seinem Jagdstuhl näherte. Ich kletterte hinauf. Von hier oben sah alles ganz anders aus, obwohl man sich nur etwa vier Meter über der Erde befand. Die kleine Lichtung war genau in meinem Blickfeld. Ich wusste aus welcher Richtung Fergusson kommen würde, dass ich genug Zeit hatte hinunterzuklettern und dass er auch bestimmt nicht auf mich schiessen würde. Fergusson war ein feiger alter Sack.

Ich genoss es dort oben zu sitzen, alles zu beobachten, alles unter Kontrolle zu haben.
Noch bewegte sich nichts und ich wartete ungeduldig, das Verlangen, auf etwas zu schiessen wuchs. Der Hass in mir wartete immer noch, auszubrechen. Meine Schleuder war sein Werkzeug. Ein Spatz setzte sich auf einen Ast des Baumes gegenüber. Meine Augen wurden zu Schlitzen. Endlich. Der Stein lag bereits in der Schleuder, die ich nun ganz langsam spannte. «Stirb, Vogel.» flüsterte ich, als ich losliess und der Stein durch die Luft schleuderte, durch die Baumkrone hindurch flog und schliesslich an einem anderen Baumstamm abprallte. Der Spatz flog davon. «Verdammt!» Ich wartete wieder. Der Spatz war klug genug, soweit zu fliegen, wie er konnte, bevor er sich wieder irgendwo niederliess, wo keine Steine durch die Luft flogen.

Ich beobachtete weiterhin die Lichtung vor mir. Ein, nein zwei Kanninchen hoppelten da aus dem Nichts hervor. Sie hoppelten und schnüffelten. Ich war mir nicht sicher, ob ich sie aus dieser Distanz treffen würde, wohl eher nicht. Wäre ich Fergusson und hätte ein Gewehr mit Zielvorrichtung, dann wärs natürlich keine Frage gewesen. Trotzdem spannte ich meine Schleuder. Die Kanninchen hoppelten gemütlich mal hier und mal dahin. Ich verfolgte sie wie ein Scharfschütze. Das linke Kanninchen hörte auf zu hoppeln. Es spitzte die Ohren. Das andere Kanninchen tat es ihm gleich. Jetzt oder nie! Der Stein war in der Luft, als beide Kanninchen Fersengeld gaben und verschwanden. Er prallte dort auf, wo das eine Kanninchen zuvor gesessen hatte. Im gleichen Moment hörte ich Hundegebell.

Ich schreckte auf. Wer kam da? Wessen Köter war das? Fergusson? Nein, der hatte keinen Hund. Ich war bereit, die Leiter so schnell wie möglich hinunterzuklettern und wie ein Kanninchen zu verschwinden. Aber noch wartete ich. Ich musste wissen wer da kam. Jetzt kam der Hund zum Vorschein und schaute verdutzt auf der Lichtung hin und her, als wenn die Kanninchen nur gerade drei Hoppser gemacht hätten. Natürlich waren sie längst über alle Berge. Der Hund schaute dumm umher. Ich wartete noch immer darauf, dass sich der Besitzer zeigen würde. Noch immer stand da der Hund und wartete, wahrscheinlich darauf, dass die Kanninchen zurückkommen würden. Zweifellos war es ein ganz junger oder ein ganz dummer Hund, oder beides. Noch immer liess sich sein Herrchen nicht blicken. Ich schaute in alle Richtungen. Niemand.

Ich wollte immer einen Hund haben, erinnerte ich mich. Meine Eltern waren natürlich dagegen. «Ein Hund macht zuviele Umstände.» – «Hunde sind dreckig» Egal wieviel ich bettelte, sie liessen nicht locker. «Zu teuer, sei froh, dass wir dich durchfüttern.» – «Ein Streuner reicht uns.» Irgendwann hab ich dann aufgehört zu fragen.

