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Der Haken am Fenster
Nigg Sorgenreit pustete Rauch aus seinem Fenster und sah erschrocken einen Angelhaken vor seinem Gesicht hängen. Er baumelte frech von seinem Dachsims herunter und hing Nigg auf Augenhöhe. Weißes Mondlicht funkelte im Widerhaken der gewölbten Spitze.
In der Annahme, dass dies wohl ein schlecht gemeinter Scherz eines Nachbarjungen sei, zog Nigg einmal an dem Garn des Hakens. Es gab tatsächlich ein Stück nach, schien aber dann in festen Händen, auf dem Dach, festgehalten zu werden.
Nigg rauchte auf, schüttelte zornig den Kopf und rief:
„Wer auch immer da oben auf meinem Dach sitzt, du hast fünf Minuten. Dann rufe ich die Polizei.“
Er bekam keine Antwort vom Dach, also reckte Nigg sich, so weit wie es ging, über die Fensterbank hinaus, um einen Blick auf den komödiantischen Nachtangler zu werfen. Vielleicht war es Ricki oder Wicki oder wie auch immer dieser zwölfjährige Junge aus seiner Straße hieß.
Aber so weit sich Nigg auch aus dem Fenster lehnte, eine Gestalt war auf dem Dach im Dunkeln nicht zu erkennen.
„Fünf Minuten“, rief er ein weiteres Mal, als ob die Zeitspanne seiner Drohung die Drohung bedrohlicher werden ließe. Dann schloss er das Fenster und lenkte sich mit dem nächtlichen Fernsehprogramm ab. Eine Dauerwerbesendung über beschichtete Bratpfannen. Nigg war mehr als fasziniert. Er sah sich die Sendung unbewusst durch die Reflektion seiner Fensterscheibe an. Der Haken war immernoch da. Glänzte, funkelte, baumelte.
Drei Minuten waren vergangen und Nigg riss sein Fenster ein zweites Mal auf, über der rechten Hand einen Topfhandschuh, zum Schutz vor dem kleinen, bösen Widerhaken.
Nicht mir mir, dachte er sich, zündete sich eine weitere Zigarette an und blies kleine Ringe Richtung Dach, wie die Rauchzeichen eines in den Krieg ziehenden Indianers.
„Findest du das witzig?“, fragte Nigg nach oben. Keine Antwort.
„Micki war dein Name, nicht wahr?“ Keine Antwort.
„Deine Eltern werden ziemlich sauer auf dich sein, wenn ich die Polizei rufe.“ Keine Antwort.
Nigg griff mit dem Topfhandschuh nach dem Haken und stupste ihn sanft nach unten, als würde er an dem Glöckchen einer Gartenpforte läuten.
Der Haken gab nach und wurde dann abrupt festgehalten.
„Hey Kleiner, hast du mich geh-A-rt?“ Er hatte 'gehört' sagen wollen, doch die enorme Kraft, mit der der Angelhaken plötzlich in die Höhe gerissen wurde, hatte Nigg um ein Haar den Arm ausgerenkt. Er verschluckte fast seine Zigarette. Ein wildes Surren ertönte auf dem Dach, wie das heftige Einholen einer Angelspule.
„Kleiner Mistkerl!“ Nigg zerrte wie ein Wahnsinniger an der Sehne, ein Knie gegen den Heizkörper unter dem Fenster gestemmt, die freie Hand, wie einen Seestern, mit den Fingern gegen die Wand gespreizt. Der Junge war unglaublich stark für sein Alter. Er musste eine dieser selbsteinholenden E-Spulen haben und eine Rute aus steifem Carbon.
Nigg hatte dem Spaßmacher einen Strich durch die Rechnung ziehen wollen und sah sich nun einer unabwendbaren Niederlage entgegen. Er wusste selbst nicht recht, warum er so darauf beharrte, dieses Kräftemessen noch gewinnen zu wollen. Ein einziger, troziger Gedanke vernebelte ihm jegliches rationales Denken: Meinen Topfhandschuh bekommst du nicht!
Niggs linker Fuß verließ den Boden. Hätte er sich nicht wie ein Affe ans Fenster geklammert, wäre er jetzt nach Draußen gezogen worden. Vor Anstrengung knirschte er mit den Zähnen. Pulsierende Adern definierten sich unter der Haut an Niggs Halsansatz und Oberarmen. Die Spule surrte.
In diesem Moment bemerkte Nigg, dass er den Haken weder loslassen, noch, wie ein einarmiger Tauzieher, weiter an sich heran ziehen konnte. Der Zug war zu stark. Der Widerhaken hatte sich tief in den Stoff seines Topfhandschuhs gebohrt.
