Der Hund auf der Brücke
Ein Hund. Schwärze. Nur der Hund ist zu sehen. Es ist nur ein Bild, aber man kann das Knurren deutlich hören. Die Zähne sind gefletscht, das Fell steht ruppig und doch geordnet ab, und wenn man ihm in die Augen sieht erkennt man dass er eine Tötungsmaschine ist.
Mit klopfendem Herzen steht Richard im Supermarkt. Das Bild kam so plötzlich über ihn, dass er völlig vergaß was er aus dem Regal nehmen wollte. Ihm ist schwindlig und sein Atem geht flach, sodass er sich an dem Regal anlehnen muss. Aus der Ferne hört er eine Stimme, und er öffnet seine Augen. Verschiedene Mehlsorten verschwimmen vor seinen Augen, bis sie sich doch noch dazu entschließen scharf zu werden. Wieder diese Stimme. Richard weiß was sie sagt, ohne hinzuhören. Er kennt das bereits. „Alles klar, geht es ihnen gut, kann ich helfen…“ Die Anteilnahme ist nie echt, die Sorge gilt stets dem eigenen Einkauf, dem eigenen kleinen Weltbild, in das man so nicht passt. Wortlos wendet Richard sich ab, trägt die Waren zurück an ihren Platz, so hinterlässt er keine Spuren, ihr Weltbild bleibt heil. Dann verlässt er den Supermarkt.
Draußen, bläst ihm der Wind scharf ins Gesicht. Er schlägt den Mantelkragen hoch, und seine Beine schlagen den Weg zum Fluss ein. Es war nicht seine Entscheidung, aber er weiß trotzdem wo sie ihn hintragen werden. Grau, denkt er bitter, alles ist grau. Und er betrachtet den grauen Teer vor sich, der zu grauem Pflaster mit grauen Kieselsteinen wird. Und braun. Der Weg ist jetzt braun, er nähert sich dem Fluss. So nahe dem Ziel überfällt ihn eine leichte Panik. Wo soll er hingehen wenn er angekommen ist, was soll er tun? Solange er läuft muss er nicht denken, aber man braucht ein Ziel um weiterlaufen zu können. Er schiebt den Gedanken beiseite. Denkt an den Hund. Richard kennt den Hund. Er ist ihm schon einige Male begegnet. Eigentlich mag er Hunde. Aber dieser Hund ist gefährlich.
Richard ist jetzt am Fluss. Und geht weiter. Einfach weiter. Vielleicht sollte ich zur Brücke gehen? Diesmal kommt die Idee nicht von seinen Beinen. Also kommt sie von mir. Aber was soll ich nur auf der Brücke. Vielleicht siehst du den Hund dort, sagt eine Stimme. Die Stimme kommt aus seinem Kopf, oder, besser gesagt, kann man nur in seinem Kopf hören. Aber es klingt nicht wie seine eigene. Ob ich gerade verrückt werde?, fragt sich Richard. Aber vielleicht will ich den Hund ja auf der Brücke sehen. Und er hebt den Kopf um zur Brücke zu blicken. Es ist neblig, es ist dunkel. Aber der Mond scheint. So gesehen ist es nicht allzu dunkel, gerade dunkel genug für Schemen und Schatten, flüchtige Bewegungen, Versehen. Es gibt ein Wort für Versprechen, für Verhören, aber Versehen kennt man in dem Zusammenhang nicht, denkt Richard. In der Mitte der Brücke steht ein Schatten. Ich wäre auch enttäuscht wenn da kein Hund stünde, denkt sich Richard. Und bleibt erst mal stehen. Wenn schon Sinnestäuschung, dann aber richtig, und er ruft sich nochmal das Bild von dem Hund ins Gedächtnis. Der Schatten scheint jetzt besser zu seinen Vorstellungen zu passen. Also weiter. Die Brücke ist groß genug und wölbt sich hoch genug als dass er von einem Ende die Mitte nicht sehen kann. Richard geht zögernd los. Was wenn er tatsächlich einen Hund sieht? Bin ich dann verrückt? Oder bin ich jetzt auch schon verrückt? Und wieso will ich den Hund eigentlich unbedingt sehen? Und er fragt sich ob es Zufall war, oder sein Unterbewusstsein, das ihn ausgerechnet zu dieser Brücke geführt hat, die einzige Brücke groß genug für dramatische Effekte.
Richard bleibt stehen. Ich könnte auch einfach nach Hause gehen. Und dann könnte ich mein Leben einfach so weiterleben, ohne Hunde und Brücken, ohne Angst. Und er merkt dass er Angst hat, vor dem Hund auf der Brücke, davor dass da ein Hund sein könnte.
Aber er geht weiter. In der Mitte hängen tatsächlich Nebelfetzen. Das ist nicht logisch, denkt sich Richard, warum sollte hier Nebel sein, genau in der Mitte. Und er geht weiter. Und sieht keinen Schatten, oder Schemen, keinen Hund, nur ein bisschen Nebel, knapp über dem Boden. Richard geht an die Brüstung und sieht hinab in den Fluss. Der Fluss konnte sich offensichtlich nicht entschließen zwischen braun und grau, und präsentiert eine Mischung aus beidem. Aus dem Augenwinkel bemerkt Richard eine Bewegung. Der Hund ist also doch erschienen, aber bleibt genau am Rande seines Gesichtsfeldes. Langsam dreht Richard seinen Kopf, und der Hund ist weg. Dann blickt er wieder in den Fluss, und der Hund ist wieder da, aber er fletscht die Zähne nicht mehr.
Und was willst du jetzt tun?
Richard schüttelt den Kopf. „Ich weiß nicht,“ murmelt er „ich dachte Du würdest das entscheiden.“ Natürlich dachtest du das, deswegen bist du ja hergekommen. Aber ich bin kein Hütehund.
