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Der Heidenwald
Ursel hatte das kleine Anwesen erst einmal gesehen, das war bei Ottos Beerdigung. Nun zuckelte sie suchend durch die engen Straßen des ehemaligen Dorfes, das längst Teil der nahen Stadt war. Unweit des Kirchleins stieß sie auf das verwaiste Gehöft. Sie wohnte mit ihrer Mutter in der Großstadt, eine gute Autostunde entfernt. Ursels Mutter war Ottos Cousine und nun seine Erbin. Sie quälte sich mit verschiedenen Gebrechen, deshalb kümmerte sich ihrer Tochter um den Nachlass.
Trübe Fensterscheiben, abbröckelnder Putz, wucherndes Unkraut. Verlassenheit und Melancholie lag über dem bescheidenen Anwesen. Ursel riss sämtliche Fenster auf und beseitigte den gröbsten Schmutz. Dann vertiefte sie sich in die schriftlichen Unterlagen des ehemaligen Bewohners. Gewissenhaft sortierte und sichtete sie. Im Umschlag einer zerfledderten Bibel steckte neben Geburts- Heirats- und Todesurkunden von Ottos Eltern ein zusammengefaltetes Schreiben: „Ich gelobe bei Gott, dem Allmächtigen, dass ich das Heidenwäldchen zu meinen Lebzeiten nicht verkaufe. Ich werde es erhalten und schützen und Sorge tragen, dass meine Erben ebenso verfahren.“
Es trug ein Datum vor 50 Jahren und Ottos Unterschrift. Verwundert las sie das vergilbte Dokument erneut. Otto hinterließ ein ziemlich großes Flurstück, zu dem auch ein Wald gehörte. Vermutlich war dieses Wäldchen gemeint. Warum das feierliche Versprechen?
Das Rätsel blieb vorerst ungelöst. Ursel nahm ihre Lesebrille ab und trat in die Frühjahrssonne hinaus. Sie beschloss, zur Abwechslung Scheune und Garten in Augenschein zu nehmen. Im Hof winkte ihr eine ältere Frau. Sie stellte sich als Nachbarin vor und lud Ursel auf eine Tasse Kaffee ein. Einen Augenblick zögerte diese. Ihre Mutter, die sie allein großgezogen hatte, hegte Misstrauen gegenüber Bekannten und Unbekannten. Mit dieser Einstellung lebte auch die Tochter. Allerdings könnte sie den Leuten Ottos Haus, Hof und Garten anbieten. Ursel folgte der Frau in das schmucke Häuschen nebenan.
„Es ist schön, dass Sie ein wenig Zeit haben! Sie sind ja unsere neue Nachbarin! Ich bin mit Ihrem Onkel in die Schule gegangen, und wir haben uns immer gut verstanden. Ich freue mich, seine Verwandte kennen zu lernen.“, begrüßte sie der Nachbar.
Von ihrem Platz am Kaffeetisch blickte die Besucherin geradewegs auf ein großes, goldgerahmtes Bild: Im Vordergrund ein breiter Fluss, dahinter auf der linken Bildseite ein Dorf mit roten Ziegeldächern, umgeben von üppig blühenden Obstbäumen. Rechts im Bild, mitten zwischen Feldern und Wiesen, schwamm ein Wald wie eine dunkelgrüne Insel.
„So hat unser Dorf vor hundert Jahren ausgesehen,“ bemerkte der alte Mann.
Ures verglich das Gemälde mit der jetzigen Siedlung. Nun ja, das Dorf war schon kein Dorf mehr.
„Wie eigenartig“, bemerkte sie. „Im heutigen Dorf - wenn man es überhaupt noch so bezeichnen kann – findet sich wenig, das an den Ort auf diesem alten Bild erinnert.“
„Die Kirche und der Heidenwald“, entgegnete die Frau, während sie Kaffee einschenkte. „Nur verdecken ihn jetzt Häuser.“
„Heidenwald?“
„So nennt man ihn hier. Das bedeutet „alter Wald“. Er gehört seit jeher Ihrer Familie. Angeblich war er früher viel größer“, erklärte der Nachbar.
„Bald wird der Rest des alten Waldes verschwunden sein! Gleich nach der Beerdigung legte uns eine Wohnbau-Firma ein Kauf-Angebot vor. Meine Mutter hat es angenommen. Ich vermute, inzwischen bauen sie dort schon.“
Dumpfes, eintöniges Glockengeläut zerstörte jäh die gemütlichen Stimmung. Ursel schauderte. „Das hört sich an, wie eine Totenglocke,“ dachte sie.
