Der Horrorist oder Das Begreifen der Opfer
Der Horrorist
oder
Das Begreifen der Opfer
(Eine völlig irre Geschichte aus der Welt von Heute, geschrieben in der Tradition von "Der Irre" von Georg Heym, gestorben 1912, noch keine 25 Jahre alt, beim Schlittschuhlauf auf der Havel)
Ich breche auseinander. Ich fühle mein Tier ganz tief in mir. Mein Innerstes bricht sich entzwei. Ich presse meine Arme fest um meinen Körper. Ich halte mich ganz fest fest. Die Muskeln fliehen einfach irgendwie irgendwohin davon. Ich muss sie ganz, ganz fest fest halten. Ich fühle mich. Ich spüre mich. Ich kann mein Herz fühlen, wie es pumpt. Wenn ich will, kann ich meinen Magen fühlen, wie er Speis und Trank zersetzt. Ich kann den Harn in der Röhre spüren, wie er sich zusammen sprudelt und mich zwingt, Gassi zu gehen. Jedes Organ ist mir auf ein Mal mehr als nur bewusst. Und alle alten Verletzungen drücken dumpf, ganz ohne Schmerz, aber so, dass ich weiß. Ich bin ICH.
Ich habe heute dieses Zeugs ausprobiert, Das, das Alle nehmen. Ein wenig von Miss E, ein wenig von Mister S, Miss M kringelte sich in durchsichtigen Spiralen verdrehend durch die wenigen Strahlen vom Licht. Und ein kleines Eckerl von Miss Natur pur hat sich auch im Magen wohlig warm verwärmt. Ich zerbreche und doch nicht. Ich fliehe vor mir selbst meine Blutbahnen entlang und pulse mich in ein anderes Leben. Ich tanze einen Lichtverfluss von Zeit direkt unter meine Haut. Ich kann das Fleisch darunter fühlen. Ich kann meine Seele hinein legen zwischen die beiden Schichten Fleisch und Haut. Ich bin ICH und doch so anders.
Die Luft phosphoresziert ein düsteres Blau, das die Ränder meines Blickfeldes in Nebel schnürt. Gegen die Mitte hin kringeln sich alle Farben Blau. Die Köpfe der Tanzenden zucken eckig, wie in einem ruckelnden Film. Teile der Bewegung fehlen. Die ganze Zeit über habe ich ein Gefühl, als würde ich gleich auseinander fliegen. Aber es tut nicht weh. Andererseits ist es auch nicht gerade ein gutes Gefühl, und doch. Ungewohnt, so irre. Man könnte Angst bekommen. Meine Gedanken rasen einen geraden Highway entlang. Ein Rucker, und ich überschlage mich ins Nichts. Doch ich zucke nicht. Alles unter Kontrolle.
Die Musik verkreischt an 140 Dezibel, vielleicht auch mehr. Wenn Jemand mit dir spricht, muss er seinen Mund ganz zu deinem Ohr bewegen. Und doch höre ich, wie 6, nein 7 Meter weg, zwei Kids miteinander reden. Ich verstehe jedes Wort, irre. Probleme mit den Eltern, er hat Angst vor der Matura. Er sollte morgen, Sonntag, lernen, aber er weiß nicht, wie er das schaffen soll, morgen, nach dieser Nacht und all dem Zeug, das er geschluckt hat. Er hat Angst, und doch ist ihm Alles so scheiß egal. Manchmal, erzählt er dem Mädchen, möchte er einfach eine Pumpgun nehmen und einfach in seine Schule hinein marschieren, diese scheiß Lehrer, die einfach und einfach nicht, einfach Nichts, gar Nichts verstehen und so über-drüber über Allem stehen. Sein Vater, Arzt, ein hohes Tier in einem Krankenhaus, der ist ja immer so gescheit, der weiß einfach immer Alles. Vor Allem Alles besser. Er, sein Bruder, seine Mutter, Nichts als Ballast für den. Er hasst seinen Vater. Und die Kleine versteht ihn, der geht es nicht Anders. Zum Glück sieht sie den Vater nicht oft, lebt ja bei einer Anderen. Und wenn sie ihn Mal sieht, hängt er ihr nach 2 Stunden beim Hals heraus, der Arsch. Tut immer so wichtig. Sie geht mit ihm mit, wenn er in die Schule geht. Hat er denn so eine Pumpgun? Ne, das ist ja der Scheiß. Wie nur an so Was ran kommen? Aber irgendwie, irgendwann! Und dann sollen sie Was erleben! Er wird es dieser Welt schon noch zeigen, all diesen Wichtigen Arschlöchern.
