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Der Herr der Klinge
Es ist einer jener Träume, welche nicht zu deuten sind und die man einfach nicht erklären kann. Ehrlich gesagt, habe ich sogar Angst, diesen Traum zu interpretieren.
Furcht davor, was dabei zu Tage treten könnte.
Furcht davor, dass der Traum mehr über mich aussagen könnte, als ich zu wissen begehre.
Aber letzten Endes muss doch wenigstens die Geschichte erzählt werden.
Ich weiß in diesem Traum (oder was immer es auch wirklich darstellen mag) nie genau, ob es eine Straße ist oder ein Strand oder ein riesiger, lang gestreckter Raum. Jedenfalls scheint es in diesem Bild keinen Horizont zu geben, welcher alles begrenzt. Anfangs hatte ich sogar Schwierigkeiten, mich räumlich zu orientieren. Was ist oben, was ist unten? Die Grenzen der Realität verschwammen, wie dies in Träumen gern einmal der Fall ist. Aber es entstand dadurch in mir ein starkes Gefühl von Unbehagen und Unwirklichkeit. Alles schien materiell fest und real zu sein, aber geistig konnte ich nichts erkennen, was wirklich fest gewesen wäre.
Aber etwas war eindeutig real. Die alte Ziegelmauer, welche sich auf meiner rechten Seite schier endlos erstreckte. Sie reichte in beide Richtungen, soweit mein Auge nur sehen konnte. Am Ende meines Horizontes verschmolz sie einfach mit dem Himmel, oder was immer sich da über mir erstreckte. Da sich eine untergehende Sonne gerade in allen Gegenständen spiegelte, färbte sich die ganze Szenerie blutrot und ich hatte den Eindruck, ich könnte mich an der Pforte zur Hölle befinden. Alt war das Gemäuer, uralt. Fast war es so, als stünde es schon seit Anbeginn der Zeit. Die Höhe dieser Mauer betrug etwas weniger als zwei Meter. In meinem Inneren brannte der Wunsch, einen Blick hinter jene Mauer zu werfen, aber es gab keine Lücke, keine Ritze. Was es gab, waren Geräusche. Schabende Geräusche, reißende Geräusche und ein Stöhnen, wie es unheilvoller nicht sein konnte. Ich hatte keine andere Wahl, ich MUSSTE einfach schauen, was sich hinter dem Gemäuer abspielte. Also nahm ich Anlauf, stemmte mich mit beiden Armen oben ab und warf einen Blick hinüber. Bei Gott, wäre mir das Folgende doch erspart geblieben.
Hinter der Mauer sah ich eine kleine, zusammengesunkene Gestalt. Sie war mit Paketband am kalten Stein befestigt. Es gab für sie keine Chance, sich zu wehren. Sie machte auch keinen Versuch dazu. Dies bedeutete also, dass sie sich schon lange in dieser Lage befand. Eine Frau war es. Und so weit ich erkennen konnte, war ihr Körper (sofern dies noch ein menschlichen Körper war) mit verkrusteten Wunden bedeckt. Ich konnte ihre Gedanken erahnen und mir verschlug es die Sprache ob solcher Grausamkeit.
...Der Alptraum beginnt von neuem. Auch dieser Tag bringt nicht die erhoffte Erlösung.In den eigenen Fäkalien zu liegen, ist inzwischen mein geringstes Problem. Aber mit gerade noch vom Wach werden flackernden Augenlidern die nächste Pein zu sehen, dies bringt mich fast um den Verstand. Ich kann mich nicht bewegen, bin aber klar bei Bewusstsein und sehe jedes Detail, was geschieht. Hoffnungslosigkeit und Entsetzen breiten sich aus in meinem Gehirn.
Kurze Zeit dämmere ich hinüber ins Land des Vergessen, ins Land ohne Zeit und ohne Schmerz. Aber nein, furchtbare Qualen holen mich zurück in die Realität. Von einer anderen Person, die völlig vermummt und unkenntlich ist, wird das Messer geschickt geführt. In einer schwärenden Wunde, hervorgerufen von einem anderen dieser endlosen, qualvollen Tage, stößt das völlig verrostete Messer hin und her. Kaskaden des Schmerzes explodieren in meinem Gehirn. Es bohrt so tief, der Schmerz galoppiert. Als das Messer auf einen Knochen trifft und dort die Knochenhaut herunter schält, da entsteht ein ekelhaftes, schabendes Geräusch. Meine Augen haben das Bedürfnis, ihre Höhlen zu verlassen.
Kein Schrei dringt durch die Lippen. Der Knebel steckt so tief, dass nur dieses leise Wimmern zu hören ist. Wie lange noch wehre ich mich, sträubt sich mein Geist, das Ende anzunehmen? Der Körper WILL sterben, doch das Martyrium hält an. Es gibt keinen Ausweg, niemand wird mich suchen und vermissen. Alle denken, dass ich mich auf dem angekündigten Pilgerpfad befinde...
Oh ja, hier pilgert die Gestalt auch. Einen ganz eigenen, unendlich perversen Kreuzweg der Vernichtung. Infusionen ernähren den Körper, erlauben ihm nicht einmal die Gnade des Verhungern und Verdursten.
Als die Tortur des heutigen Tages vorüber ist, erhebt sich die peinigende Gestalt und flüstert zärtlich ins Ohr der Gepeinigten:
Bis morgen, mein Liebling.
Schweißgebadet erwache ich aus diesem Alptraum. Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis sich mein Herzschlag wieder normalisiert hat. Aber dies bedeutet für mich nur, dass der Schleier des Alptraums von mir abfällt. Nie ist dieses Gefühl der Erleichterung von langer Dauer. Die Realität, welche mich schützen soll, bleibt ein dünner Vorhang vor dem endlosen Raum des Wahnsinns.
Seltsam ist, dass ich nach jedem Traum einen Muskelkatarrh verspüre, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Und ich habe jeden Tag mehr Angst davor, die Tageszeitung aufzuschlagen. Jedes Mal lese ich in den Regionalnachrichten, dass ein Mensch in unmittelbarer Umgebung aufgefunden wurde. Tot und auf grausamste Art und Weise verstümmelt.
Ich suche nicht im Keller und ich suche auch nicht in meinem Schuppen. Ich suche überhaupt nicht. Ich habe Angst davor, ich könnte mein altes Messer finden.