Der Haken an der Nahrungskette
Anmerkung: UL3 bedeutet nicht, das dies der dritte Teil einer Fortsetzungsgeschichte ist, sondern die dritte Geschichte von mehreren, die nur thematisch zusammenhängen.
Der Haken an der Nahrungskette - UL3
Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen kämpfte sich Jürgen Verwech durch die Schlange der Wartenden, wobei er das Tablett mit den Fast Food Menüs routiniert an den anderen Menschen vorbeibalancierte. Im Vorbeigehen griff er sich einige Röhrchen sowie zwei Servierten. Nachdem er auch noch einem leicht hysterischen Kind, das lauthals kreischend an ihm vorbeirannte und ein quietschbuntes Spielzeug schwenkte, ausgewichen war, angesichts des voll beladenen Tabletts eine nicht zu verachtende akrobatische Leistung, stand er vor dem Tisch, an dem Herr Kieser saß.
Durch seinen Anzug, seinen Aktenkoffer, seine Krawatte und seinen äußerst dezenten Haarschnitt hätte dieser fast seriös gewirkt, doch das Firmenlogo auf der Krawatte und das pausenlose Lächeln des vermutlich Fünfzigjährigen, das höchstwahrscheinlich die Atmosphäre des Gesprächs auflockern sollte, machten diesen Eindruck schnell und gründlich zunichte. Jürgen zögerte trotz der auffordernden Handbewegung seines Verhandlungspartners einige Sekunden, bevor er sich setzte, darauf erpicht die Kamera zu finden, die Kieser zu seiner Miene veranlasste. Enttäuscht, diese nicht entdecken zu können, nahm er schließlich doch Platz.
"Wenn sie jetzt ihr Mittagessen geholt haben, können wir ja auf das eigentliche Thema unseres Treffens zurückkommen."
Kieser ließ keine Sekunde von seinem aufgesetzten Gesichtsausdruck ab, der seine Verhandlungschancen bei Jürgen eher verringerte.
"Mein Mittagessen? Nein, ich kann sie doch nicht dazu zwingen mir beim Essen zuzusehen. Das zweite Menü ist selbstverständlich für sie."
Nun auch mit einem Breitbandgrinsen im Gesicht schob er dem Unglücklichen einen Pappbecher nebst Röhrchen, einen Burger und die sogenannten Pommes Frites zu. Dessen Lächeln rutschte nun leicht ins Gequälte ab.
"Wissen sie, ich habe schon etwas gegessen und..."
Das " ich habe keine Lust etwas das sie gekauft haben zu essen, man weiß ja nie" fügte er nicht laut hinzu. Es war das, was Jürgen von jeder Person mit ein wenig Verstand und Selbsterhaltungstrieb erwartete, aber bei einem Geschäftsgespräch war es nun mal einfach unpassend.
"Kommen sie schon, das Zeug hat doch eh keinen Nährwert. Sie wollen doch nicht meine Einladung ausschlagen?"
Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Langsam zog Kieser seine Speisen zu sich hinüber und begann sehr langsam damit, sein Röhrchen aus der Verpackung zu befreien. Sobald diese Aufgabe gemeistert war steckte er das Röhrchen in sein Erfrischungsgetränk, fuhr sich in einer nervösen Geste durch die stellenweise schon ergrauten Haare und knüpfte, ohne einen Schluck zu, nahtlos an das Gespräch an, das Verwech durch seinen Gang zur Kasse unterbrochen hatte, bevor es richtig beginnen konnte.
"Vor fünf Jahren kam es dann zum zweiten Vorfall dieser Art. Ein Restaurant in ihrem Heimatort war der Schauplatz dieses bedauernswerten Unfalls."
Aus einer Mappe zauberte er die Kopie eines aus der Zeitung ausgeschnittenen und mit Datum versehenen Bilds hervor, das Jürgen im Alter von 18 Jahren vor besagter Filiale des Schnellimbisskette zeigte. Er lächelte in die Kamera, sein kurzes braunes Haar sorgsam zurechtgekämmt. Bis auf den Haarschnitt hatte sich Jürgen seit der Aufnahme kaum verändert. Selbst die Brille trug er heute noch.
Der Archivar des Fotos hatte es allerdings sorgsam vermieden, die Schlagzeile der lokalen Zeitung mit auszuschneiden. Jürgen glaubte sich daran zu erinnern. Lebensmittelskandal im Schnellimbiss - Jugendlicher dem Tod knapp entronnen. Vielleicht war dies auch die Schlagzeile nach dem ersten Vorfall gewesen, so genau konnte er sich dann doch nicht mehr erinnern.