Dann sind meine Gedanken auf ein Mal Irgendwo. Weiß nicht wo? Irgendwo! Weiß auch nicht, wie lange? Ich erzähle mir eine völlig irre Geschichte, die kaum ein Mensch verstehen würde, zumindest kaum ein Mensch von Heute. Aber das ist bei mir sowieso nichts Neues. Ich schreibe über mein Gefühl. Irgend Etwas bläst mich in die Bar und macht "fffuuuhhh, fffuuuhhh", so als würde ein Sturm mit über 200 Kmh durch meinen Körper blasen. "Fffuuuhhh, fffuuuhhh, fffuuuhhh"! Irre, einfach irre. Ich halte mich an meinem Kuli fest und schreibe Gefühl, Gefühl, Gefühl.
Ich bin so süchtig nach Schreiben, habe nichts Anderes mehr in dieser Welt. Außer "meine Bilder", und die sind so furchtbar, dass kein normaler Mensch sie je verstehen würde, zumindest kaum ein normaler Mensch von Heute. Ich bin so unsagbar traurig, so einsam und so allein. Ich habe schon so viele, viele meiner Bilder im Leben wieder gesehen. Der Sauhund hat doch tatsächlich das Schweigen der Opfer für sich monopolisiert. ER hat den Täter im Opfer weltweit zum Leben erweckt. Damit hat ER sich auf das Podest gehoben. Dort wollte ER schon immer hin. Es war sein Traum. Eingehen in die Geschichte der Menschheit, eine ewige Sagengestalt sein bis ans Ende der Zeit. Der Sauhund hat Alles jahrelang vorher geplant. Schritt für Schritt. ER hat sogar seine Gegner eingeplant und diese naiven Supernarren haben ihn auch noch kräftigst unterstützt. ER hat uns Alle durchschaut, uns und unsere Sucht nach wichtigem Bla-Bla. ER hat verstanden, dass WIR diesem gehaltvollen Lautwerden des Schweigens lange Zeit verständnislos gegenüber stehen würden, dass WIR lange Zeit nicht begreifen würden. Und Wenn, dann würde es zu spät sein. Dann würde ER schon ganz oben sitzen, unverrückbar eine Sagengestalt des Bösen für alle Zeit. Und ich, ich habe immer diese Bilder gesehen. Diese Bilder seines Traums waren ja auch die Meinen, nur anders rum.