Die Nachbarin schloss das Fenster.
„Die Totenglocke. Der Phönix-Chef wird heute begraben.“
Auf Ursels bestürzten Blick berichtete sie: „Er setzte sich letzten Sonntag in den Bagger und stürzte in die ausgehobene Baugrube, der Bagger überschlug sich und begrub ihn unter sich. Bis heute wird gerätselt, weshalb er überhaupt in den Bagger gestiegen ist, zumal er noch nie eine Baumaschine bedient hat! - Aber das war eigentlich zu erwarten.“
„Zu erwarten? War der Mann betrunken?“
„Nein. Hat Ihnen Otto nichts gesagt? Hat er Ihre Mutter nicht darauf hingewiesen, dass dieses Wäldchen für alle Zeit erhalten und geschützt bleiben muss? - Aber nein, sein Tod kam zu plötzlich.“
„Außerdem“, fügte der Mann mit leisem Vorwurf hinzu, haben Sie ihn ja nie besucht.“
Ursel dachte an Ottos rätselhaftes Gelöbnis und verlor allmählich die Geduld.
„Was ist mit dem Wäldchen?“
Die alte Frau beugte sich vor. „Der Wald stammt aus uralten Zeiten. In meiner Jugend kursierten Geschichten von Hexen, Waldgeistern, Werwölfen und von einem Fluch. Heute vermutet man, dass sich dort in heidnischer Zeit ein Heiligtum oder eine Kultstätte befand.“
„Tatsache ist, jeder, der versuchte den Heidenwald abzuholzen, ist ums Leben gekommen. Sie können im Dorf fragen, wen sie wollen, jeder erinnert sich an solche Fälle.“
„Andererseits ist das Wäldchen ein wahres Labsal.“, schwärmte die alte Frau. „Im Frühjahr das zarte Grün und das Gezwitscher der Vögel, im Sommer köstliche Frische, im Herbst buntes Laub. Immer wenn ich hinein gehe, wird es mir leicht und froh!“
Ursel hatte genug von abergläubischen Geschichten. Ihren Vorschlag, Ottos Anwesen zu erwerben, lehnten die Nachbarn ab. Sie verabschiedete sich, wollte schauen, was von dem alten Wald übrig geblieben war. Durch die in den letzten Jahrzehnten entstandenen Siedlungen um den Kern des einstigen Dorfes ließ sich das Heidenwäldchen nicht so leicht finden.
„Guten Tag! Sind Sie Frau Pauli? Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so überfalle.“
Die Angeredete wandte sich überrascht um. Ein rustikal gekleideter Mann, mittleren Alters wie sie selbst, war ihr gefolgt. „Mein Name ist Peter Rost.“
„Ja?“
„Ich habe vor dem Haus Ihres, hm, Onkels auf Sie gewartet, weil ich Ihnen das Heidenwäldchen ans Herz legen möchte. - Ich leite den hiesigen Naturschutzverein; wir haben versucht das Bauvorhaben zu verhindern. Darf ich Sie in den Wald begleiten?“
Ursel fühlte sich überrumpelt. „Das ist nicht nötig.“, entgegnete sie grimmig.
Der Naturfreund schwärmte von der einmaligen Flora, wies auf den unwiederbringlichen Verlust hin, wenn dieser Wald zerstört wurde. Er bat, den Verkauf rückgängig zu machen. Die Baugesellschaft sei nicht abgeneigt seit dem Unfall. Inzwischen erreichten sie das Wäldchen.
„Nun haben Sie gesagt, was Sie wollten!“, fauchte Ursel. „Wie kommen Sie dazu, mit der Phönix zu sprechen! Diese Angelegenheit geht Sie überhaupt nichts an! Ich sehe keinen Grund, von dem Vertrag zurück zu treten! Im übrigen gibt es genug andere Wälder im Land. Und nun lassen Sie mich bitte in Ruhe!“
Sie ließ ihn stehen und folgte einem grasigen Weg. Nach wenigen Metern blickte sie in die ausgehobene, von Erdhaufen und abgeholzten Erlen umgebene Baugrube. Der Bagger, der den Baulöwen unter sich begraben hatte, war nicht mehr da. Ursel durchquerte das Waldstück in weniger als einer Stunde und entdeckte nichts Besonderes. Weit und breit war niemand zu sehen, dennoch wurde sie das unbehagliche Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Etwas war hier, irgendwo zwischen den Stämmen. Beklommen setzte sie ihren Weg fort.
