Der harte Weg zum Miteinander
Um 19:06 Uhr nimmt Carolin den Bus um, wie geplant, exakt 8 Minuten nach 20:00 Uhr das Restaurant zu betreten. „Er soll nicht denken, dass ich denke, ich läge Wert darauf, dass er pünktlich zu sein hat. Nur nicht einengen die Männer. Nein, ich habe viel Besseres zutun als hier pünktlich erscheinen zu müssen.“
Sie betritt das Restaurant und sieht Oliver. Sofort sieht sie ihn. Er sitzt an einem Tisch in der hinteren Ecke des Restaurants gleich neben der Bar. Er hat bereits etwas zu trinken bestellt und liest die Weinkarte. Er trinkt Wasser. Sehr zurückhaltend. Noch keinen Alkohol. Innerhalb einer knappen Sekunde mustert Carolin ihn vollständig. Er trägt ein Sakko, ein schwarzes, ziemlich edel. Binnen Sekunden schießt ihr zum ersten Mal der Schweiß auf die Stirn. „Er wird mich für eine Nutte halten. Ich sehe aus wie eine Nutte!“ Sie hält kurz inne. „Kann ich noch weg?“ Oliver schaut auf und lächelt sie an. Carolin blickt so schnell weg, wie sie kann. „Na, perfekt – 100€, Süßer?“ flüstert Sie vor sich hin und versucht möglichst ungezwungen und wahllos den Blick schweifen zu lassen. „Er darf nicht merken, dass du ihn schon gesehen hast. Er wird denken, du willst ihn angaffen“, sagt sie sich und setzt einen reichlich schlecht geschauspielerten suchenden Blick auf. Sie wandert künstlich unbeholfen, ihren Mantel ausziehend, durch das kleine Restaurant. „Nun ruf schon hier, verdammt“. „Carolin, hier drüben.“ erlöst er sie und steht auf um sie zu begrüßen. Charmant berührt er ihren Rücken mit seiner rechten Hand und küsst ihre Wangen zur Begrüßung. „Das hättest du wohl gerne, hier schon rumfummeln“, denkt sich Carolin – „Pff, wem machst du was vor? Du kannst doch nur froh sein wenn er mal fummeln will“ gesteht sie sich ein. Sie wird leicht rot.
Die beiden setzen sich. Carolin hängt ihre Handtasche an ihren Stuhl und starrt unsicher auf die Plastik-Deko-Blume auf dem Tisch und wagt es nicht den Kopf zu heben. „Oh mein Gott - Stille. Er sagt nichts, warum nicht? Sagst du was? Nein! Lass ihn, oder? Er findet dich hässlich. Warum hast du nicht das andere Kleid angezogen? Warum nur?“. „Du siehst toll aus“ sagt er schließlich charmant während er den Blick mit einem verschmitzten Grinsen nicht von Carolins panischem Gesicht nimmt. „Oh ja, sicher. Ich seh‘ gut aus…äh ich meine ja, natürlich du aber auch. Gut. Ja.“ stammelt sie. Er lächelt. Sie schwitzt.
„Schweiß! Scheiße!“ drischt es in Carolins Hirn. „Du stinkst die ganze Bude voll. Er wird sich ekeln. Sind das Schweißflecken?“. Wieder die Blume. „So, da bin ich ja froh dass wir endlich mal einen Termin gefunden haben für das Essen hier. Ich hoffe du hast ordentlich Hunger mitgebracht?“. Carolins Magen bricht in schallendes Gelächter aus. Ihr Hunger war seit Wochen eigentlich nur noch durch ihren eiserenen Willen und harte Disziplin irgendwie aushaltbar gewesen. „Aber ja, natürlich!“ erwidert sie erstaunlich glaubwürdig. Krampfhaft müht sich Carolin ein weiteres Lächeln ab. „Zeig ihm deine Ohrringe. Er muss deine Ohrringe sehen“. Carolin war gestern Ohrringe kaufen. „Die machen ihn sicher an“ hatte Sabrina ihr geraten. „Männer stehen auf große Ohrringe, das erinnert sie an ihre Mütter, und du weißt schon, Freud und so.“ Vollkommen ohne erkennbaren Grund wirft Carolin mit ihrer leicht zitternden Hand ihre braunen Haare in einem ausladenden Schwung rechts am Kopf vorbei nach hinten. Eine Strähne verfängt sich dabei ungünstig zwischen ihrem Ring und ihrem Finger. Sofort gibt ihre Kopfhaut nach und ein beachtliches Büschel Haare hängt mitsamt Bewurzelung an ihrem Finger. „Hat er das gesehen? Scheiße, mach das ab. Blute ich? Oh Gott!“. Oliver liest vertieft die Speisekarte. Die Panik macht sich genauso schnell breit, wie der heiße Schmerz auf ihrer Kopfhaut. Sie spürt, wie Tropfen hinter ihrem Ohr herunter rollen. „WEG! Sofort!“ Carolin springt auf. Ihre Kniekehlen schießen den Holzstuhl auf dem Parkettboden nach hinten. Ein lauter Knall. Das Pärchen am Nachbartisch dreht sich erschreckt um. „Ich ich mach mich kurz saub...ich geh‘...ich mache... frisch!“ stammelt Carolin. Oliver, der sich ebenfalls erschreckt hat, blickt hinter der Karte auf und nickt leicht verunsichert. Carolin hechtet leicht geduckt, ihre Hand unnatürlich an ihre Schläfe gedrückt, in einem großen Rechtskreis durch das Restaurant, sodass Oliver nicht die blutende Seite erkennt in Richtung Damentoilette.