Unsere ins Tabu gedrängten Opfer fangen jetzt an zu verstehen. Unsere Opfer sind die Einzigen, die jetzt bald verstehen werden. Sie haben sich bis jetzt meist nur selbst verstümmelt, haben sich ins Auto gesetzt, sind auf gerader Strecke in einen Baum, in einen entgegen kommenden Lastwagen gerast. Heimliches Zeichen ihres "Nur-Opfer" sein, ein leises und deshalb so ungehörtes Aufmucken gegen das geforderte Schweigen. Sie haben sich "nur" eine Pistole an den Kopf gesetzt und sich "nur" das Hirn gegen die Wand geblasen. Wie viele Handgelenke dieser Welt zeugen von ihrer so tief in die Seele einschneidenden Verzweiflung? Es gibt keine Statistik darüber, und wenn, dann verschimmelt sie in einer unserer Schubladen der Tabus. Je stumpfer das Messer, je größer der Schmerz! Ein von ihrem eigenen Vater missbrauchtes Mädchen hat sich letzte Woche 21 Zigaretten auf ihren einst so schönen, für diese Sau so begehrlichen Brüsten ausgedrückt. Ha, niemals wieder würde er nach ihren Neuen Hässlichkeiten greifen. Doch die Welt hatte nicht viel mehr dafür übrig, als so gelangweilt und so völlig desinteressiert, so angeödet davon mit ihren Achseln zu zucken und redet einfach weiter über das Wetter. Hoffentlich scheint morgen die Sonne, denn da ist ein Ausflug zum Oktoberfest nach München angesagt. Könnte lustig werden! Also nicht denken an so Was! Ein Mann hat gestern seine ganze Familie mit einer Pumpgun weg gefegt. Wir schütteln nur die Köpfe, zwei Minuten später ist die Angelegenheit wieder abgehakt. Das Leben, unser aller Leben muss weiter gehen, und zwar wenn möglich, so schön wie bisher. Wir sind bloß ein wenig irritiert. Nur nicht daran denken. Eigentlich müsste man all diesen Negativismus aus den Medien verbannen, sie verderben Einem doch bloß den Tag.
Doch diese Opfer haben IHN nun verstanden. Und ich, ICH erzähle Euch davon und deshalb mögt Ihr mich nicht besonders. Manche von Euch hassen mich sogar. Manche der E-Mails, die ich so bekomme, zeugen davon. Ich weiß, es ist Alles für die Katz. Ihr werdet mich, sie, und besonders IHN erst begreifen, wenn Alles zu spät ist. Ihr wollt nicht darüber nach denken, wo Eure Schritte dagegen jetzt hin führen. Die Politiker sollen schön machen. Umbringen alle Terroristen auf dieser Welt. Kollateralschäden, welchen Ausmaßes auch immer, nehmen wir in Kauf. Na klar! Schicksal. Wo Krieg ist, da sterben auch unschuldige Leute. "Wo gehobelt wird, da fliegen halt die Späne!" Diese Sicht redet sich immer leichter aus unserem Mund. Das Wort "Krieg" gegen Irgendwas ist wieder IN! Vor 20 Jahren wären wir auf die Barrikaden gegangen, hätten uns ein paar billige Kerzerln für den Frieden beim Aldi, beim Hofer, beim Lidl, beim Billa, beim Schlecker oder wo auch immer gekauft, auch wenn es nichts genützt hätte. Ja, WIR hätten sie sogar gestohlen, für UNSEREN Frieden! Doch wir sind heute des Dialogführens so müde geworden, wohl auch, weil wir eingesehen haben, unser so schön philosophisches Geschwätze war nur schöngeistiges Bla-Bla. Bla-Bla ohne die erforderlichen Taten. Nur Bla-Bal und sonst gar Nichts!
Ihr führt jetzt mit den Amerikanern gemeinsam einen Krieg gegen den Terror. Ihr nennt das den "Bewaffneten Frieden". Dieser Krieg soll Unsere Interessen endgültig durch setzen in der Ganzen Weiten Welt. Wir werden den Krieg, wenn sie es denn so wollen, da unten führen und ihn bei uns hier nicht all zu sehr spüren. Ihre paar armseligen Flieger kommen schon nicht so weit.
Doch dieser Krieg wird ein Anderer sein, ein ganz, ganz Anderer. Hightech gegen Steinzeit, das macht uns so sicher und so stark in Unseren Gedanken. Unsere Herzen schalten wir weg. Einfach weg, irgendwie geht das schon. Unsere Seelen sind sowieso schon vergessen, sind nur was für verträumte Spinner. Und wenn es denn unbedingt sein muss, dann räumen wir auch diese Spinner noch weg. Doch dieser Krieg wird Anders, ganz Anders sein. Wir haben das Leben ja schon immer gerne ein wenig unterschätzt. Doch zum Leben gehört auch der Tod, zum Guten gehört auch das Böse. Wer gut sein will, muss manchmal auch ein bisschen böse sein, um dem Guten zum Sieg zu verhelfen. Das haben wir übersehen, deshalb werden wir jetzt gezwungen sein zum Ganz, Ganz Bösen. Und zum Tod gehört auch das Schweigen. Doch Wer genau hin hört, hört die Worte heraus.
