- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Zuletzt bearbeitet:
Der Holger
Der Holger!
Tag... Ich bin der Holger! Ich bin dreizehn Jahre alt und ein totaler Versager. Jedenfalls sagen das alle. Ich bin groß und dürr, weil ich nie Hunger habe. Das ich so groß und dürr bin, ist auch nur ein weiterer Grund dafür, dass alle auf mir rumhacken. Witzfigur nennen sie mich. Ihr merkt schon: Ich bin ein Außenseiter. Meine schwarzen, lockigen Haare sind schlaff und hängen nur herunter, egal was ich damit anstelle. Meine dunklen Augen... Ich sehe immer zu Boden, weil es eh nichts interessantes zu sehen gibt. Außer natürlich die Blödmänner, die mich ständig "Lulatsch" und "Strichmännchen" beschimpfen. Und das sind sogar noch die harmlosesten Namen, die man mir gegeben hat. Ich gehe in die siebte Klasse der Stumpfsinnig-Langweilig-Hauptschule, die blöderweise auf der anderen Seite der Stadt liegt. Ich habe mir den Namen nicht ausgedacht, sie heißt wirklich so. Naja, um genau zu sein, hat nur irgendwer das Schild mit schwarzer Farbe übersprüht und mit Rot den Namen darauf geschrieben. Das war schon so, als ich auf die Schule kam. Ich frage mich, ob das Zufall ist, dass sie so heißt. Nein, eher nicht, immerhin ist sie wirklich stumpfsinnig und langweilig. Naja, nun wieder zu mir: Wie schon gesagt, ich bin ein Außenseiter. Alle machen mich fertig, sogar die Fünfer, die ja zwei Klassen unter mir sind. Meine Hobbys? Mein Lieblingshobby... Mal überlegen... Ist das nun vor den Schlägern weglaufen oder sich in den Pausen auf dem total versifften Klo zu verstecken?
Nun, ich weiß noch, vorhin auf dem Schulweg. Wie jeden Morgen schlurfte ich niedergeschlagen und lustlos den Bürgersteig entlang, vorbei an den alten, verfallenen Häusern und an den Autos, die ich gar nicht beachtete. Alles, woran ich in diesem Moment dachte, war die grausige Vorstellung, was sie wohl heute wieder mit mir anstellen würden. Egal was es war, sie straften mich wegen allem. Sogar wegen meiner Stimme. Da ich ständig unterdrückt wurde, sprach ich immer sehr leise und heiser. Dann machten sie sich darüber lustig und traten mich: "Was? Ich hab' nichts verstanden!" Tritt. "Ich hab' dich immer noch nicht verstanden!" Tritt. "Wenn du nicht bald lauter sprichst, dann geh'n die blauen Flecken nie wieder weg!"
So ging ich nun mit hängenden Schultern, gesenktem Kopf und baumelnden Armen die graue Fassade entlang. Da war auch schon der Kiosk, vor dem immer die ganzen Obercoolen abhingen. Nur ein paar Meter entfernt. Also lenkte ich, wie jeden Morgen, meine Schritte rechts in die Gasse hinein, da, wo sie mich nicht sehen und so auch nicht ärgern konnten. Das war zwar eigentlich ein Umweg, aber immer noch besser, als diesen Blödmännern in die Arme zu laufen. Langsam schlurfte ich die dünne Gasse entlang, um einige Ecken, bis ich die Straßengeräusche nicht mehr wahrnahm.
Plötzlich regte sich etwas. Ich hob den Kopf. Nichts. Kurz sah ich mich um, ohne etwas zu entdecken. Gerade wollte ich weiterlaufen, da war es wieder: Ein leises Rascheln, als fielen kleine Steine und Sand auf die Erde. Dann war wieder alles still. Diesmal konnte ich die ungefähre Richtung ausmachen. Ich ging vorsichtig ein paar Schritte darauf zu, plötzlich waren all meine Sinne bis aufs Äußerste geschärft. Das hatte ich noch nie erlebt. Langsam schob ich meinen Kopf zur Hälfte um eine Ecke. Wieder dieses Geräusch und dieses Mal hatte ich gesehen, woher es kam: Mein Blick fiel auf eine halb abgerissene Bruchbude. Ein dreistöckiges Haus mit Flachdach, dem allerdings eine komplette Wand fehlte. Sie war wohl so porös, dass sie im Laufe der Zeit in sich zusammengefallen war. So hatte ich einen direkten Blick in das Haus, was mir aber auch nichts brachte, da es stockfinster im Innern war. Das Geräusch wurde durch eine Staublawine verursacht. Irgendwer oder irgendwas hatte dafür gesorgt, dass in der Decke des Erdgeschosses ein gewaltiger Riss klaffte, aus dem tonnenweise Schutt und Staub herunterrieselte. Und da war noch etwas. Da war irgendwer drin. Irgendwer schien den Staub nach draußen zu fegen, aber langsam und in unregelmäßigen Abständen... Sehr seltsam. Hin und wieder trat eine Staubwolke aus aufgewirbeltem Schutt aus der Finsternis des Gebäudes hervor und verteilte sich über die kleine Gasse. War das wirklich ein Besen? Das war eine sehr große Staubwolke für einen gewöhnlichen Besen.