„Anscheinend hat mich das Geschwätz verwirrt!“
Plötzlich verdunkelte sich der Himmel, und ein heftiger Sturm fegte durch den Wald. Ursel beschleunigte ihren Schritt. Schon konnte sie in der Finsternis den Pfad nicht mehr ausmachen. Nun ja, das Wäldchen war klein, wenn sie einfach geradeaus ging, würde sie in kurzer Zeit sein Ende erreichen, egal in welcher Richtung. Zweige flogen durch die Luft, ein dicker Ast verfehlte Ursel um Haaresbreite. Tödlich erschrocken begann sie zu laufen. Ein paarmal stieß sie sich an einem Baumstamm, sie blieb an Gestrüpp hängen und zerriss ihre Kleider; sie stolperte und schlug auf die Erde. Ein peitschender Regen durchnässte sie. Nur heraus aus diesem Wald! Sie lief und lief, und es dünkte ihr, sie sei stundenlang herumgeirrt, als sie endlich in der Abenddämmerung auf einer gepflasterten Straße stand. Milde Luft umgab sie, ein sanfter Wind wehte. Die Straße erstreckte sich trocken vor ihr, nichts wies darauf hin, dass es außerhalb des Waldes geregnet hatte.
Ursel fuhr nach Hause zurück. Sie warf die zerrissene, verschmutzte Kleidung in den Müll und verdeckte die Kratzer und Schrammen unter langärmligen Blusen. Das Erlebnis im Heidenwäldchen dünkte ihr wie ein Alptraum, den sie verdrängen und vergessen wollte.
Ein paar Tage später traf ein Schreiben der Phönix-Baugesellschaft ein. Nach dem tödlichen Unfall kursierten wilde Gerüchte. Sogar die örtlichen Zeitung berichtete darüber. Deshalb befürchtete die Gesellschaft, die auf diesem Gelände geplanten Wohnungen würden lange unverkäuflich sein. Sie schlug vor, den Grundstückskauf rückgängig zu machen und bot eine Entschädigung an.
Ursel beabsichtigte, sich während ihres Urlaubs in dem trostlosen Haus für ein paar Tage notdürftig einzurichten, um in Ruhe das Inventar auszumisten. Bei dieser Gelegenheit wollte sie noch einmal mit den Phönix-Leuten sprechen, denn eine Auflösung des Vertrages kam nicht in Frage. Sie würde sich durch ihr unangenehmes Erlebnis in dem lächerlich kleinen Wald nicht ängstigen lassen. Ausgerüstet mit Schlafsack, Gummistiefeln und Putzutensilien nahm sie eines strahlend schönen Julitages Besitz von dem alten Hof. Am Abend gönnte sie sich ein ausgiebiges Mahl in einem Gartenlokal. Danach mochte sie noch nicht in das öde Haus zurück. Sie schlenderte durch die Straßen und geriet unversehens in das Heidenwäldchen. Einen Moment erschrak sie, erinnerte sich an das Unwetter und ihre Panik. Dann marschierte sie entschlossen weiter.