„Was bist du dann?“
Ich bin eine Entscheidung. Also entscheide dich! und er beginnt zu knurren.
Richards Herz beginnt wieder heftig zu schlagen, sein Atem beschleunigt sich.
„Ich kann nicht, ich… das geht nicht, verdammt noch mal.“ Und er klingt absolut weinerlich dabei.
Tränen steigen ihm in die Augen, ob seiner Schwäche.
Mach schon, entscheide dich. knurrt der Hund, Ich verliere langsam die Geduld! Und er kommt Richard immer näher.
„Du weißt ja nicht wie das ist!“ schreit Richard und ballt seine Fäuste, sieht aber immer noch auf den Fluss. Durch das Knurren stellen sich ihm die Nackenhaare auf. In den Ohren hört er sein Blut rauschen. Richard zittert jetzt am ganzen Körper.
Letzte Chance! kommt es gefährlich ruhig, während sich der Hund zum Sprung bereit macht.
Und dann, mit einem Brüllen, springt er.
„Ich kann nicht!“ jault Richard auf und duckt sich, während er die Arme schützend über sich wirft.
Der Hund springt ins Leere.
Nichts ist zu hören, außer dem leisen Plätschern des Flusses und Richards Wimmern, wie er sich vor der Brüstung zusammen kauert.
Wer kann schon sagen wie lange es dauert bis ein Herz sich wieder beruhigt hat. Panik ist ein Gift das lange nachwirkt, und so schien eine Ewigkeit vergangen, ehe Richard sich wieder rührte.
„Geht’s wieder?“ hörte er eine Stimme von der Brüstung.
Verwundert blickte er auf. Diese Stimme kam definitiv nicht von ihm, aber er hatte auch niemanden kommen hören. Dennoch, dort saß jemand auf der Brüstung, ließ sorglos die Beine baumeln, als gäbe es die Gefahr des Hinunterstürzens gar nicht. Gefahr? hörte er halb spöttisch eine Stimme in seinem Kopf.
„Ja ich, - es geht schon.“ sagte Richard und wischte sich die Spuren der Tränen aus dem Gesicht. Der Typ auf der Brüstung schwieg. Er trug einen Kapuzenpulli, so dass sein Gesicht verhüllt war. Richard blickte wieder in den Fluss.
„Alles klar bei dir?“ wollte der Typ wissen.
Richard blickte zum Himmel auf. Der Himmel war wolkenverhangen, der Fluss war trüb vom Dreck, und mein Kopf ist mit Sicherheit auch nicht klar.
Aber die Welt muss sich weiter drehen, deshalb sagte Richard nochmal: „Geht schon.“
„Weißt du, bei dir war ich mir echt nicht sicher, und um ehrlich zu sein, ich weiß es immer noch nicht.“
„Was weißt du nicht?“ fragte Richard und setzte sich neben der Gestalt auf die Brüstung. Jetzt fielen ihm die langen und dürren Hände der Person auf. Kurz davor, am knöchernen Handgelenk, bemerkte er ein Tatoo, einen Schriftzug: Memento mori. Die schwarze Farbe stand in großem Kontrast zu der fahlen Haut.
„Was du tun wirst. Die Leute glauben immer ich wüsste alles, aber oft genug kann auch ich nur abwarten und zuschauen.“
„Wie sollst du auch wissen was ich tun werde, wo ich es selber noch nicht weiß?“
„Genau was ich meine.“
„Was sollte ich denn tun?“
„Das kann ich dir nicht sagen, dass muss jeder für sich selbst entscheiden.“
„Entscheiden! Ich habe keine Lust mehr auf Entscheidungen.“ sagte Richard.
„Ständig, überall soll man sich entscheiden. Warum nicht eine letzte Entscheidung treffen, und dann für immer frei sein?“
„Auch die Entscheidung nichts zu tun ist eine Entscheidung. Aber davon mal abgesehen, gerade in der Möglichkeit der Entscheidung drückt sich doch Freiheit aus. Solange man eine Wahl hat, ist man frei. Und wenn man keine Wahl hat, ist man zwar nicht frei, aber man braucht auch keine Entscheidung zu fällen.“ Das schien ihn zu belustigen, denn er ließ ein Glucksen hören.
„Wie soll ich mich denn entscheiden wenn das Ergebnis beide Male gleich ist?“
„Wie kannst du denn wissen dass die Ergebnisse gleich sind? Dafür müsstest du beide Wege ausprobieren, was den meisten schwer fällt.“ Und er lachte leise vor sich hin.
„Wenn ich mich jetzt fallen lasse, dann bin ich tot, wenn ich’s nicht tue, sterbe ich ebenso. Wo ist da ein Unterschied?“
„Nun, ich weiß nicht ob das für dich einen Unterschied macht, aber für mich macht es einen.“ und wieder kicherte er.
Richard saß da, und ließ sich diesen Gedanken durch den Kopf gehen.
Nach langem Schweigen sagte der Typ: #Weißt du Richard, eigentlich hast du recht, auf lange Sicht macht es wohl doch keinen Unterschied.#
Erstaunt blickte Richard sich um, aber die Gestalt war verschwunden. Richard sah nochmal ins Wasser. Kurz glaubte er im Treibgut die Gestalt eines Hundes zu erkennen, aber sofort verschob sich das Bild, und es sah nur nach Ästen und Müll aus.
Ich weiß, seufzte er, du bist ein Jagdhund, aber Heute bin ich dir entwischt. Und damit machte er sich auf den Weg nach Hause.
„Weißt du,“ sagte die Gestalt im Kapuzenpulli und tätschelte dem Hund den Kopf, „wenn du nicht aufpasst erschießt er dich eines Tages.“