Nigg sah vier Meter hinunter Richtung Erdgeschoss. Er könnte sich in die Büsche fallen lassen, wenn es hart auf hart käme. Es würde weh tun. Oder würde ihn der zwölfjährige Junge wirklich bis auf das Dach hochziehen können?
„Ich reiß dir die Hammelbeine lang, wenn ich dich in die Finger kriege!“ rief er zornig.
Im Nachbarhaus gingen die Lichter an, weil er so laut schrie. Sein linker Fuß berührte wieder festen Boden. Der Topfhandschuh rutschte ihm mit einem reißenden Geräusch über den Handrücken, schnellte in die Luft und verschwand in der Dunkelheit.
Nigg stand fassunsglos, mit dem erhobenen, ausgestreckten, rechten Arm am Fenster. Sein Atem brannte ihm, wie heißer Teer im Hals. Er realisierte erst jetzt, dass ein junger Mann mit seinem Fahrrad die Allee vor seinem Haus hinaufschlenderte. Es war dieser Junge. Micki.
Micki gaffte ihn im Vorbeigehen an, nickte Nigg dann zu und grüßte ihn gelassen mit den Worten: „Mein Führer.“, ein Finger am Schirm seines Basecaps.
Nigg wurde rot und ließ schnell den rechten Arm sinken. Ein Hund bellte in der Ferne. Ein anderer Hund antwortete.
Unsicher sah er zu seinem Dach hinauf und dann wieder zu dem Jungen namens Micki, der die Straße entlang spazierte.
„Mach bloß, dass du ins Bett kommst.“, rief Nigg ihm gehässig zu und knallte sein Fenster in den Rahmen.
Am darauf folgenden Morgen kletterte Nigg mit einer Leiter auf sein Dach. Er bemerkte, dass die Giebel neu ausgewechselt werden mussten und dass die Regenrinne allmählich wieder gereinigt werden sollte. Ansonsten fand er dort oben nichts.
Als er am Vormittag die Zeitung aufschlug, weckte dort eine Vermisstenanzeige seine Aufmerksamkeit. Autounfall auf der B105, hieß die Schlagzeile. Fahrer verschwunden, berichtete der Untertitel.
Auf der Bundesstraße 105 raste, in der Nacht zum Donnerstag, ein herrenloser VW-Golf in einen Baum am Straßenrand. Der 26 jährige Volker Wendel, auf den der PKW am Verkehrsamt Grevesmühlen gemeldet ist, wurde hundert Meter vor dem Unfallort, mit überhöhter Geschwindigkeit geblitzt. Angaben zufolge kam der Fahrer von einer Geburtstagsfeier aus Wismar und stand unter Alkoholeinfluss, als er dort in seinen Wagen gestiegen war. Auf dem Blitzerfoto (Zu sehen unten links) ist zu erkennen, wie der alkoholisierte Fahrzeugführer seinen Wagen, während des Beschleunigens, durch das heruntergekurbelte Fahrerfenster verlässt. Volker Wendel gilt momentan als vermisst. Wenn Sie Informationen haben ...
Nigg hörte auf zu lesen und sah sich das schwarzweiße Foto genauer an. Das Nummernschild war unkenntlich gemacht. Man hatte ein ziemlich gutes Bild vom Wagen. Nur der Fahrer war kaum zu erkennen. Der junge Mann hing noch bis zu den Kniesehnen im Fenster seines Wagens. Der Rest seines Körpers baumelte draußen aufrecht in der Luft, als würde er von einer unsichtbaren Hand aus dem Wagen heraus in den Himmel gezerrt werden.
In der darauf folgenden Woche häuften sich seltsame Schlagzeilen in Niggs Tagesblättern und Berichten im Nachrichtenkanal, die sich von den Szenarien, Orten und Personen der Betroffenden zwar stets unterschieden, aber von der Art und Weise eines sich wiederholenden Musters unheimlich ähnelten.
Altenpflegerin aus Wismar vermisst. Die Frau hatte sich an einer Tankstelle eine Schachtel Zigaretten gekauft und den Laden verlassen. Der Tankwart hatte draußen einen Schrei gehört. Die Frau war weg. Der Wagen stand noch mit offener Tür an der Zapfsäule, die Tankrechnung war gezahlt, die geöffnete Packung PallMall lag am Boden. Von der Altenpflegerin keine Spur.
Schauspielikone verschwunden. Der Mann hatte auf einer Grillparty Würstchen und Steaks gewendet, ein Feierabendbier in der Rechten, während in einem Gartenhaus, seine eingeladenen Gäste gelacht und gegessen hatten. Die Würstchen waren bereits schwarz wie Kohlen, als man bemerkte, dass der 48-Jährige verschwunden war. Sein Bier lag am Boden zerschellt. Man fand die Glasscherben, neben seinen Schuhen.