Dieser Krieg wird in mehreren Etappen verlaufen und lange, sehr, sehr lange dauern, bis ans Ende der Macht jener Generation, die sich einst selbst so hochfährig "Die Friedensgeneration" nannte. Die Allianzen werden mehrmals zerbrechen, wechseln, und zuletzt werden Alle gegeneinander stehen. Alle, wirklich Alle gegen Alle. Freunde wird es dann keine mehr geben in der Welt. Die Kollateralschäden verletzen die Ganze Welt. Freunde werden mit Feinden verwechselt werden, Feinde mit den Freunden. Manchmal hat einfach Alles sehr, sehr schnell zu gehen. Unsere heute noch unschuldigen Joystick-Killerkids zu Hause am Knöpfchen müssen sich manchmal schneller entscheiden, als ihnen und uns lieb ist, wenn die Drohne im Sturzflug über die Köpfe hinweg fliegt. Peng-Peng am PC macht weit weg Bumm-Bumm, speit Feuer und Tod und tut furchtbar weh. Auch uns. Mit der Zeit auch unseren Seelen.
Und anfangen wird Alles so harmlos und langsam. ER hat die Idee der Neuen Chance in die Welt gesetzt und die Opfer fangen an, IHN langsam zu verstehen. Die Welt wird jetzt langsam reif für die totale Kontrolle. Wer diese Waffen hat, glaubt, er hat Alles im Griff. Wer Herr über diese Technik ist, fühlt sich allmächtig und stark. Keiner kommt an ihn heran. Doch wir vergessen, dass auch wir unsere Opfer hier haben, die jetzt langsam erwachen und langsam begreifen. Sie werden noch gefährlicher sein, als die Schläfer. Auch sie "schlafen" ja (noch). Wir werden nie wissen, wer denn nun gerade ein "Opfer" ist, so ein langsam zur Gefahr werdendes Opfer. Wir haben sie ja ins Schweigen gedrängt. Sie reden ja schon lange nicht mehr mit uns. Sie sind zu langsam für unser Leben, viel zu langsam, und zu schwach. Unser Leben rast immer schneller dahin. Irgendwie bleibt immer irgend Einer, irgend Eine auf der Strecke. Sie haben sich bis jetzt nur selber an Stricken aufgehängt, auf einem dreckigen Klo die letzte Nadel gesetzt, sich mit zwei Doserln Tabletten vergiftet, eine Kugel gegen die Schädeldecke gejagt. Sie sind halt Alle meist irgendwie leise, verloren in ihrem tiefen Schweigen, in das wir sie hinein gedrängt haben, abgetreten, ohne einem Anderen weh zu tun. Sie sind Alle bloß nach Innen explodiert und das hat der Welt kein bisschen leid getan, ihr nicht Viel zu Denken gegeben. Abgehakt, einfach abgehakt, und dann einfach wieder vergessen.
Doch nun fangen ihre Brüder und Schwestern im Geiste an zu begreifen. Die Art ihres Todes von Gestern ändert nichts an der Welt. Und diese Brüder und Schwestern im Geiste leben noch. Noch. Doch seit dem 11. September 2001 regiert der Wahnsinn unsere Welt. Wir sind ihm schon total verfallen, wissen es nur noch nicht, ja wir wollen es noch nicht ein Mal glauben.
