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Der Henker und sein Richter (oder: Regentage im Mai)
Prasselnder Regen. Schon wieder. Dazu ewig dichter Nebel und die immer feuchte Luft.
Doch vor allem hasste er den Regen. Er hasste das Land, das Essen und die Einwohner. Kein Wunder, dass die Menschen bei diesem tristen Wetter verrückt werden, dachte er.
Er vermisste seine Familie. Eine Woche war es her, seit er den Anruf bekommen hatte, eine Woche, seit er seine Tochter das letzte Mal in den Armen gehalten hatte. Natürlich hatte er den Fall angenommen. Was sonst hätte er tun sollen? Er wusste die Anrufe kamen nur, wenn die Lage aussichtslos war, sozusagen der Griff eines Ertrinkenden nach dem letzten Strohhalm, und er wusste es war seine Aufgabe diesen Dreckskerl, diesen Bastard zu fassen, ganz gleich wie unerträglich ihm das Essen war oder wie sehr ihm dieses eigentümliche Land verhasst war.
Er stand auf einer einsamen Brücke und lehnte sich an das Geländer. Unter sich ein reißender Fluss, über sich ein bewölkter Nachthimmel.
Ein Mann stellte sich neben ihn. Er war aus dem Nichts aufgetaucht. Eigentlich war er mehr eine schlechte Karikatur eines Mannes, denn ein echter Mann. Dicke Brille, abgenutzte Kleidung und eine hässliche, gelbe Wollmütze definierten sein Erscheinungsbild. Ein Verlierertyp, ein halber Mann eben.
"Ich könnte springen...springen, ein kurzer Schmerz und alles Leiden hätte ein Ende...", sagte der halbe Mann und blickte ihn an. Seine Augen waren leer und glasig. Augen wie die eines Haies.
"Wie ist ihr Name?", fragte der halbe Mann seinen verdutzen Gegenüber, als dieser einer Antwort schuldig blieb.
"Aaron", antwortete er ihm nun, wenn auch zunächst sehr irritiert.
"Wieso möchten Sie nicht mehr leben?", fragte Aaron den Mann mit den Haifischaugen.
Es kam keine Antwort. Der halbe Mann umklammerte das Geländer, bis die Knöchel seiner Hände weiß hervortraten. Er versuchte zu Grinsen. Eine Mischung aus Wahnsinn und Verzweiflung spiegelte sich in diesem Grinsen. Sein Gesicht mehr eine Fratze denn ein Gesicht.
Aaron musste unweigerlich an den Fall denken. Sieben Tote. Selbst für die Art von Fällen, die er für gewöhnlich übernahm, waren Sieben eine ungewöhnliche Zahl.
So viel Mord und soviel Grausamkeit. Dieser Hänfling wird mir nicht auch noch sterben!, sagte er sich.
Aaron packte den halben Mann sanft an den Schultern.
"Das ist es nicht wert!...", begann er auf ihn einzureden. "Was immer Sie denken! Was immer auch passiert ist! Es ist es nicht wert dafür zu sterben! Du bist jung, du wirst darüber hinwegkommen. Hörst du mich? Was immer auch passiert ist. Ganz egal, mit was du zu kämpfen hast. Es wird besser werden. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, vielleicht erst in vielen Jahren, aber irgendwann!"
Der Mann starrte ihn an. Er starrte mit seinen Haifischaugen.
"Ich habe nur eine Bitte!", sagte er und schniefte kräftig. "Eine Bitte und ich verspreche ihnen, ich werde noch einmal darüber nachdenken!"
"Gerne! Wenn es in meiner Macht steht werde ich es tun!", antwortete Aaron.
Der halbe Mann kramte in seiner Hosentasche und förderte einen Brief zutage. Er reichte ihm den Brief.
"Dieser Brief bedeutet mir viel! Bitte sorgen Sie dafür, dass er seinen Empfänger erreicht!", bat er ihn. Seine Augen leer und glasig...
Aaron zögerte, nahm jedoch den Brief.
"Ich werde mich darum kümmern!", versprach er.
Er betrachtete den Brief genauer. Die Vorderseite war blank. Weder Name, noch Adresse waren angegeben. Er schaute auf der Rückseite, vergeblich!
Er dachte wieder an den Fall. Alptraumhaft verfolgte ihn dieser. Sieben Tote. Sieben kleine Mädchen. Alle gebranntmarkt mit den Initialen des Mörders. A und N . Die Initialen des Monsters.
Als er aufblickte, um zu fragen, an wen der Brief denn nun gehen müsste, stellte er erstaunt fest, dass der Mann mit den Haifischaugen bereits wieder verschwunden war. Ein ungutes Gefühl überkam ihn.
Er öffnete den Brief.
Ein einziges Wort auf einem verblichenen Zettel:
Mia
Darunter die Initialen A und N.
Aaron zuckte zusammen. Er fingerte nach seinem Handy. Seine Finger zitterten. Er wählte. Verwählte. Wählte erneut. Verwählte sich wieder. Er zwang sich durchzuatmen. Panik überkam ihn. Schweißperlen strömten über seine Stirn. Er wählte erneut. Wählte die Nummer seiner Tochter.
"Hallo ich bin´s Mia...", Aaron schluchzte vor Freude und Erleichterung.
"...Ich kann gerade nicht ans Telefon, aber wenn ihr was zu sagen habt, dann hinterlasst mir doch einfach eine Nachricht nach dem Signalton!"
...