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Der Herbst ist da
Goldene Blätter fallen leise zu Boden. Bäume ragen kahl in den Himmel. Herbstwind zieht durch die Gassen. Grün bekleidete Männer blasen Laub in die Ecken. Es ist Herbst.
»Herrlich«, denkt Frau Sommer und schaut aus dem Fenster.
Frau Selma Sommer ist dreiundsechzig Jahre alt. Alzheimer im Anfangsstadium, meinte ihr Arzt. Anfangs fiel es ihr gar nicht auf. Aber auf einmal wusste sie nicht mehr, wo sie etwas ablegte, welcher Wochentag war oder welche Telefonnummer die Sara hat. »Handeln muss ich nun«, dachte damals die Selma Sommer. »Soll das denn wirklich alles sein, was das Leben mir bieten will?«
Wimmernd saß sie zunächst bei Dr. Winter in der Praxis. Plötzlich zu erfahren, dass alles verloren geht, nicht nur die Erinnerungen, sondern in gewisser Hinsicht sogar sie selbst.
Sebastian, an den erinnert sie sich noch. Nur vierzig Jahre Ehe, bis er starb. Stunde für Stunde bangte sie an seiner Seite, Tag und Nacht. Nichts brachte es. Er starb einfach weg. Weinen kann Selma nicht mehr. Manchmal aber vermisst sie Sebastians Nähe, seine Hände und Küsse.
»Kein Katzengejammer! Jetzt muss etwas passieren«, dachte sie kurze Zeit nach der Diagnose daheim. »Sebastians Tod hat Selma überlebt. Die Selma lässt sich auch jetzt nicht unterkriegen.« Urplötzlich kam ihr diese verrückte Idee. »Ich werde alles vergessen, was ich je getan habe«, kam ihr die Erleuchtung. »Es ist doch dann völlig egal, was ich mache. Morgen schon werde ich mich vielleicht nicht mehr dafür schämen müssen.«
Mit dieser frohen Erkenntnis lebt Selma Sommer jetzt seit sieben Monaten. Mittlerweile vergisst sie schon recht viel, aber noch kommt sie ganz gut alleine klar. Keinesfalls vergisst sie nämlich diese eine Sache. Selma hat einen Computer geerbt von Sebastian. Seit diesem Spätsommertag bei Dr. Winter schreibt sie jeden Tag dreimal ihre Gedanken auf und liest sie dreimal täglich. Tatsächlich ist sie manchmal überrascht, doch häufig erinnert sie sich an ihre Erlebnisse. Es weiß niemand außer ihr, dass sie über dieses eine Geheimnis Tagebuch führt.
Feierlich fühlt sie sich seitdem. Sie hat es heimlich getan. Ganz allein und unerkannt. Unheimliche Angst hatte sie zunächst dabei. Dann aber fiel es ihr immer leichter. Längst kann sie gar nicht mehr aufhören damit. Dumm kommt sie sich manchmal vor, aber es ist doch zu schön. Schon seltsam.
»So«, denkt die Selma. »Heute ist es wieder soweit!« Selma erwartet Besuch aus dem World Wide Web. Wie gerufen, klingelt es an ihrer Eingangstür. Einmal noch schnell den Lippenstift nachziehen und dann los. Lachend öffnet Selma die Tür und denkt: »Der ist hübsch.«
Herr Herbst ist da und bleibt eine kleine Weile bis der Winter kommt.