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Der Herr im Anzug und die Dame mit dem schönsten Lächeln
Sie lernten sich im Heim "Zum Rosengarten" kennen. Er, der Herr im Anzug, sie die Dame mit dem schönsten Lächeln und den dritten Zähnen.
Der Zufall wollte es, dass sie zueinander fanden.
„Der Zufall namens Pflegerin Beatrice“, schmunzelte der Herr im Anzug stets, wenn er ihre Geschichte erzählte. Die Dame mit dem schönsten Lächeln nickte daraufhin immer ganz aufgeregt. Und Pflegerin Beatrice, die für die Sitzordnung im Seniorenheim zuständig war, wurde es warm ums Herz.
Sie habe da so ein Gefühl gehabt, war ihre Standardantwort.
Jeden Morgen teilten sich der Herr und die Dame das Brot.
Sie könne ja nicht mehr gut kauen, pflegte die Dame zu sagen. Und der Herr im Anzug schob ihr still seine Krume hin, während sie ihren Brotrauft auf sein Tellerchen legte.
Die Vormittage verbrachten sie gemeinsam in der kleinen Bibliothek. Der Herr wähnte sich der glücklichste Mann auf Erden, denn die Dame konnte vorlesen wie keine Zweite.
Mit geschlossenen Augen lauschte er den Geschichten, die ihre Stimme zum Leben erweckte. Lachte an den richtigen Stellen, runzelte die Stirn, wenn es spannend wurde.
Manchmal erzählte die Dame auch von ihrem Leben. Von den vielen Kindern, die sie unterrichtet hatte und davon, wie sie nach der Heirat nicht mehr unterrichten durfte.
Und wann immer sie davon erzählte, nahm der Herr ihre Hände in seine und nickte.
Beim Mittagessen warfen sich der Herr im Anzug und die Dame immer wieder kurze Blicke zu.
„Ja?“
„Noch nicht“, und sie schüttelte ihren Kopf.
„Jetzt?“
„Jetzt!“
Und der Herr stibitzte ein Stück Brot und liess es in der Tasche seines Jacketts verschwinden. Die Dame kicherte glockenhell und der Herr konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen.
An den Nachmittagen gingen sie beim Weiher spazieren. Warfen den Enten das mitgebrachte Brot zu und sprachen über das Weltgeschehen. Aber nie darüber, was morgen sein könnte.
Es war schön, die Hand des anderen zu halten und es war schön, dessen Wärme zu spüren. Sie brauchten nicht darüber zu sprechen, ob sie diese Wärme auch noch nächste Woche spüren konnten.
Nur einmal, da machte der Herr im Anzug eine Ausnahme. Da kniete er sich vorsichtig vor der Dame mit dem schönsten Lächeln hin und streckte ihr ein kleines Schächtelchen mit Goldring entgegen.
Sein Leben lang habe er auf die Richtige gewartet, ob sie ihn nicht heiraten wolle?
Die Hochzeit fand standesamtlich statt. Es waren viele Stühle aufgestellt worden für all die Freunde, die der Herr und die Dame im Seniorenheim hatten.
Und die Flitterwochen, die verbrachten sie beim Kuren. Es war eine schöne Woche gewesen, doch dann musste die Dame mit dem schönsten Lächeln alleine zurück ins Seniorenheim.
Die Beerdigung des Herrn im Anzug fand im kleinsten Kreis statt. Niemand bemerkte, wie die Dame ein Stück Brotrauft zum Sarg legte.
Und am nächsten Morgen, als sie gefragt wurde, ob sie nicht doch eine kleine Scheibe Brot essen möge, schüttelte die Dame ihren Kopf und lächelte ihr schönstes, trauriges Lächeln.