Der Hirschhornknopf
Pfarrer Brunkhorst hatte bis zum Abend des 30. April nicht an Gespenster geglaubt, doch seit den unerklärlichen Ereignissen dieses Tages, war das anders geworden. Wenn jetzt auf einer der Gesellschaften, an denen seine seelsorgerische Stellung ihm teilzunehmen gebot, von unheimlichen Erscheinungen oder Ähnlichem die Rede war, versuchte er sofort ein anderes Thema anzuschneiden.
Der 30. April war, wie ein Vorbote eines besonders heißen Sommers, schon recht warm gewesen. Gegen Abend jedoch kühlte es merklich ab. Pfarrer Brunkhorst hatte am Nachmittag seine Sonntagspredigt vorbereitet und wollte sich nun noch etwas Bewegung verschaffen. Das Pfarrhaus lag neben der Kirche, am Rande des weitläufigen Friedhofes der Gemeinde.
Wie gewohnt schlug der Pfarrer den Weg zwischen den gepflegten Gräbern und den sauber beschnittenen Lebensbaumhecken ein. Er wollte seine Predigt noch einmal überdenken und sich bemühen einige der Punkte zu verbessern, oder zumindest klarer hervorzuheben. Als Thema hatte er die Apostelgeschichte gewählt, um diesmal das Kapitel 8 bevorzugt zu behandeln. So war er schon an der Familiengruft der Brams angekommen, in Gedanken gerade bei der Bekehrung des Kämmerers, als ihn lautes Pochen innehalten ließ.
Pfarrer Brunkhorst blieb stehen und lauschte. Tatsächlich - jetzt hörte er es ganz deutlich: Das Geräusch musste aus der Gruft kommen. Schnell näherte er sich dem Grabgebäude, doch nun war es wieder still. Brunkhorst lief zum Eingang und überprüfte die Tür zur Gruft. Sie war verschlossen, und auch die kunstvoll verzierten Fenster schienen weder zerbrochen noch beschädigt zu sein.
Das letzte Mal war die Gruft vor etwa einem Jahr geöffnet worden, als man dort Walter Bram, den letzten männlichen Spross einer alteingesessenen Kaufmannsfamilie, beigesetzt hatte. Der Mann war bei einem Jagdunfall tödlich verunglückt. Pfarrer Brunkhorst erinnerte sich noch gut an die Beerdigung, weil es seine erste offizielle Handlung gewesen war, wenige Wochen nachdem er die seelsorgerische Betreuung dieser Gemeinde übernommen hatte.
Obwohl der Pfarrer noch fast eine viertel Stunde stehen blieb und auf weitere ungewöhnliche Laute wartete, ereignete sich nichts mehr. So schüttelte er irritiert den Kopf und setzte seinen Weg fort. Er versuchte wieder an seine Predigt zu denken, doch er konnte sich nicht mehr konzentrieren. Da es inzwischen recht frisch geworden war, machte er sich auf den Rückweg.
Es war kurz vor 20 Uhr. Pfarrer Brunkhorst hatte gerade die Niederschrift seiner Sonntagspredigt beendet und saß an seinem Schreibtisch vor dem Fenster. Von hier aus konnte er auf die ältesten Gräber der Gemeinde und auf die Gruft der Brams blicken. Die Dämmerung war hereingebrochen und ein feuchter, sich immer mehr verdichtender Nebel stieg von der Erde auf. Er hing in phantastischen Formen an den Lebensbaumhecken und zog in Schwaden durch die Baumwipfel.
Pfarrer Brunkhorst erhob sich und wollte eben die Lampe anzünden, als in der Nähe der Familiengruft ein Schatten auftauchte. Grabräuber! durchfuhr es den Geistlichen. Also hatte er vorhin doch richtig gehört, als er glaubte, Geräusche aus der Gruft vernommen zu haben. Mutig stand er auf, da erschien plötzlich am Fenster ein Gesicht. Er stutzte; irgendwie kamen ihm die Züge bekannt vor. Und auf einmal erinnerte er sich: Es war das Gesicht von Walter Bram, ein Irrtum schien ausgeschlossen! Brunkhorst lief schnell durch den Flur und öffnete die Haustür. Er sah jedoch niemanden, und in der weichen Erde neben den Rosensträuchern vor seinem Fenster, gab es auch keine Spuren.