Der Hund stand immer noch allein auf der Lichtung. Vielleicht stand ja sein Besitzer irgendwo versteckt und beobachtete mich? Ich stieg vom Jagdstuhl hinunter. Jetzt sah mich der Hund. Er gaffte mich an und bellte. Ich fühlte mich unwohl, nicht etwa wegen dem Hund, vielmehr wegen seinem Herrchen, das sich noch immer nicht gezeigt hatte. Vielleicht beobachtete er mich schon länger. Vielleicht hat er gesehen, wie ich auf die Kannichen schoss. Vielleicht hat er sogar schon zugesehen, als ich den Spatz verfehlte. Der Hund bellte erneut, bewegte sich aber nicht vom Fleck. Er schien spielen zu wollen.

Ich nahm eine Astgabel vom Boden auf, brach das eine längere Teil das noch dran war ab und holte aus. Der Hund bellte und rannte hinterher, als ich die Astgabel in hohem Bogen über die Lichtung warf. Er schnappte sich das Stück Holz und brachte es mir zurück. Je näher er kam, desto langsamer wurde er, bis er die Astgabel zwei Meter vor mir auf den Boden fallen liess und mich erneut mit seinem Blick fixierte. Jetzt sah ich ihn erstmals von nah und konnte erkennen, dass es tatsächlich ein sehr junger Hund war. Ich kannte mich nicht aus mit Hunderassen. Er hatte ein braunschwarzes fell und spitze Ohren. Ich nahm die Astgabel erneut auf und warf sie wieder; erneutes bellen und erneut sprang er hinterher. Wo war bloss sein Besitzer? Ich schaute mich erneut um. Nichts.

Der Hund kam wieder, diesmal etwas näher, und liess die Astgabel auf den Boden fallen. Ich beugte mich vor und wollte ihn streicheln. Er zuckte erst schüchtern zurück, liess sich dann aber doch. Ich streichelte ihn über den Kopf. «Guter Hund, braver Hund.» Während ich ihn nun aus nächster Nähe beobachtete, sah ich, dass er gar kein Halsband trug. Das erklärte nun auch, dass sein Besitzer immer noch nicht aufgetaucht ist; es gab keinen Besitzer. «Bist wohl ein Streuner!» Wieder werfe ich die Astgabel, wieder Gebell. Jetzt fühlte ich mich nicht mehr beobachtet.

Ich kann nicht mehr sagen, wieviel Zeit ich auf der Lichtung mit dem Hund spielte. Es war wie ich es mir immer gewünscht habe. Wir wurden immer energischer. Ich riss am Stock, den er nicht loslassen wollte. Ich entriss ihm die Astgabel, er schnappte jedoch gleich wieder zu. Dann musste ich kurz loslassen, griff aber auch sogleich wieder danach. Wir ringten wie Löwe und Gladiator. Ich entriss wieder, er schnappte wieder. Diesmal erwischte er aber nicht die Astgabel. Ich schrie auf. Er hatte meinen Unterarm erwischt und voll zugebissen. Ich schrie noch immer, als er schon losgelassen hatte und mich verdutzt ansah.

Es blutete und tat weh. Er bellte als sei alles immer noch ein Spiel. Aber sein Bellen machte mich nur wütend. Ich schmiss einen Stein nach ihm. Er wich zurück und bellte nochmals. Das machte mich noch wütender. Mein Arm schmerzte. «Du Scheissköter!» Mit einem Schlag war mir wieder bewusst, dass heute mein Geburtstag war, dass ich kein Geschenk erhalten hatte, dass all meine Freunde in den Ferien waren, dass dieser Hund niemals mein Hund sein würde und dass ich meine Eltern für all das hasse. Und jetzt hat mich dieses Viech auch noch gebissen! Ich erinnerte mich auch daran, wesshalb ich in den Wald gekommen bin: um auf alles zu schiessen, was sich bewegt. Der Hund bewegte sich nicht.

Meine Augen wurden zu Schlitzen, mein Zorn loderte wieder in mir auf. Er bewegte sich noch immer nicht. «Umso besser» flüsterte ich. Den Stein hatte ich bereits in der Schleuder. Ich spannte sie. Der Hass besiegte sogar den Schmerz in meinem Arm. Irgendwie japste oder winselte er, als er zusammensackte. Ich hatte die Schleuder so fest gespannt, wie es meine Arme zuliessen, er war auf der Stelle tot, als ich ihn zwischen den Augen traf. Die Genugtuung kehrte ein. Der Zorn verschwand und der Schmerz kam zurück. Den Hund liess ich liegen, mitten auf der Lichtung. Fergusson soll ihn doch wegräumen. Die Hand auf der Wunde, ging ich nach Hause. Zorn spürte ich nun keinen mehr. Im Gegenteil, ich fing an zu bereuen, verdrängte aber alle Schuldgedanken. Ich war es gewohnt, alle Schuld auf meine Eltern zu schieben. Tief in meinem Innern wusste ich jedoch, dass ich Unrechtes getan hatte; Ich hatte getötet.