Ich fasste mich wieder und ging langsam auf die fehlende Wand zu. Ich musste die Augen zusammenkneifen, da mir sonst massenhaft Staub in die Augen gekommen wäre. Je näher ich kam, desto deutlicher hörte ich ein schweres Atmen heraus. Ich wusste nicht, was es war, aber entweder war es sehr groß, oder sehr krank. Es war richtig unheimlich, aber ich hatte schon vor mindestens einem Jahr meine Angst vor allem verloren, spätestens an dem Tag, als mich der fette Lukas ins Krankenhaus geprügelt hatte. Seit dem lasse ich einfach alles über mich ergehen, da ich gelernt habe, dass ich mich eh nicht dagegen wehren kann.
Nun stand ich auf dem Schutthaufen, genau unter dem Riss in der Decke und Schutt prasselte mir wie bei einem Wolkenbruch auf den Kopf. Fluchend stolperte ich ein paar Schritte vor und stand jetzt mitten im Dunkeln. Hinter mir das graue Zwielicht des anbrechenden Tages, vor mir die gähnende Dunkelheit.
Plötzlich lief mir ein Schauer über den Rücken: Das Atmen hatte aufgehört. Jetzt herrschte Totenstille. Ich hatte ein extrem ungutes Gefühl und Panik stieg in mir hoch... Wie es aussah hatte ich meine Angst doch nicht verloren.
Ein dröhnendes Schnaufen durchsprengte die Stille, direkt vor mir, vielleicht zwei Meter. Es formte sich zu einem gewaltigen Einatmen, als stände da vor mir ein riesiges Tier, gefolgt von einem genauso heftigen Ausatmen. Ein enormer Windstoß blies mir entgegen und erfasste meinen gesamten Körper, beinahe stark genug, um mich umzuwerfen. Danach folgte wieder ein Einatmen, aber doppelt so stark wie vorher, als ob etwas mit aller Kraft versuchte so tief, wie nur irgend möglich, einzuatmen und Luft in seine Lungen zu pressen. Dann ertönte ein ohrenbetäubendes Gebrüll, direkt vor mir, verbunden mit einem Orkan, der mich von den Füßen riss. Ein Feuerstoß tauchte alles in orange-rotes Licht und verfehlte nur knapp meinen Kopf. Ich kroch auf meine Knie und entdeckte schließlich, was da vor mir saß:
Ein Drache. Ein schuppiger, grüner Drache von der Größe eines Feuerwehrautos. Er schaute mich mit seinen großen ängstlichen Augen an. Er hatte genauso viel Angst vor mir, wie ich vor ihm. Plötzlich fiel alle meine Furcht von mir ab. Der Drache ließ einen zweiten Feuerstoß über mich drüber zischen, der mich wieder nur knapp verfehlte. Ich zuckte kurz zusammen, das war allerdings alles. Er wollte mich gar nicht treffen. Er wollte mich nur verscheuchen. Langsam stand ich auf, darauf bedacht ihn nicht zu erschrecken. Was war das bloß für ein Gefühl, das langsam in mir hochkroch... War das Freude? Ich fühlte mich plötzlich so lebendig, all meine Sorgen waren wie weggeblasen.