Da bläst wieder der Sturm durch meinen Körper. "Fffuuuhhh, fffuuuhhh, fffuuuhhh!" Fffuuuhhh macht der Sturm. Der Sturm zerbläst mich, wirft meine Gedärme durcheinander. Das "Fffuuuhhh" zerreißt mich. Und da fühle ich ihn. Auf ein Mal fühle ich ihn, mitten im Sturm. Auch ihn zerbläst ein "Fffuuuhhh" und mein "Fffuuuhhh" wird eins mit seinem "Fffuuuhhh". Er hat es zuerst auch nicht geglaubt. Er hat genau so wie alle Anderen auch über diese Terroristen geschimpft, über diesen Irren da unten in Afghanistan. Ja, die Amerikaner würden schon recht tun, sollen ihn jagen. Doch dann brach von einem Tag auf den Anderen seine ganze Welt auseinander. Okay, er ist immer ein kleiner Strizzi gewesen, hat immer ein wenig Va Banque gespielt, doch immer gewonnen. Immer ging es sich irgendwie aus. Doch dann hat er sich mit diesen Gaunern eingelassen, er wusste am Anfang nicht, dass die zu einer Mafia gehörten, dachte das wären so Einfaltspinseln, so geldgierige Narren halt, da hätte er leichtes Spiel. Die würde er wie die Anderen zuvor mit einer Hand über den Tisch ziehen. Sie haben sich in diesem Tower, diesem Wahrzeichen der Stadt hinter einer Großen Bank verschanzt. Sie hatten dort ein tolles Büro. So eines wollte er auch schon immer haben. Es wäre das Geschäft seines Lebens geworden. Und dann haben ihn diese Hurensöhne rein gelegt. Pleite. Neger. Nur noch Schulden, Schulden über Schulden.
Er saß zu Hause an seinem Schreibtisch, setzte sich die 44er Magnum an die Schläfe, dann in den Mund, dann wieder an die Schläfe. Er heulte, er war so verloren. Er hatte Alles, Alles verloren. Was wird mit seiner Frau sein, seinen Kindern. Und da wusste er auf ein Mal nicht mehr, welche Methode nun als die sicherere galt. Und auf ein Mal wollte er noch ein Mal fliegen. Noch ein Mal die Erde unter sich sehen, wie sie unter ihm vorüber flog. Und auf ein Mal kannte er die sicherste Methode. Er würde einen Unfall haben, einfach auf und davon, einfach fort in seine geliebten Berge fliegen, vielleicht gegen die steilen Felsen des Mont Blanc. Und auf ein Mal sah er das Wahrzeichen vor sich, diesen die Stadt und Alles überragenden Bürokomplex. Eigenartig, auch dort hatten sie die Börse unter gebracht. Das Geld zog es wohl nicht ohne Grund in diese Überundüberbauten unseres Stolzes.
Wie in Trance fuhr er zum Flugfeld hinaus und stieg in seine geliebte Maschine. Er war ja ein Profi, was Fliegen, was Flieger anbelangt. Er kannte sich mit den Maschinen aus. Er bastelte also ein wenig herum. Sie würden nie wissen: ein Unfall oder nicht? Also keinen Abschiedsbrief. Und er war ja versichert. Seine Frau, seine Kinder, sie würden das Geld schon bekommen. Sie würden sich schwer tun, ihm einen Selbstmord nachzuweisen. Der Tower gab ihm dann das Okay. Er gab Gas, wie immer, die Landschaft raste an ihm vorbei. Die Häuser, die Bäume, die Straße entlang des Flugfelds, die Hügel, dann war er schon hoch droben über dem wunderwunderschönen Weiß seiner Frühlingsgletscher. Das nackte Grau der Felsen stach den Glitzerschnee entzwei. Das dunkle, fast schwarze Grün der Tannen, die Einem von unten so mächtig erschienen, wirkten von hier oben, wie dick aufgetragenes Pastell. Wunderwunderschön. Das grelle Gelb der Sonne spiegelte sich in der Kanzel, verbrannte fast seine Augen, trotz der dunklen Brille. O, wie liebte er doch diese Bilder. Einfach wunderwunderschön. Er flog hoch droben, genoss das Berg- und Tälereinerlei.