Entsetzt kämpft sie gegen die Tränen an, während Sie vor dem großen Spiegel steht und ihre Blutung zu stillen versucht. „Beeil dich, es muss schnell gehen. Sonst wird er denken du musst mal länger. Frauen machen das nicht, es muss wie pinkeln aussehen. Pinkeln geht schnell.“ In Rekordzeit wischt sie sich die blutenden Stellen aus den Haaren. Fertig. Sie blickt sich im Spiegel selbst tief in die Augen und sagt sich verschwörerisch „Mach mir jetzt bloß keinen Strich durch die Rechnung, sei einfach normal und hör‘ endlich auf du selbst zu sein!“
Mit neuem Mut wirft sie die Toilettentür auf und kehrt erhobenen, jetzt wieder unversehrten, Hauptes zurück an den Tisch. Oliver erwartet sie bereits. „Weißt du schon, was du essen möchtest oder darf ich mir erlauben für dich zu bestellen?“ begrüßt er sie zurück. „Ich kenne hier einige ausgezeichnete Gerichte - Wir sind hier oft geschäftlich essen“. „Selbstverständlich, das wäre toll“ entgegnet Carolin. „Bist du wahnsinnig? Was, wenn er Fleisch bestellt? Sag ihm dass du kein Fleisch isst! Vegetarier mag niemand, hat Mutter gesagt. Er wird dich für’n Öko halten. Lass ihn nicht für dich aussuchen. Los! Sag was!“. „Gegrillte Dorade in Salzkruste“ wäre zum Beispiel wirklich eine gute Empfehlung“, sagt Oliver. „Fisch! Gott sei Dank!“ Carolin atmet auf „Siehst du: Fisch! Halb so wild“. Der Kellner kommt um die Bestellungen aufzunehmen. „Wir nehmen beide das Kobe Rind, blutig mit Trüffelpaste“. Carolin muss würgen. „Überraschung!“ ruft Oliver und strahlt. „Hier darf man eigentlich nichts anderes bestellen. Japanische Köstlichkeit! Du wirst begeistert sein“. „Oooh“ Carolin schaut ihn entzückt an. Sie hat Tränen in den Augen. „Wie interessant.“ flüstert sie ihm gequält zu.
„So, also, dann erzähl doch mal“ beginnt Oliver „was beschäftigt dich denn so“ erkundigt er sich aufrichtig interessiert. „Was ist das denn für ‘ne Frage? Sicher eine Falle. Sei auf der Hut Mädchen, sei auf der Hut!“ „Och, so dies und das“ sagt sie und lächelt zufrieden „Guuut gelöst, Carolin, sehr diplomatisch“ befindet sie zufrieden.“So kriegt er dich nicht klein!“. Oliver lacht. „Wieso lacht der?“ Er schenkt ihr etwas Rotwein nach. „Und was soll das denn jetzt? Er erträgt dich nur betrunken!“ sie spürt wie ihre Augen wieder feucht werden.