Zuhause ging ich sofort hinauf in mein Zimmer. Meine Eltern stritten wieder mal und schrien sich an. «Nichts, auch gar nichts kannst du richtig machen!» schrie Mutter. «Was kann ich denn dafür?» schrie Vater zurück. Meine Eltern stritten sich oft und laut, sodass sie es nicht einmal merkten, als ich nachhause kam. Ich sass auf meinem Bett und hielt noch immer die Wunde an meinem Unterarm. «Wie konntest du ihn nur laufenlassen?» Worüber redeten sie eigentlich? Ihre Stimmen wurden leiser und ich ging zu meiner Zimmertür und horchte. «Sag es ihm bloss nicht! Sag ihm gar nichts.» - «Ich wollte doch nur...» Ich glaube Vater weinte. «Ich wollte doch nur alles richtig machen. Aber der Hund ist einfach davongerannt, als ich ihm das Halsband anziehen wollte.» Es lief mir eiskalt den Rücken runter. Vater wollte mir den Hund zum Geburtstag schenken. «Ich werde ihn suchen gehn.» Mutter antwortete nicht. Ich weinte.

 

hi Drake!
Ich fand deine Geschichte wunderschön. Schön und traurig.:crying: Es gibt sicher eine Menge Leute hier, die diese Geschichte jetzt analysieren und auswerten könnten. Ich kann sowas nicht. Ich kann dir nur meine eigene, subjektive Meinung sagen und die lautet eindeutig::thumbsup: Mach weiter so!
Bye, Karin

 

Hallo Drake,

herzlich willkommen auf kg!:)
Da ist dir eine beeindruckende Geschichte gelungen und ich seh es wir Karin, sie ist traurig und schön zugleich.
Du zeichnest aus der Sicht des Jungen einen trotzigen, verbitterten, über sein Schicksal in Wut geratenen kleinen Menschen, der am Ende für seinen Wutausbruch bitter bezahlt.
Und dir gelingt es so gut, mich als Leserin mit in die Wünsche und Sehnsüchte des Protagonisten eintauchen zu lassen, dass ich traurig wurde, als der Hund getötet wurde und noch trauriger als ich erfuhr, dass es sogar sein Geburtstagsgeschenk gewesen war. Und happy-end-süchtig, wie ich bin, hatte ich insgeheim gehofft, dass der Hund doch nur irrtümlich von dem Jungen für tot gehalten wurde und irgendwann wieder erscheint. *seufz* ;)

Du hast es so eindringlich geschildert, dass mir eine Distanz zu dem, was dem Jungen widerfahren ist gar nicht mehr möglich war.
Das hast du sehr gut gemacht.

Dein Schreibstil ist im übrigen flüssig und angenehm schnörkellos, du schreibst kurze Sätze, die auf den Punkt kommen. Das alles ist gut zu lesen.

Gestört haben mich allerdings einige Rechtschreibfehler wovon der fetteste "Kanninchen" war, man schreibt es so: Kaninchen. :teach: Du kannst also viele "n" wieder einkassieren beim Korrigieren. ;)

Dann bist du ab und zu mal mit den Zeiten auf dem Kriegsfuss. Hier ist so ein Beispiel:

"Wieder werfe ich die Astgabel,..." Es muß, da du auch alles davor und danach in der Vergangenheit geschrieben hast, heißen: "wieder warf ich die Astgabel..."

Lieben Gruß
lakita

 

Hi Karin,
Hallo Iakita,

Es freut mich, dass euch meine Melancholie gefällt. Tut mir leid, wenn ich kein Happy-End zu bieten habe. Mir ist es viel wichtiger, dass sich am Ende der Kreis schliesst, auch wenn dies manchmal ein Teufelskreis ist.

Liebe Grüsse
Drake

 

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