Völlig verwirrt kehrte der Geistliche zurück ins Haus, ging zur Anrichte und holte sich eine Flasche Portwein heraus. Dann ließ er sich in seinen Sessel fallen und überlegte. War er überarbeitet? Hatte er zu wenig geschlafen? Oder woher kam es, dass er Geräusche hörte und Dinge sah, die es gar nicht geben konnte?
Pfarrer Brunkhorst genehmigte sich gerade das dritte Glas Wein, als seine Haushälterin einen Jungen zu ihm brachte. Der Bursche schien sehr schnell gelaufen zu sein, sein Haar hing ihm schweißverklebt auf der Stirn.
"Herr Pfarrer", sprudelte der Junge hervor, "Studienrat Vollmer möchte sie sprechen. Er lässt sie bitten, sofort zu ihm zu kommen"
"Geht es ihm nicht gut?" fragte der Pfarrer.
"Ich glaube er ist krank", antwortete der Junge, "aber er will keinen Arzt sehen."
Studienrat Vollmer war Junggeselle und hatte schon lange in der Gemeinde gewohnt, bevor Pfarrer Brunkhorst dorthin beordert wurde. Zwischen den beiden Männern war im Laufe des einen Jahres, seitdem der Pfarrer die Gemeinde betreute, eine Freundschaft entstanden. Der Geistliche besuchte den Lehrer oft, um mit ihm eine Partie Schach zu spielen, oder nur, um sich mit ihm zu unterhalten.
Vollmer saß in eine Decke eingewickelt, den Rücken der Tür zugewandt, vor seinem Kamin. Der Pfarrer betrachtete ihn eine Weile durch die offene Tür, bevor er ostentativ anklopfte und ins Zimmer trat. Der Studienrat schien ihn vorher nicht bemerkt zu haben und schreckte merklich zusammen.
"Sie wollen mir doch keinen Kummer machen, Vollmer", begrüßte ihn der Geistliche. "Ich habe den Jungen nach Karmsdorf zu einem Arzt geschickt. Und bis der kommt, bleibe ich hier." Der Pfarrer war sichtlich erschrocken, als er das bleiche Gesicht des Freundes sah.
"Danke, Pfarrer, aber ein Arzt kann mir auch nicht helfen", erwiderte Vollmer und bat den Pfarrer Platz zu nehmen. Er verzog seinen Mund zu einem schmerzlichen Lächeln. "Ich habe sie kommen lassen, weil ich mit ihnen über eine persönliche Angelegenheit sprechen möchte."
Pfarrer Brunkhorst legte dem Studienrat die Hand auf die Schulter. "Sprechen sie nur, mein Freund", ermunterte er ihn, "ich habe genügend Zeit und werde aufmerksam zuhören."
"Es handelt sich um eine etwas heikle Sache", begann Vollmer. "Genau vor einem Jahr, am 30. April starb Walter Bram; sie erinnern sich bestimmt noch an ihn."
Pfarrer Brunkhorst fühlte sich plötzlich sehr unbehaglich. Konnte es ein Zufall sein, dass er gerade diesen Namen, der ihm heute Abend schon so viel Kopfzerbrechen beschert hatte, nun auch hier wieder hören musste?
"Sie haben Walter Bram nicht näher gekannt", fuhr der Studienrat fort, "aber dieser Mann war ein Teufel, im wahrsten Sinne des Wortes. Er machte seiner Frau das Leben zur Hölle. Seine Eifersucht ging so weit, dass er sie kaum noch aus dem Hause ließ, er warf ihr die ungeheuerlichsten Dinge vor."