Ich verschwendete gar keinen Gedanken mehr an die Schule... Die Schule, ach ja, das hatte ich ganz vergessen. Kurz verschwand mein Lächeln, doch ich schüttelte den unschönen Gedanken sogleich wieder ab und streckte meine Hand vorsichtig nach dem grünen Ungetüm aus. Es wollte nach hinten ausweichen, doch das Zimmer war zu Ende. Der Drache war an die Wand gedrängt. Ich berührte ihn sanft am rechten Vorderbein, von mir aus gesehen. Der Drache zuckte kurz zusammen und kniff wie ein verängstigtes Kind die Augen zusammen, doch als er merkte, dass ich ihn nur streichelte und ihm nicht weh tat, da öffnete er sie vorsichtig wieder. Er machte ein seltsames schnurrendes Geräusch, so ähnlich wie das Miau einer Wildkatze. Als er merkte, dass ich nichts Böses tat, da entspannte er sich etwas und senkte seinen Kopf an dem langen Hals, um neugierig an mir zu schnüffeln.
Auf ein Mal zuckte er wieder erschrocken zusammen und blickte sich verängstigt im Zimmer um. Ich hielt inne und überlegte, was ihn nun wieder so erschreckt haben könnte, da hörte ich in der Ferne ein Schellen. Das Schellen unserer Schulglocke. Ich würde zu spät kommen. Traurig blickte ich den Drachen an und versuchte ihm mit Gesten verständlich zu machen, dass ich bald wieder kommen würde: "Bleib hier! Sobald die Schule vorbei ist, besuche ich dich, OK?" Der Drache sah mich nur verständnislos an. Ich verdrehte die Augen und machte eine Geste, die ich im Fernsehen bei einem Hundedresseur gesehen hatte: "Platz!" Mit diesem Wort machte ich auf dem Absatz kehrt und spurtete die Gasse entlang. Kurz drehte ich mich noch um, er schien mir nicht zu folgen.
Erleichtert rannte ich weiter und wollte gerade um eine Ecke biegen, da hörte ich direkt hinter mir ein vertrautes Schnurren. Entsetzt drehte ich mich um und fand zu meinem Bedauern den grünen Drachen vor, der mich mit großen Augen ansah. "Och... Bleib' doch da! Du darfst hier nicht einfach so rumlaufen! Oh... Du dummes..." "Hey!" Ich erstarrte. Die ernste Stimme kam von rechts. Erschrocken drehte ich mich in die Richtung. Ein Polizist stand da und sah mich mit strengen Augen an: "Gehört der Drache da dir?" Ich stutzte. Schweiß trat mir auf die Stirn: "Was? Nein! Welcher Drache?..." Er deutete auf den Boden vor meinen Füßen, ich folgte seinem Finger. Da lag ein gelber Papierdrachen auf dem Boden, einer der Sorte, die man im Herbst steigen ließ, die mit der langen Schnur und der quadratischen Form. Eine der Holzleisten, die das Gerüst bildeten, war zerbrochen. "Ah-ahchsoooo-jaa... Ja, das ist meiner..." Er sah mich mistrauisch an: "Weißt du, mein Sohn hat auch so einen... Ich hab' ihn mit ihm gebaut. Du musst die Holzstreben dicker machen. Die da ist eindeutig zu dünn!" "...Aha..." Ich nickte nervös. Nun fing er an langsam auf mich zu zukommen, um zu sehen, mit wem ich da gesprochen hatte. "Sag mal, müsstest du nicht eigentlich in der Schule sein? Ich meine immerhi-oh-mein-Gott! Beim Allmächtigen was ist das?" Er hatte den echten Drachen entdeckt und zog nun seine Pistole. Er zielte genau auf des Drachens Kopf. Wieder stieg Panik in mir hoch. Der Drache schien das zu spüren, denn er blickte mich an und sein Blick verfinsterte sich. Er holte tief Luft und eine gigantische Stichflamme schoss aus seinem Maul. Dieses Mal traf er sein Ziel. Der Polizist ließ die Pistole fallen und rannte schreiend davon.
Das Ungetüm packte mich mit seinem Maul am Kragen und schmiss mich durch die Luft. Ich landete hart auf seinem schuppigen Rücken. Ich hatte gerade noch genug Zeit mich festzuhalten, da breitete er auch schon seine mächtigen Schwingen aus und hob ab gen Himmel. Die Stadt wurde immer kleiner und kleiner und irgendwann fing er an den Kurs zu ändern. Er schoss schnell in Richtung Wolken und bald brach er auch schon durch die Wolkendecke. Als wir oben waren und ich mit dem Fuß Rillen in die Wolken ziehen konnte, wie durch Schlagsahne, wurde er langsamer und flog in angenehmen Tempo dem Horizont entgegen. Nie war ich so glücklich gewesen, wie in diesem Moment! Ich wünschte, das könnte für immer so bleiben...