Nigg sammelte stumm die Artikel und notierte sich sämtliche Vorfälle, die in den letzten Tagen ganz Wismar heimzusuchen schienen. Er klebte sie alle an die Wand über seinem Bett und betrachtete an manchen, einsamen Abenden grübelnd sein Fenster, während der Wind draußen heulte.
In seinen Träumen saß Nigg vor seinem Fernseher und beobachtete sich selbst durch die Fensterscheibe seines Zimmers. Aus der dritten Person, wie ein heimlicher Besucher. Über dem Bildschirm flimmerten in lächerlicher Geschwindigkeit Berichte, die ihm Angst machten.
Stieftochter vermisst, Mann flüchtet aus fahrendem Taxi, Sportlehrer auf Sportfest verschwunden, Dreijähriger aus Kinderkrippe entführt, Zugführer verschwindet nach Ankunft in Wismarer Bahnhof. Massenverschwinden auf Universitäts-Campus. Der gebürtige Wismaraner und Sünder Nikolaus Sorgenreit verschwindet durch das Fenster seiner eigenen Wohnung.
Die Träume endeten stets gleich. Der Traum-Nigg saß auf seinem Couchsessel, das blendend grelle Licht des Fernsehers in seinem blassen Gesicht. Langsam drehte er dann immer seinen Kopf in Richtung Fenster. Seine müden Augen weiteten sich für einen Moment, als wenn sie etwas Grauenhaftes dort draußen entdeckten und dann wachte Nigg auf.
Am Freitag Vormittag verfolgte er einen Fernsehbericht und blickte dabei immer wieder vorsichtig zu seinem offenen Fenster. Draußen rumorten die kleinen Räder eines Skateboards über den Asphalt.
Ein Reporter sprach in ein bauschiges Mikrofon hinein, die linke Hand am Ohr. Der heftige Sturm blies dem Mann sein schütteres Haar über die Ohren und ließ seinen Mantel flattern.
… Ein Angelhaken. In einer Schwarzwälder Kirschtorte. Es ist kaum zu glauben, aber der 68-jährige Diabetiker Walter Moos beißt gestern am späten Nachmittag in ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte. Was er nicht ahnen kann? Ein Angelhaken befindet sich in der Torte. Ein Unbekannter zog an einer Sehne, die mit dem Haken befestigt war. Ein Szenario wie aus einem Horrorfilm. Die Polizei fahndet derzeit noch nach dem Täter. Walter Moos wurde an der Unterlippe durch seinen Garten gezerrt, bis die Haut letztendlich nachgab. Nach einem Herzinfarkt liegt der Mann nun auf der Intensivstation ...
Die Skateboardräder stoppten abrupt und ein Junge schrie draußen auf. Nigg rannte zum Fenster und blickte auf die Straße. Alles was er noch sah, war ein auf dem Rücken liegendes, einsames, rotes Skateboard auf der Straße. In den Büschen dahinter raschelte etwas. Dann war alles wieder still.
Es war der Junge gewesen. Michael Hammer. Micki hatte alleine Skateboardtricks auf der Straße geübt. Spurlos verschwunden. Seine Eltern hängten Vermisstenanzeigen, mit Telefonnummer-Reißzetteln, an Straßenlaternen.
Nach drei Wochen rauchte Nigg nicht mehr an seinem Fenster. Er las keine Zeitungen mehr. Die Nachrichten waren voll davon. Im Fernsehen kam nichts anderes mehr.
Angelhaken über Wismar. Sie sind überall. Niemand weiß, wo sie hinführen. Versuchen Sie nicht die Sehnen zu durchtrennen. Zwecklos. Entfernen Sie die Haken, so schnell wie möglich. Im Notfall rausreißen. Achten Sie auf spinnennetzdünne Fäden. Nehmen Sie sämtliche Nahrungsmittel gründlich auseinander, bevor Sie sie zu sich nehmen. Verzichten Sie auf alkoholische Getränke. Die Haken stecken unter Schraubverschlüssen, Kronkoren und Etiketten. Halten Sie sich von Zigaretten fern. Die Haken stecken im Tabak. Passen Sie darauf auf, wo Sie hintreten. Gehen Sie nachts nicht vor die Tür. Untersuchen Sie das Inlett von Kleidungstücken, vor dem Tragen. Wechseln Sie ihre Bettwäsche vor dem Schlafengehen sorgfältig. Fahren Sie vorsichtig, mit geschlossenen Fenstern. Machen Sie. Tun Sie. Lassen Sie. Hören Sie am Besten einfach auf. Überall steckt irgendwo ein Haken drin, der Sie mitreißen will.
