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Der Herr über Leben und Tod
Ich schließe die Augen. Das metallische Klicken der sich drehenden Trommel dröhnt in meinen Ohren und jedes Klick kann den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Ich spüre den Griff in meiner schwitzenden Rechten und drehe die Trommel mit der linken Hand. Ich drehe sie immer wieder, aber mir fehlt das Gefühl. Ich kann es nicht anders nennen, Gefühl trifft es am ehesten. Das Gefühl, dass alles richtig ist. Dass die Kammer leer ist. Dass alles gut sein wird. Andere nennen es Instinkt, Bauchgefühl oder Intuition. Es gibt sogar solche, die es Vorsehung nennen. Aber wer bin ich schon, dass ich über diese Menschen urteile?
Mir schießt ein Gedanke durch den Kopf: Wenn mich jemand fragt, warum ich das tue, was würde ich antworten? Nun, weil ich das kann. Andere Menschen sind Ärzte, Polizisten, Ingenieure oder Lehrer, weil es das ist, was sie können und gern machen. Ich kann das hier. Mache ich das denn gern? Ja, sehr sogar. Meine Sucht ist Adrenalin. Am liebsten mag ich den Moment kurz bevor ich abdrücke. Ich liebe die Illusion, ich sei der Herr über Leben und Tod. Als sei eine unsichtbare Kraft beteiligt, die die Trommel in die richtige Position bringt und für die ich lediglich die Richtung zeige. Zwar habe ich alles in der Hand, aber trotzdem wird die Entscheidung darüber, wer lebt und wer stirbt, nicht in meinem Kopf getroffen. Alles wird entschieden, sobald die Trommel anhält. Und ich kann diese Entscheidung nicht verändern.
Ich höre eine ungeduldige Stimme, die mich aus meinen Gedanken reißt:
„Na mach schon, wir haben nicht ewig Zeit.“
Ich öffne die Augen. Ich sehe die unrasierten Visagen, die von einer einzigen Glühbirne im Raum angeleuchtet werden. Ich sitze mit ihnen an einem runden Tisch, in dessen Mitte ein sehr großer Haufen mit Geld und einigen Wertgegenständen liegt. Die anderen sehen mich gespannt und erwartungsvoll an. Eine der Visagen bleckt die gelben Zähne vor unbändigem Blutdurst. Vor mir liegt ein Zettel, auf dem mit meiner Schrift die Zahl 3 steht. Ich drehe die Trommel erneut und plötzlich spüre ich es. Es wird alles gut. Zuversichtlich spanne ich den Hahn und lege mir die Mündung des Revolvers an die Schläfe. Alle sind sehr angespannt, niemand merkt, wie ein brennender Zigarettenstummel ein Loch in die speckige Tischdecke brennt. Nur kurz spiele ich mit dem Gedanken, die Mündung der Visage entgegen zu halten, aber ich spüre, dass der Inhalt dieser Kammer für mich gedacht ist und für niemanden sonst. Handle ich dem zuwider, ist es mein Tod. Aber mir geht es gut. Die Entscheidung wurde gefällt. Ich drücke ab.
„Ach verdammt!“ - brüllt die Visage voller Enttäuschung. Alle außer mir stehen auf und gehen murrend. Ich entlade drei Patronen und drei Hülsen aus dem Revolver und beginne meinen Gewinn zu zählen. Das Hochgefühl breitet sich noch immer in meiner Brust aus und erfüllt mich mit einer Freude, die über die einfache Freude, am Leben geblieben zu sein oder ein Spiel gewonnen zu haben, hinausgeht. Es ist nicht nur Adrenalin. Es ist der Triumph der unsichtbaren Kraft, der mich berauscht. Das würde ich um nichts auf der Welt aufgeben.
„Sind Sie der, den man Lucky Jo nennt?“ - höre ich jemanden fragen.
Ich hebe den Kopf. Vor mir steht ein junger Mann, gepflegt, sicher nicht arm. Ich habe ihn hier noch nie gesehen, aber ich bin zu berauscht, um argwöhnisch zu sein.
„Bin ich. Wollen Sie spielen?“
„Richtig. Ich setze 10 Dollar.“
„Dann nehmen Sie Platz.“
Ich schere mich nicht um das Risiko, denn alles wird gut. Während der Fremde sich hinsetzt, räume ich meinen letzten Gewinn in meine Taschen und lege den Revolver mit den Patronen, den Hülsen und dem Notizblock mit einigen Bleistiften in die Mitte des Tisches. Jeder von uns nimmt einen Zettel und einen Stift und legt einen Schein vor sich hin. Diesmal schreibe ich eine eins auf den Zettel. Als ich und der Fremde uns gegenseitig die Zettel zeigen, steht auf beiden die gleiche Zahl geschrieben. Dann geht es los. Ich befülle den Revolver mit einer Patrone und fünf leeren Hülsen und reiche ihn dem Fremden. Dieser dreht die Trommel einige Male, hält sich den Revolver unter das Kinn und drückt ab. Die Waffe gibt ein hohles Klicken von sich. Dann nehme ich sie und fange an, die Trommel zu drehen. Ich drehe sie mehrmals und warte wieder auf das Gefühl. Und da ist es, alles wird gut. Ich spanne den Hahn und führe die Waffe an meine Schläfe. Plötzlich langt der Fremde über den Tisch und packt den Revolver. Ich drücke ab. Der Schuss ist ohrenbetäubend und die Kugel bohrt sich in die Decke. Fassungslos starre ich ihn an. Das Hochgefühl ist fort, ebenso wie der Rausch. Ich bin wie betäubt. Der Fremde setzt sich wieder auf seinen Stuhl.
„Das wäre sehr bedauerlich, wegen zehn Dollar den Löffel abzugeben.“ - sagt er.
Hat der Fremde es gewusst? Hat er es geahnt? Oder war es pures Glück? Es spielt eigentlich keine Rolle. Die Entscheidung stand fest, ich sollte heute Abend sterben. Ich wies der Kugel die Richtung und wäre der Fremde nicht hier, wäre ich jetzt tot. Was bedeutete das? War er stärker, als die unsichtbare Kraft? Stärker als sie und ich, weil er die Richtung änderte und die getroffene Entscheidung revidierte? Nach dem Warum frage ich gar nicht, diese Frage habe ich mir abgewöhnt. Ich spüre den eisigen Klumpen in meinem Magen. Die Dunkelheit fühlt sich feindselig und bedrohlich an. Ich bin hier nicht mehr erwünscht. Ich stehe auf und laufe auf wackelnden Beinen zum Ausgang. Der Fremde schweigt. Ich stolpere und habe das Gefühl, als würde die unsichtbare Kraft mich hinaus drängen und verstoßen. Sie wird mich nun verfolgen, plötzlich weiß ich es. Beim nächsten Spiel wird sie die getroffene Entscheidung nachholen. Ich renne in Panik hinaus und sprinte so schnell ich kann fort.
Ich werde nie wieder an diesen Ort zurückkehren.