Der betörende Duft blühender Linden umhüllte sie nach wenigen Schritten. Der Lärm von Autos, Motorrädern, Rasenmähern, die laute Musik aus einem an das Wäldchen grenzenden Garten, verstummte abrupt, was auf diese kurze Entfernung eigentlich unmöglich war. Sie vernahm nur das melodische Abendlied der Amseln, das emsige Summen der Bienen, sonst nichts. Ursel blieb stehen, putzte sich die Nase, rieb sich die Augen. Bei ihrem ersten Spaziergang durch das Wäldchen hatte sie keine einzige Linde entdeckt, und an Vogelgezwitscher erinnerte sie sich nicht. Verwundert schritt sie weiter. Das Grau der Häuser und Straßen, die monotonen Vorgärten, die alltäglichen Geräusche, alles was ihr vertraut war, schien meilenweit entfernt. Der süße, betäubende Duft und der Gesang der Vögel rührten sie seltsam an. Ungeahnte Wehmut erwachte: der Schmerz unerfüllter Sehnsucht, längst begrabene Träume von Liebe und Glück drängten sich auf, als hätten die langen Jahre ihres, von törichten Gefühlen befreiten, gleichmäßigen Lebens gar nicht existiert. Der Panzer aus Gewohnheit, kalter Vernunft und strengem Pflichtgefühl zerbrach. Tränen traten ihr in die Augen. „Ich verliere den Verstand, wann habe ich das letzte Mal geweint“, dachte sie, und fühlte dennoch Erleichterung. Wie im Traum bewegte sie sich vorwärts. Vor ihren Füßen tanzten bunte Schmetterlinge. Inmitten mächtigen, uralten Eichen, Buchen und Linden breitete sich eine Lichtung vor ihr aus. Überrascht hielt sie inne. Wie konnte sie bei ihrem letzten Besuch diesen Platz übersehen? Die Strahlen der sinkenden Sonne ließen das Laub der gewaltigen Bäume grün-golden leuchten und trafen auf die feinen Rispen des blühenden Grases und zarte blaue und weiße Waldblumen. Ursel entdeckte eine Bank aus moosigem Stein. Sie setzte sich, überwältigt von diesem zauberhaften Ort, an dem sie sich frei und gleichzeitig geborgen fühlte.
Mit einem Schlag verstummten die Vögel, und eine beängstige Stille umgab sie. Eine imposante, grün-goldene Schlange richtete sich vor Ursel auf. Goldfunkelnde Augen fixierten sie. Ehe sie zwischen Staunen und Angst einen klaren Gedanken fassen konnte, löste sich das schillernde Reptil in einem Nebelstreif auf. An seiner Stelle erhob sich eine majestätische Frau. Sie trug ein grün-goldenes Gewand, braunlockiges Haar umgab ein Gesicht von klassischer Schönheit. Die Fee oder Göttin oder was immer sie sein mochte, musterte sie mit goldfunkelndem Blick. Ursel schüttelte ungläubig den Kopf und schloss die Augen. Aber als sie die Augen wieder hob, war die Erscheinung immer noch da.
„Es ist schön hier, nicht wahr?“, sprach die Fremde. „Das Herz des Waldes. Der Atem des Lebens! Nichts ist wichtiger und größer – du fühlst es wohl!“
„Wer bist du?“, wollte Ursel fragen, doch sie brachte keinen Laut heraus.
„Dieser Ort ist heilig, niemals darf er angetastet werden. Der Wald hütet und schützt ihn, und er wehrt sich, wenn ihm Zerstörung droht! – Das wussten die Menschen seit uralten Zeiten, und Jahrhunderte lang gaben sie dieses Wissen weiter. Offenbar schenkt niemand mehr den alten Überlieferungen Glauben. Du jedoch begreifst nun und erkennst die Warnung.“
„Der Sturm“, fuhr es Ursel durch den Sinn. „Will dieser Wald Menschen töten?“
Die Göttin schien ihre Gedanken zu lesen.
„Ihr Menschen glaubt, es steht euch zu, den Wald, und damit die Geschöpfe, die er beherbergt zu vernichten? Und er muss es erdulden? - Dieser Wald bedeckte einst fast das ganze Land. Die Menschen vermehrten sich, brauchten immer mehr Felder und Wiesen, um sich zu ernähren und fällten Baum um Baum. Der Wald ließ sie gewähren. Lange. Bis nur dieser Rest blieb. Eine Insel, wo noch einige Tiere und Pflanzen leben. Diese muss er verteidigen. Sein Fortbestand ist wertvoller, als das Leben eines Frevlers, der nicht an das Wohl derer denkt, die nach ihm kommen. Der Wald kann auch für kommende Generationen ein Segen und ein Quell der Freude sein. Es liegt in deiner Hand, das Richtige zu tun!“
„Der Wald gehört mir nicht“, wandte Ursel ein.
„Mit welchem Recht besitzt ihr Sterblichen Wasser, Bäume, Erde, Wald? Das alles ist euch nur anvertraut. Bewahre diesen Wald!“
„Wie soll ich das machen?“
„Du findest einen Weg.“
„Wer bist du?“
„Man gab mir schon viele Namen. Sie bedeuten Bewahrerin.“
Vielleicht dachte sie diese Worte nur, denn die Erscheinung überquerte langsam die Lichtung und verschwand im Grün. Ursel verharrte lange unbeweglich.