"Ja, das ist das Bild zum Zeitungsartikel. Das zweite Mal war es die Cola. Zuerst schmeckte sie nur ein bisschen komisch, doch plötzlich war das ganze Röhrchen verstopft. Ich habe dann natürlich genau untersucht was ich da trinke und so die Maus gefunden. Vermutlich hätte ich sie überhaupt nicht bemerkt, wenn ich nicht ihren Schwanz eingesaugt hätte."
Jürgen beobachtete wie Kieser seine Cola langsam aber bestimmt von sich wegschob.
"Und dann haben sie unsere Firma verklagt. Zum zweiten Mal."
"Ja natürlich. Erst die frittierte Ratte, dann diese Maus. Was hätten sie an meiner Stelle getan? Die anderen Vorfälle hingenommen, nur weil ich beim ersten Mal entschädigt wurde?"
Nach dieser hypothetischen Frage griff er zu seiner Cola und nahm durch das Röhrchen einen großen Schluck, der völlig normal schmeckte. Diesmal schien es also nicht das Getränk zu sein; somit blieben der Burger und die Fritten. Trotzdem hatte diese Aktion seinen Gegenüber deutlich erschreckt. Kiesers Gesicht war eine Spur weißer als noch einige Sekunden zuvor.
"Hey, die Cola ist ja richtig kalt. Sieht so aus als wäre wirklich nur Eis drinnen."
Kiesers Gesicht wurde eine Spur rosiger und er rutsche auf seinem Stuhl in eine etwas entspanntere Haltung.
"Natürlich ist es verständlich, dass sie uns verklagt haben. Was uns Sorgen bereitet ist, dass sie uns mittlerweile acht Mal verklagt haben, und sieben der Prozesse gewannen, was unsere Firma eine beträchtliche Summe gekostet hat. Ganz zu schweigen die Auflagen, die uns das Gericht erteilte, als sie fast an dem Kronkorken im Salat erstickt wären."
Er deutete auf die beiden Sanitäter mit den Partyhüten, die unter dem Schild mit der Aufschrift "Erste Hilfe" saßen und auf ihrem Erste-Hilfe-Koffer Karten spielten.
"Das Umschulen von Hilfskräften bzw. Einstellen von Sanitätern und das Installieren der Notrufknöpfe hat unsere Firma einige weitere Millionen gekostet."
"Sie können von Glück sagen, dass ich nicht beweisen konnte, dass ich das Vogelnest nicht schon vor dem Besuch in ihrem Laden geschluckt hatte. Sonst wären die Prozesskosten um einiges höher."
Kieser ging nicht darauf ein.
"Im allgemeinen sind unsere Kunden mit dem Service und dem Essen sehr zufrieden. Bisher hat kein Kunde eine Ratte in seinem Burger gefunden oder sich an einem Kronkorken verschluckt. Sie sind die einzige Person weltweit, die so etwas erleben musste."
Verwech nahm ein paar Fritten und stopfte sie sich in den Mund. Auch die schmeckten normal, und er nickte Kieser freundlich grinsend zu, als dieser wieder Rosig-Blaß-Rosig-Zyklus durchlief. Die Überraschung musste also im Burger stecken, oder mit einem bisschen Glück in Kiesers Menü.
"Ich bin einfach ein Pechvogel. Wissen sie, dass mir das auch in anderen Restaurants passiert? Sicher wissen sie das, sie haben ja die Unterlagen der Verhandlungen dabei. Egal was ich bestelle, wo ich es bestelle und wie streng die Küche auf die Hygiene achtet, irgendeine Überraschung finde ich immer in meinem Essen. Das ist schon seit meiner Kindheit so."
Die Untersuchungen hatten ihn auch von jedem Verdacht des Betrugs freigesprochen, und die Firma so in echte Schwierigkeiten gebracht, als diese beim dritten Vorfall behauptete, er hätte den Ring des Filialleiters gestohlen und dann mit seinem Donut zusammen geschluckt.
"Der Punkt ist, dass sie trotz dieser Vorfälle immer wieder ihren Imbiss bei uns einnehmen."
Jürgen hatte vermutet, dass diese Frage die zentrale Frage des Gesprächs war, zu dem das Unternehmen ihn schriftlich eingeladen hatte. Den Ort der Verhandlung hatte allerdings er gewählt. Als sie einwilligten wusste er, dass es ihnen ernst war.
