Der Hamster in Dir
Maurice starrte benommen aus einem geöffneten Fenster, dessen Hintergrund sich von Moment zu Moment veränderte und das in dem einen Augenblick verschlingendes Schwarz, im nächsten wieder diffuses verzerrtes Glühen darbot. Seine kurzen schwarzen Haare zitterten dramatisch im von außen hereinwehenden Wind und erweckten dabei den Eindruck einer verdorrten und zuletzt abgebrannten Kuhwiese. Zumindest versuchten sie das. Zur Perfektion fehlte noch eine verdorrte und zuletzt abgebrannte Kuh.
Das unermüdliche Wechselspiel des lebendigen Bildes des Fensters in seinem Blickfeld, erinnerte ihn an seinen alten Fernseher, welcher damals ebenso vergessen zu haben schien was er war und was er zu tun hatte, was sich darin äußerte, dass dieser, wenn überhaupt noch etwas, dann verwirrende Ansammlungen schwarzer und weißer Punkte zeigte, in denen Maurice nur selten einen ausreichenden Sinn fand um länger als eine halbe Stunde davor stehen zu bleiben.
Ein guter, und so wie er sich selber gerne darstellte, technisch ungemein versierter Bekannter, hatte ihm damals empfohlen sich einen Spezialisten für derartige Probleme kommen zu lassen, doch Maurice lehnte dankend und traurigen Blickes ab.
Lebendige blaue Augen schienen in dem Moment, des technisch ungemein versierten Bekannten Seele zu ertasten. Zäh floss die Zeit um die beiden herum als Maurice Lippen sich behutsam öffneten um ebenso behutsame Worte hindurchzulassen.
„Alles in meinem Leben, so wie auch Du Teil meines Lebens bist, hat seine eigene Zeit. Es hat seinen eigenen Anfang und ein nicht minder individuelles Ende. Ganz zu schweigen von dem Abschnitt der sich dazwischen verbirgt. Und wenn dieses Ende, entgültig in seiner Form, den Ort erreicht, an dem Du Deine Existenz beschreitest, wäre es schlicht töricht sich ihm in den Weg zu stellen. Du würdest diese Zeit behindern, Du würdest verhindern, dass sich ein Bogen zu einem Kreis schließen, dass aus barer Schönheit pure Vollkommenheit werden kann.“
Maurice versuchte den offensichtlich verwirrten, wenn auch eindeutig technisch versierten, Blick seines Gegenübers zu erfassen, ehe er schon kurz darauf traurig und seine Augen schließend das Gesicht dem Boden zuwendete.
Gedankenfluten rasten wie surfende, kalifornische, braungebrannte Muskelmänner mit mindestens zwei ebenso braungebrannten kalifornischen Busenwundern auf ihren Rücken durch seinen Kopf, während der Blick des Bekannten darauf hindeutete, dass sich dahinter höchstens eine Gedankenpfütze ähnlich einem zu oft benutzen Kinderplanschbecken im Hochsommer verbarg, welches einen verzweifelten Weg aus überaus großen Ohren suchte, weil das Gehirn im Begriff war sich selbst zu erwürgen.
Die Flut seiner Überlegungen spülte Maurice zu seinem Fernseher, wo seine Hand das Kabel aus einer dunkelblauen Steckdose entfernte um danach gemeinsam mit der anderen und der Hilfe der daran anschließenden Arme, das altertümliche Gerät anzuheben, zur Balkontür zu tragen und über das Geländer zu werfen.
Einen tragischen Augenblick später erging sich der Fernseher in einem lauten unabwendbaren Schicksal, begleitet von einem kurzen markanten Schmerzensschrei.
Maurice drehte sich wieder seinem Bekannten zu und lächelte.
„Siehst Du? Aus einem Bogen, wurde ein Kreis.“
Maurice lächelte noch breiter, hob die rechte Augenbraue scheinbar bis zur Mitte seiner Stirn und bedachte seinen Bekannten mit einem verschmitzten Blick.
„Bogen. Kreis.“
Interessiert betrachtete er das ihn ungläubig anstarrende Gesicht seines Bekannten, fand aber außer einer verblüffenden Ähnlichkeit mit einem dem Tode geweihten Kaninchen nicht wonach er suchte.
Wie so oft, wie er sich in diesem Moment erneut bewusst wurde.
Maurice sah viele Dinge; und die meisten davon in vielerlei Hinsicht anders.
Anders als die meisten Menschen die sich in der Welt bewegten die er wahrnahm, betrachtet er seine Umwelt nicht entlang ihrer sichtbaren Linie, sondern unterhalb davon.
Kaum merklich einer, wie er meinte, stupiden Realität entrückt, die sich nach und in seinem Handeln formte.
Dabei kam es gelegentlich vor, dass er bei der Betrachtung der Unterseite der Wirklichkeit den oberen Teil übersah.
Er genoss den kühlenden Luftzug der sein Gesicht liebkoste und an der Nase vorbeiziehend, seine Ohren passierend, ein eigentümlich schönes und sanftes Geräusch in seine Welt rief.
Maurice schaute mit einem milden Blick auf seine Hand.
„Weißt Du eigentlich das, na ja, sagen wir, Schwarz nicht unbedingt Schwarz ist? Kannst Du Dir vorstellen, dass die Nacht in die wir schauen, so viel mehr enthält als nur fehlendes Licht? Das Schwarze der Nacht ist durchflutet mit dem Flüstern eines beständig voranschreitenden Lebens, in dem sich in und auf der Dunkelheit treibend Angst und Hoffnung, Trauer und Freude, Hingabe und Verlust, unzählige gefühlte Emotionen, erlebte Momente, befreite Gedanken und verschwitzte Körper bewegen.
Und wenn Du anstatt Deiner Augen Deine Nase in die Nacht steckst, was denkst Du wirst Du riechen?
Nicht bloß die langsam herabsteigende Smogglocke des mittäglichen Berufsverkehrs oder den Gestank des vor zwei Stunden noch essbaren aber auf dem Herd stehen gelassenen Mitternachtssnacks der unter dir wohnenden Nachbarin. Nein, auch der Geruch der ausgesprochen lauten Vereinigung mit ihrem Nachbarn der dazu führte das der Mitternachtssnack sich untrennbar mit der Pfanne verband, wird darin zu finden sein. Du wirst den Duft des Lebens darin wahrnehmen und zugleich den geschichtenerzählenden Geruch der Vergangenheit erfahren.“
Das Spiegelbild seiner Lippen bewegte sich synchron mit seinen und warmer Atem kondensierte auf einer kalten Scheibe als er bei den letzten Worten seinen Kopf wieder hob.
Seine Hand folgte ihm und warf den darauf sitzenden panikerfüllten Hamster in hohem Bogen durch die Öffnung in eine neun Stockwerke tiefer liegende und von mit geschichtenerzählender, vor-sich-hin-duftender Vergangenheit durchtränkte Freiheit.
„Flieg, kleiner Hamster, flieg!“ rief er dem flugunfähigen Tier hinterher als dieses mit der Dunkelheit verschmelzend in einer malerischen, sternenerfüllten Nacht verschwand.
Er überlegte kurz und rief dann noch etwas lauter „Ich glaube Treib oder Schwimm passt in Anbetracht der Nacht ein bisschen besser in deine derzeitige Lage. Also Schwimm oder Treib kleiner Hamster! Ich bin mir sicher, du machst das richtige.“
Bei Tieren, dachte Maurice, nennt man das Instinkt.