Vollmer räusperte sich und sah den Pfarrer unschlüssig an. Es schien, als gäbe er sich einen Stoß, als er erneut ansetzte: "Ich war einer der Wenigen, die noch in dem Hause der Brams verkehrten. Durch meine langjährige Bekanntschaft mit der Familie, konnte ich dort ungehindert ein und aus gehen. Und eines Tages, Pfarrer, geschah, was geschehen musste, denn eine Frau, die immer nur eingesperrt lebt, kommt auf die verrücktesten Ideen."
Hier zögerte Vollmer wieder, fuhr dann aber sogleich fort: "Ich habe, wie sie wissen, meine Abneigung gegen den Jagdsport nie verheimlicht. Deshalb war ich auch überrascht, als mich Walter Bram eines Tages zur Jagd einlud. Um ihn nicht zu verärgern, oder vielmehr, um die gewohnten ungestörten Besuche bei seiner Frau nicht aufs Spiel zu setzen, nahm ich an. Sie kennen sicherlich die Gerberschlucht, deren Abhang über zwanzig Meter steil in die Tiefe führt. Als wir dort ankamen, packte Bram mich plötzlich und beschuldigte mich, ein Verhältnis mit seiner Frau zu haben. Zornentbrannt schrie er mir ins Gesicht, er hätte unser Spiel längst durchschaut. Er tobte vor Wut, griff nach meinem Jackenaufschlag und versuchte mich zu Boden zu werfen. Ich weiß nicht, ob er mich umbringen wollte, doch schien es, als wollte er mich in die Tiefe stoßen. So rang ich mit ihm um mein Leben. Plötzlich aber verlor Bram den Halt und rutschte über die Böschung. Ich versuchte ihn zurückzuziehen, doch seine Jacke riss entzwei, er entglitt meinen Händen und stürzte den Abhang hinunter. Ich schlug sofort Alarm. Walter Bram aber hatte den Sturz nicht überlebt, man fand ihn mit gebrochenem Genick am Fuß des Hanges."
Vollmer wischte sich die Stirn, als wäre es unendlich mühsam für ihn gewesen, diese letzten Worte über die Lippen zu bringen. "Wie sie sich denken können, erzählte ich niemandem etwas von unserem Streit", ergänzte der Lehrer. Er erhob sich, wankte zum Kamin und nahm vom Kaminsims ein Kästchen. "Fragen sie mich bitte nicht, weshalb ich den aufgehoben habe, ich könnte es ihnen nicht beantworten." Vollmer entnahm dem Kästchen einen Gegenstand. "Es ist ein Knopf von Bram’s Jacke, der ihm abriss, als er in die Tiefe stürzte." Er zeigte Pfarrer Brunkhorst einen braunen Hirschhornknopf, an dem noch ein Fetzen grünen Stoffes hing.
"Vollmer", beschwichtigte ihn der Pfarrer und legte ihm wieder seine Hand auf den Arm, "ich kann ihre Verzweiflung gut verstehen, doch, wie sie es mir schilderten, trifft sie keine Schuld am Tode des Mannes. Wenn sie es genau bedenken, war es dann nicht der Wille Gottes, dass nicht sie, sondern Bram den Abhang hinabstürzte."
"Das redete ich mir auch ein und hatte diesen schrecklichen Vorfall schon fast überwunden", begann der Lehrer erneut. "Vor kurzem aber setzten dann diese Träume ein, beziehungsweise ist es immer der gleiche Traum, der folgendermaßen abläuft: Ich wandere über eine schattige, von Ahorn gesäumte Allee. Kein Mensch ist weit und breit zu sehen, doch plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Die Schritte kommen immer näher, so schnell ich auch laufe. Panische Angst ergreift mich, aber ich wage nicht mich umzusehen. Dann packt plötzlich eine Hand meine Schulter. Bevor ich jedoch das Gesicht meines Verfolgers erkennen kann, erwache ich jedes Mal schweißgebadet, mit klopfendem Herzen. Und meist liege ich danach die ganze Nacht wach und kann nicht wieder einschlafen." Vollmer schien zu erschaudern.