"Wissen sie, so schlimm ist es gar nicht. Es ist ja nicht immer eine Ratte, die ich auf meinem Burger finde. Manchmal sind ist es nur Fetzen eines Taschentuchs im Salat oder ein bis zwei frittierte Zigarettenstummel unter den Pommes. Und nur einen Milchshake mit Erdebeergeschmack anstatt einen mit Schokogeschmack zu bekommen ist nun wirklich nicht der Weltuntergang. Aber auf die Dauer werden diese Prozesse doch etwas lästig. Und seit mein Anwalt einen Porsche fährt..."
Seine neuste Methode, um Mahlzeiten unbeschadet zu überstehen verschwieg er. Längere Testreihen hatten ergeben, dass meist nur eine Speise zu bemäkeln war. So bestellte er immer zweimal dasselbe, und schloss durch genauere Untersuchungen die Hälfte seines Essens aus, die ihm komisch vorkam, sei es durch Geruch, Farbe oder dem Ding, welches erfolglos versuchte, das Fleisch auf seinem Burger zu imitieren.
"Wenn ich sie noch ein paar Mal verklagen würde, könnten sie ihre Läden dichtmachen, oder?"
Wieder eine Frage, der Kieser keine Beachtung schenkte. So nahm Jürgen einen Bissen von seinem Burger, der sich als genau das entpuppte, was er sein sollte. Auch Kieser war etwas abgebrühter, er durchlief den Farbzyklus nun in einer etwas abgeschwächten Version.
" Unsere Firma ist auch am Wohlergehen ihrer Kunden interessiert. Deshalb denken wir, dass s vielleicht besser wäre, wenn sie in Zukunft eine andere Fast-Food-Kette beehren könnten. Natürlich verstehen wir, dass sie unsere überragende Qualität und unseren professionellen Service vermissen werden. Die Firma ist bereit, ihnen eine große Abfindung zu zahlen, wenn sie nie wieder in unsern Betrieben erscheinen."
Aus seinem Aktenkoffer zog er einen Vertrag hervor, den er Jürgen zum Lesen überreichte. Den Füllfederhalter zum Unterschreiben legte er griffbereit auf den Tisch.
Jürgen überflog den Vertrag und konnte keinen Haken finden. Nicht das er noch Geld brauchte, durch die Prozesse war er längst zum Millionär geworden, aber langsam hingen ihm die Burger zum Hals heraus, selbst die ohne "Extras".
"Dann ist ja alles in Ordnung."
Er nickte mit dem Kopf und griff nach dem Stift, noch bevor Kieser ihn herüberreichen konnte. Ohne Eile unterschrieb er das Schriftstück und setze seine Unterschrift auch noch unter ein Kopie.
Innerlich atmete Kieser vermutlich auf, nach außen hin verstärkte er aber nur sein Lächeln.
Jürgen steckte den Deckel wieder auf den Füllfederhalter, reichte Kieser einen Vertrag und steckte das zweite Dokument zusammengefaltet in seine Tasche.
"Auf Wiedersehen, Herr Verwech."
Der Verabschiedete blieb ruhig sitzen, entfernte den Deckel von seiner Cola und fordere Kieser auf, das Gleiche zu tun. Dieser folgte nach einigem Zögern und hob seinen Becher ebenfalls.
"Wir sollten wohl noch anstoßen. Auf das Unternehmen, Herr Kieser. Und darauf, dass solche Vorfälle der Vergangenheit angehören."
Sie stießen mit den Pappbechern an und nahmen einen tiefen Schluck. Jürgen fühlte sich danach zwar nicht so erfrischt, wie es die Werbung versprach, aber im Gegensatz zu Kieser musste er auch nicht husten. Mit einem zufriedenen Grinsen drückte Verwech den roten Alarmknopf unter dem Tisch. Durch das Heulen der Sirene aufgeschreckt ließen die Sanitäter ihre Karten fallen und eilten zum Tisch, wobei sie Schwierigkeiten hatten, an den Gaffern vorbeizukommen, die den mittlerweile blau angelaufenen Geschäftsmann anglotzten. Jürgen wartete bis Kieser den Frosch nach einigen Bemühungen der Sanitäter, die mit ihrem ersten Einsatz zurechtkommen mussten, ausgespuckt hatte und verabschiedete sich dann. Seinen angebissenen Burger und die erkalteten Pommes ließ er liegen.
Als er aus dem Gebäude trat, verspürte er ein leichtes Hungergefühl, hatte er doch seit dem Frühstück nur ein paar Bissen zu sich genommen. Obwohl er sich an einen unangenehmen Vorfall mit einer knusprig gebratenen Katze erinnerte, hatte er Lust auf Hühnchen. Pfeifend machte er sich auf den Weg und versuchte, sich an die Telefonnummer seines Anwalts zu erinnern.