„Unmöglich. Einbildung. Traum“, beteuerte ihr erschütterter Verstand.
Ursel schlief tief und traumlos in dieser Nacht. Am Morgen bei einem kargen Frühstück, wusste sie, nichts mehr war wie zuvor. Auch wenn sie sich einredete, alles sei ein Traum gewesen. Ihr Leben erschien ihr sinnlos und leer. Keine vertrauten Freunde, weder Liebe noch Leidenschaft, kein Risiko. Bis gestern hatte sie nie erlebt, was Glück ist. Glaubte sie jetzt deshalb, dieses Wäldchen sei etwas Wichtiges, ihr Anvertrautes? Ursel wunderte und ärgerte sich über ihre neuen, fremden Gedanken und versuchte erfolglos, sie abzuschütteln. Warum sollte dieses Wäldchen unbedingt abgeholzt werden, um Bauplätze zu schaffen? Gab es nicht genügend andere Plätze? Und waren sie denn auf das Geld angewiesen, das die Firma ihnen gezahlt hatte? Waren sie glücklicher, oder ging es ihnen besser, konnten sie das Leben ihrer Mutter verlängern, wenn sie diesen, zugegebenermaßen stattlichen Betrag, hatten? Nein.
Sie bemühte sich behutsam, ihre neu gewonnene Erkenntnis ihrer Mutter am Telefon zu erläutern. Diese brachte kein Verständnis für Ursels Meinungsumschwung auf, und erwartete eine Erklärung. Ursel aber scheute sich, von der geheimnisvollen Begegnung im Heidenwäldchen zu berichten.
„Was schlägst du nun vor, du willst doch nicht etwa den Verkauf dieses unseligen Grundstücks rückgängig machen?“
Genau dies war Ursels Absicht.
Am Nachmittag wollte sie noch einmal dieses märchenhafte Fleckchen Erde besuchen. Auf der Straße begegnete ihr der Naturschützer. Er nickte ihr zu und ging an ihr vorbei. Ursel bedauerte, dass sie ihn so unfreundlich behandelt hatte. Sie rief ihm nach und berichtete von ihrem Wunsch, den Verkauf des Heidenwäldchens rückgängig zu machen. Vor allem um die wunderschöne Lichtung sei es schade.
„Welche Lichtung? Es gibt dort keine Lichtung, nicht mal eine kleine“, wunderte sich Peter Rost.
Befremdet blickte Ursel ihn an. Sie war bei ihrer ersten Exkursion zwar auch nicht darauf gestoßen, doch er kannte angeblich diesen Wald wie seine Westentasche. Sie schlug den selben Weg ein, der sie auf die Lichtung geführt hatte und durchquerte das ganze Waldstück ohne Erfolg. Verbissen trabte sie abermals den grasigen Weg entlang – vergeblich. Der traumhafte Ort blieb unauffindbar. Nun tat sie etwas, das ihr normalerweise ganz und gar widerstrebte: sie nötigte den Bewohnern der angrenzenden Häuser, die in ihren Gärten wühlten, eine Unterhaltung auf und lenkte das Gespräch auf den Heidenwald. Ja, in alten Zeiten geisterte eine Sage über einen geheimnisvollen, verzauberten Platz im Heidenwald durch das Dorf. Vielleicht ein Heiligtum einer längst vergessenen Gottheit. Aber diese geheimnisvolle Lichtung existierte schon längst nicht mehr.
Am nächsten Tag fuhr sie nach Hause zurück, wieder ein Rätsel im Gepäck. Alle Versuche, die Mutter zu bewegen, den Verkauf des Heidenwäldchens rückgängig zu machen, endeten mit bösem Streit. Die Mutter war überzeugt, der Verkauf sei einfach vernünftig. Was sollten sie um Himmels Willen mit einem Wald anfangen!
„Sieh mal, du bist alt, und ich, ich bin auch nicht mehr jung. Wir brauchen das Geld doch gar nicht. Dieser Wald ist uralt. . .“
„Ich will nichts mehr davon hören!“
Erbost über die Hartnäckigkeit sprach die Mutter nur noch das Nötigste mit Ursel.
An einem sonnigen Herbsttag folgten sie der dringenden Aufforderung der Phönix-Baugesellschaft zu einem Gespräch. Ursel hoffte, die Mutter würde einer Auflösung des Vertrags zustimmen, wenn sie mit der angebotenen Entschädigung zufrieden war.