"So war es jedenfalls bis gestern. In der letzten Nacht jedoch endete der Traum nicht, nachdem mich die Hand an der Schulter ergriffen hatte, ich wurde statt dessen herum gerissen und blickte in das wutverzerrte Gesicht Walter Brams."
Der Pfarrer ging zum Fenster und öffnete einen Flügel. "Was sie vor allem brauchen, lieber Freund, ist viel Ruhe und frische Luft", sagte er, während er gedankenversunken vor sich hin starrte. "Und was diese Alpträume betrifft, so sind sie nichts anderes, als die Ausgeburt ihrer überreizten Nerven", fügte er nicht gerade überzeugend hinzu.
Pfarrer Brunkhorst streckte den Kopf aus dem Fenster und atmete die nasskalte Nachtluft ein. Wirre Gedanken gingen ihm dabei durch den Kopf. Nach einer Zeit längeren Schweigens schien der Studienrat erschöpft eingeschlafen zu sein. Es war eigentlich das erste Mal, dass die beiden Männer keinen weiteren Gesprächsstoff gefunden hatten. Der Geistliche war unruhig geworden. Es dauerte wirklich sehr lange, bis der Arzt eintraf. Und würde ein Arzt Vollmer überhaupt helfen können?
Plötzlich gewahrte Pfarrer Brunkhorst einen Schatten, der sich rasend schnell dem Hause näherten. Bevor er aber noch feststellen konnte was es war, ertönte ein unbeschreibliches Brausen um ihn herum. Der Geistliche wurde von einem Luftwirbel erfasst und vom Fenster weg, zurück ins Zimmer geschleudert. Ein eisiger Hauch fegte an ihm vorbei, und im gleichen Moment meinte er das Gesicht Walter Brams zu erkennen. Dann jedoch schwanden dem Pfarrer die Sinne.
Als er wieder erwachte, war es absolut still und stockdunkel im Zimmer. Pfarrer Brunkhorst rappelte sich auf und tastete nach der Petroleumlampe, die auf dem Tisch stehen musste. Als er sie gefunden hatte, riss er mit zitternden Händen ein Streichholz an und entzündete das Licht. Das Fenster war noch geöffnet, ein leichter Wind bewegte die Gardinen und trieb Nebelschwaden in den Raum.
Der Pfarrer sah sich um und bemerkte, dass er allein im Zimmer war. Er rief nach Vollmer, aber niemand antwortete ihm. Und obwohl der Geistliche daraufhin alle Räume des Hauses durchsuchte, konnte er den Studienrat nirgendwo entdecken.
Die ganze Nacht suchte man nach dem Lehrer. Am Morgen wurde sogar die Polizei hinzugezogen, doch Vollmer blieb verschwunden und wurde seit jener Nacht nicht wieder gesehen.
Einige Tage später ließ man, auf Anraten Pfarrer Brunkhorsts, die Familiengruft der Brams vor Zeugen öffnen. Es herrschte ein wahres Durcheinander hier. Einige der Särge waren von ihren Plätzen verrückt worden, andere waren sogar umgestürzt. Der Deckel von Walter Bram’s Sarg aber lag an der Erde, und in der vordersten Ecke der Grabkammer, gleich neben der Tür, entdeckte man den Leichnam von Walter Bram.
Da sich aber keiner der Anwesenden vorstellen konnte, was hier geschehen war, blieb ihnen nichts anders übrig, als die Särge wieder an ihre alten Plätze zu stellen. Auch die Leiche Walter Brams legte man wieder in ihren Sarg und versiegelte ihn erneut. Außer dem Pfarrer bemerkte wohl niemand, dass dem Toten - während man ihn anhob - ein brauner Hirschhornknopf, an dem noch ein Fetzen grünen Stoffes hing, aus der knöchernen Hand fiel.