Es war ein kühler Morgen in Wismar, obwohl die Luft sich kaum von der Stelle zu bewegen schien. Nigg zog sich vorsichtig einen Angelhaken aus der Hautfalte zwischen kleinem Finger und Ringfinger. Er hatte ihn noch rechtzeitig bemerkt. Der Haken war im Ärmel seines Mantels gewesen und hatte sich in seine Hand gebohrt, als er mit dem Arm hindurchschlüpfen wollte.
Er machte sich auf den Weg zur Arbeit, die Hände tief in den Taschen vergraben und den Kragen hochgesteckt. Menschen passierten seinen Weg, ohne ihn zu grüßen. Niemand machte mehr gerne den Mund auf. Ein Haken im Mund war das Unangenehmste.
Wenn man sich nur genau konzentrierte, sah man die kleinen Stahlspitzen überall. Sie hingen über den Straßen, lagen auf dem Boden, manche bewegten sich sogar, als wollten sie dadurch auf sich aufmerksam machen.
Nigg korrigierte gerade seinen Fußweg, weil er eine Reihe von mehreren Haken über dem Bürgersteig baumeln sah. Die weißen Sehnen tanzten im Wind.
Er drehte sich um, weil er einen Mann schreien hörte. Wieder einer, dachte er sich traurig. Eine Person schleifte, wie ein menschlicher Wurm, über den Asphalt auf ihn zu. Man sah die Sehne nicht, aber irgendwo in ihm steckte wohl ein Angelhaken.
Nigg beobachtete sorgsam seine Umgebung, vergewisserte sich einer sicheren Route und machte dann einen schnellen Ausfallschritt hin zum armen Fisch. Er trat dem Mann fest mit dem Fuß auf den Rücken und hielt ihn an den Schulterpolstern seiner Jacke fest. Der Mann stoppte seine wortwörtliche Geisterfahrt, schrie jedoch wie am Spieß.
Nigg untersuchte ihn. Zwei Haken an der Brust. Einer am Kragen. Unter enormer Kraftanstrengung machte er sich daran, dem Mann die Jacke über den Kopf zu streifen, bemerkte dann jedoch die restlichen Haken. Einer am Hosenbund, einer im Ohrläppchen, drei weitere irgendwo unter seiner rechten Achselhöhle. (Wenn man erstmal gezogen wurde, fing man sich auf dem Weg meistens noch mehr Haken ein.) Aber mindestens zwei Haken waren in seinem Mund.
Einen fand Nigg in dem Häutchen unter der Zunge. Er entfernte ihn ruckartig. Es kam Blut aus der Wunde. Viel Blut. Wo war der zweite? Oder waren es noch mehr?
Das Ohrläppchen des Mannes riss horizontal auf, weil die Haut dort dem Zug der Sehne nicht mehr standhalten konnte.
Nigg bemühte sich seine Hand in den Rachen des Mannes zu stopfen, doch er fand den kleinen Bastard einfach nicht. Der Haken steckte zu tief. Der Mann schrie nicht mehr. Er war vermutlich endlich ohnmächtig geworden.
„Es tut mir wirklich Leid“, sagte Nigg und ließ den Mann los. Er sah ihm noch lange hinterher. Sein regloser Körper schlängelte über die Straße und verschwand irgendwann in einer Seitengasse.
Niemand wusste, wo die Ruten waren, die die Angelhaken einholten. Sie entzogen sich stets dem Blickfeld sämtlicher Betrachter. Wenn man nur vorsichtig genug war, konnte man aber auch trotz der Haken weiterleben. Nigg Sorgenreit hatte sogar das Gefühl, dass die Haken irgendwie schon immer da gewesen waren. In Tiefkühlfraß, in Tabak, in Alkohol, in dunklen Gassen oder stillen Wäldern, auf irgendwelchen Skateboards oder in hoch über uns fliegenden Flugzeugen. Nur jetzt sah man sie deutlich besser.
Er fühlte die Schachtel PallMall Rot in seiner Manteltasche. Er hatte sich zwar das Rauchen abgewöhnen wollen, doch manche Angewohnheiten lassen sich nicht einfach so abstreifen, wie ein Paar gebrauchter Socken an den Füßen. Vorsichtig nahm er eine Zigarette aus der Packung und begutachtete sie. Er drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger.
In manchen von Denen steckte gar kein Haken. Meistens hatte man Glück. Es kam nur darauf an, wie viele man von Denen rauchte. Irgendwann war einer drin. Vielleicht würde Nigg jetzt in Ruhe eine rauchen können, ohne Angst um sein Leben zu haben. Vielleicht auch eben nicht.
„Scheiss drauf.“ murmelte Nigg und steckte sie sich an. "Nach dieser höre ich auf ..."
Es war Nikolaus Sorgenreits letzte Zigarette.