Dann berührte ihn das Grau, das Dunkelgrün im Weiß nicht mehr. Auf ein Mal war es eiskalt in der Kanzel. Er hatte noch eine Geschäftsbesprechung vereinbart in der Stadt. Alles würde passen. Er würde einen Unfall vortäuschen. Zumindest das war er seiner Frau, den Kindern schuldig. Er stand kurz vor der Erfüllung seines Traumes. Er wollte immer ein Büro haben, da in diesem Turm. Wenn das Geschäft geklappt hätte, hätte er sich eines leisten können, dort, natürlich nicht ganz oben, aber so im 20. Stock. Nun ja, vergessen. Nun würde er dort wohl nicht mehr einziehen. Aber sterben würde er dort, wenigstens das. Sterben, mitten in seinem Traum. Ja, das war okay, damit konnte er leben, sterben, wie auch immer. Kein Büro, okay, aber wenigstens sein Grab. Er musste auf ein Mal lachen, hahahaha.
Da sah er den Turm aufragen am Horizont. Die Sonne stand dahinter im Südosten, umschmeichelte mit ihrem grellen Geglitzer den Turm, die ganze große, weite Stadt. Die Dächer verzitterten an ihren Strahlen wie in Gold gemeißelt. Der Turm raste auf ihn zu. Da legte er das Feuer, griff nach dem Funkgerät, funkte so etwas wie einen Notruf. "S.O.S." Troubles, irgend Was mit der Maschine, das Fahrwerk, Qualm. Die Anweisungen hörte er, verstand er nicht mehr. Egal. Seine Augen brannten, er wusste nicht, ob vom Rauch oder von Was. Werden wohl Tränen sein. Eins, zwei, drei, vier, ... Wer weiß, wie lange das Salz schon seine Nase runter, über die Wangen, in seine Mundwinkel floss? Salz, ja Salz, Salz vom Leben. Na, wenigstens Frau und Kinder würden abgesichert sein.
Und der Rest der Welt, die Menschen im Turm? Scheiß drauf. Leckt mich doch Alle am Arsch. Es tat so weh. Vielleicht sollte er umkehren, vorbei fliegen? Egal. Alles vorbei. Er hatte nichts mehr. Er war schon alt, hatte immer gearbeitet, jetzt war Alles weg. Wie weiter leben? Egal. Er wollte doch nur ein Geschäft machen, ein gutes Geschäft. Für die Anderen wäre es ja auch nicht schlecht gewesen. Shit. Shit. Shit. Er weinte, die Tränen flossen in Strömen, er sah nichts mehr. Es würde wie ein Unfall aussehen. Vielleicht würden sie ja eine Zeit lang herum tüfteln, herum kiefeln, die Versicherung würde sich sicher eine Zeit lang gegen die offizielle Version wehren, und alles Mögliche unternehmen, die Zahlung hinaus ziehen. Aber letztendlich würden sie dann schon zahlen. Was blieb denen schon Anderes übrig? Sie würden Nichts nachweisen können. Von der Maschine würde nicht viel übrig bleiben. Der Tank war ja noch mehr als halb voll.
Der blaue Himmel spiegelte sich mit dem Zart der Siriuswolken in der dunklen, im Schatten gelegenen Fensterfront. Er ließ die Maschine trudeln, stellte den Motor ab, startete durch, stellte den Motor ab, ließ ihn so richtig schön laut stotternd rattern. Er musste husten, die ganze Kanzel war jetzt voller Rauch. Wenn er es sich noch überlegen würde, könnte er in dieser Höhe jederzeit die Kanzel öffnen, aber er überlegte es sich nicht mehr. Der Rauch brannte in seinen Lungen, es tat furchtbar weh. Trotzdem musste er lachen. Dabei sog er noch mehr Rauch in die Lunge, während er das Salz von den Lippen leckte. Sein Mund war so trocken.
Herrgott, o Herrgott, bitte verzeih! Liebe Frau, ich liebe Dich! Liebe Kinder, ich liebe Euch! Verzeiht! + Good bye! + Peng!
Und die Opfer, und nur die Opfer verstanden das Zeichen! ????? Denn der Rest der Welt lebte einfach weiter. Vorläufig!
© Copyright by Lothar Krist (20.10.2001)