Sie trafen zu früh ein, und die Mutter verlangte, das Wäldchen zu sehen. Ursel parkte vor dem Wald.
„Jetzt hilf mir beim Aussteigen!“
„Du willst aber jetzt nicht hinein!“, entfuhr es Ursel erschrocken.
„Mir scheint, du glaubst an diese albernen Geschichten! Gib mir meine Krücken! Ich gehe ein kleines Stück! Du kannst hier warten.“
„Es ist nichts Besonderes“, äußerte sie, als sie auf dem grasigen Weg stand. „Es ist ein Waldstück, wie jedes andere, zu klein, um ein richtiger Wald zu sein.“
Ursel betrachtete das leuchtend gelbe Laub unter dem seidig blauen Himmel. Langsam schwebten einige Blätter zu Boden.
„Es ist etwas Besonderes“, widersprach sie, fast gegen ihren Willen. „Es ist etwas Wichtiges, ein Geheimnis, vielleicht etwas Heiliges, in diesem Wald.“
„Deine Phantasie geht mit dir durch.“
Die Mutter schüttelte unwillig den Kopf und wandte Ursel den Rücken zu. Vor ihr lag ein Stück glatten, ebenen Weges. Ursel wurde das Herz schwer. Sie sah den fallenden Blättern zu und dachte: „Dieser Wald darf nicht verschwinden! Er wird sich wehren!“
„Mutter! Komm zurück!“
Ursels Mutter ging unbeirrt weiter. Plötzlich gab der Boden unter ihren Füßen nach, und sie sank bis in die Knie in die Erde. Entsetzt schrie sie auf. Als Ursel herbei hastete, steckte sie schon bis zu den Hüften in der rutschenden Masse. Ursel packte sie an den Händen und hielt sie mit aller Kraft fest, doch unerbittlich zog es die Mutter nach unten. Der Heidenwald verschlang sie. Die Tochter konnte sie nicht retten. Nun umgab sie das Erdreich bis zu den Schultern. Ein winziger Hoffnungsstrahl durchzuckte Ursel.
„Versprich, dass du aus dem Vertrag aussteigst!“, brüllte sie. „ Sofort! Schnell!“
„Lass mich nicht los! Ich verspreche was du willst!“
„Schwöre!“
„Ja, ja! Ich schwöre!“
Mit einem Mal ließ der Sog nach, und Ursel schaffte es, ihre Mutter aus der tödlichen Umklammerung zu befreien.
Mit zitternden Knien wankten die beiden zum Auto.
„Sag jetzt bloß nichts! Ich will nichts hören!“
Ursel sah sich ohnehin außerstande, irgend etwas zu äußern.
„Dein Versprechen?“, murmelte sie nur.
„Mach was du willst. Mir ist es egal.“
Ursel wurde Eigentümerin des Heidenwäldchens. Sie dachte unablässig an diesen Ort. Das Bewusstsein, dass er nun ihr gehörte wärmte und freute sie. Mit klopfendem Herzen schlich sie an einem Sonntagmorgen in das Wäldchen. Wie ein Wunder öffnete sich ihr die uralte, längst verschwundene Rodung. Danach warf Ursel Bedenken und Vernunft über Bord. Sie richtete Ottos Haus nach ihrem Geschmack, kümmerte sich um den verwilderten Garten und verbrachte Urlaub und Wochenenden dort. Sie trat dem Naturschutzverein bei, der nach ihrem Tod für die Pflege und den Erhalt des Waldes zu sorgen hatte. Dank Paul Rost lernte sie nette Leute kennen, fand Freunde.
Die Mutter schwieg zu den ungewohnten Aktivitäten der Tochter. Sie begleitete Ursel sogar immer wieder zu dem alten Gehöft. Gespräch und Besuche der Nachbarn gefielen ihr ganz gut, wie die Tochter erfreut bemerkte. Dem Heidenwald aber näherte sie sich nie wieder.
Ursel saß oft in der Lichtung, die sich auftat, wenn sie allein in das Wäldchen kam. Hier fühlte sie sich glücklich, hier war ihr Heimat. Die geheimnisvolle Hüterin des Waldes zeigte sich nicht wieder, Ursel aber spürte, sie war da. Und eines Tages würde sie ihr lächelnd die Hand reichen und in das Herz des Waldes führen, wo sie für immer geborgen sein würde.