Sie schweigen sich eine Weile an. Er lächelt unentwegt, Carolin harrt angespannt der Dinge, die noch kommen sollen. Noch bevor sie sich mit der zentralen Frage der methodischen Lösung des Essen-Vermeidens auseinandersetzen kann, wird auch schon serviert. Da liegt es nun also vor ihr, in seinem eigenen Blute nachschmorend. Kobe Rind in Trüffelpaste. Für Carolin einfach nur Kuh. Fleisch. Der Feind. „Kuh! Lass dir was einfallen.“ Sie stoßen erneut an und Oliver beginnt das erste Stück abzuschneiden und steckt es sich mit einem genüsslichen „Köstlich!“ in den Mund. „Wenn du jetzt kneifst, ist es vorbei. Er wird für immer gekränkt sein. Das hier ist zentral wichtig. Zu Recht!“ Feierlich kapitulierend ergreift Carolin das Besteck. Ihr Magen krampft. „Das ist ‘ne verdammte Köstlichkeit. Köstlichkeit! Iss das jetzt!“. „Stimmt was nicht?“ erkundigt sich Oliver. Ohne weiter zu zögern schneidet Carolin ein großes Stück ab und steckt es sich in den Mund. Sie blickt Oliver in die Augen. Ihr rechtes Unterlid zuckt. Sie nickt ihm zu und befindet „Wirklich köstlich!“. Zufrieden senkt er den Blick um sich der Trüffelpaste zu widmen. Carolin kämpft derweil weiter den inneren Kampf der Prinzipien. Vorsichtig ertastet sie das ehemalige Lebewesen mit der Zunge. Er blickt auf, sie schaut ihm in die Augen „Du musst Opfer bringen, Mädchen. Es wird von dir erwartet. Es ist deine Pflicht. Tu‘ was von dir verlangt wird. Denk‘ an Mutter!“. Sie schluckt und lächelt. Anschließend wird ihr kurz schwarz vor Augen. Sie schmeckt das Blut zwischen ihren Zähnen, an ihrer Zunge. Das Fleisch außen heiß und in der Mitte kalt und saftig. „So schlecht ist es doch gar nicht. Wie Salat, oder?“ lügt sie sich an und beginnt in gleichbleibenden Abständen das Stück Fleisch zu zerteilen und mechanisch sukzessive zu vertilgen. „Schmeckt’s dir?“ fragt Oliver beiläufig. „Großartig, einfach toll. Danke für die Überraschung“. Sie strahlt ihn an. Er ist zufrieden.
Als der Kellner zum Abholen der Teller erscheint, hat Carolin alles aufgegessen. „Ich glaube meine Schminke ist verlaufen“ redet sie umgehend los. „Also ich kann nichts erken…“ „Doch, doch, ich werd‘ mich rasch wieder hübsch machen“ Carolin verschwindet umgehend erneut auf die Toilette. „So, denk‘ dran, kurz und knackig.“ ermahnt sie sich und erbricht die japanische Köstlichkeit lautstark in die hinterste Toilette. Katharsis. „Wenn er noch Dessert bestellt, verzweifle ich“.
Als Carolin erneut von der Toilette zurückkehrt, bemüht Sie sich angestrengt ihr Lächeln wiederzufinden. „Das ganze ist es hoffentlich irgendwann einmal Wert gewesen“ flüstert sie auf dem Weg durch das Restaurant.
Sie wirft einen Blick auf die anwesenden Pärchen. Sie sieht die Männer, wie sie mit ihren verträumten Blicken die Frauen ihnen gegenüber ansehen. Und sie weiß, wie diese Frauen arbeiten. Wie sie sich vorbereiten, nachbereiten, aufbereiten um diesen gedankenlosen Männern das beruhigende Gefühl von Geborgenheit und die authentische Illusion eines per sé unmöglichen harmonischen Miteinanders zwischen Mann und Frau vorgaukeln. „Entscheidend ist nur, wer zuerst die Kompromisse eingeht“ weiß sie.
Sie kehrt zurück zu ihrem Tisch und setzt sich. Oliver rutscht scheinbar nervös auf seinem Stuhl hin und her. „Was hat er denn? Hab ich was falsch gemacht?“ Plötzlich legt er die Serviette beiseite und greift in seine Jackettasche. „Was wir das denn?“ fragt sich Carolin. Zum Vorschein kommt ein kleines schwarzes Döschen. „Er wird doch nicht…“ Unglauben macht sich breit. Oliver erhebt sich und fällt zu ihrer Seite auf die Knie. „Lieber Schatz“ beginnt er, „wir sind nun seit 7 Jahren ein rundum glückliches Paar. Du bist wahrhaft die Frau meiner Träume. Du verkörperst alles, was sich ein Mann wünschen kann. Willst du mich heiraten?“
Carolin schließt die Augen. Nichts war umsonst. Sie ist am Ziel.
„Zeit den Spieß umzudrehen!“