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Der Hahn
„Opa, du weinst ja“, sagte der Steppke, als ich das Märchenbuch zuklappte und auf seinen Nachttisch legte. „Mein Papa sagt immer, große Jungen heulen nicht, bist du kein großer Junge?“
„So, so, sagt er das?“, fragte ich und wischte mir über die Augen. „Hat dir Papa nie von den Tränen erzählt, Basti, die man weinen kann aus Freude?“
„Nein. Muss man das, wenn man die Bremer Stadtmusikanten vorliest, vor Freude weinen?“
„Ich schon, mein Junge, ich schon. Ich hatte einmal einen Freund ...“
„Erzähl, Opa, erzähl! Ich schlafe dann auch bestimmt ein“, und dabei kuschelte sich der Junge in die Federn, wie ein Huhn in sein Nest.
Wie ein Huhn ...
Unser Bauernhof lag versteckt in einer Senke, umgeben von Wiesen und Bäumen, deren Blütenduft im Frühjahr bis hinunter zur Oker zog, und von Feldern, die im Herbst goldbraun leuchteten vom reifen Hafer.
„Komm da runter, Bismarck, los komm schon!“ Ich hüpfte im Hof auf und ab und wedelte mit den Armen in Richtung Dachfirst. Ich hatte Angst um unseren Hahn, der sich wohl in Übermut von der Erde gelöst und mit Zwischenstopps über Hundehütte und Misthaufen bis hinauf auf das Dach geflattert war. „Du Dämlack. Brichst dir noch die Knochen, komm endlich runter da!“, rief ich, aber meinem Freund war nach Triumph:
„Kikerikiiie, kikerikiiiie“, und dabei reckte er den Hals, als wolle er am Himmel anstoßen. Hätte er mal besser nach der Uhr gesehen, denn es war lichter Tag, nicht die Zeit, Leute zu wecken.
Es war nicht so, dass ich mir keinen anderen zum Freund hätte aussuchen können. Brake zum Beispiel, unseren Neufundländer, der in seiner Hütte faulenzte, wobei ich ihm oft neidisch vom Brunnenrand aus zusah, während meine Hände blutig wurden vom Kälberstricke-flechten. Oder Hilde, eine unserer Kühe, deren Blick aus Glubschaugen so wunderschön leer und deren Euter abends immer so wunderschön voll waren mit fetter warmer Milch, die ich so mochte. Oder sogar Martin, den Knecht. Konnte der doch mit seinen starken, tüchtigen Händen Körbe flechten und Kälbchen in die Welt helfen, aber mit seinem verkrüppelten Bein leider nicht einmal Fangen spielen.
Nein, mein bester Freund war der hochnäsige Bismarck. Und das nicht erst, nachdem er mir mit seinem Kikeriki das Leben gerettet hatte, als ich einmal in die Jauchegrube gerutscht war und noch nicht schwimmen konnte. Mit dem Gockel konnte man besser spielen als mit jedem anderen.
„Ich fange dich, ich fange dich“, rief ich und tobte hinter ihm her, durch das Gras, den Kies, über Pfützen und Kuhfladen. Und er immer vornweg. Erst langsam, fast watschelnd, dann rennend, flatternd, im Zickzack, wieder geradeaus, kreischend, wild fuchtelnd, um sich im letzten Moment unter den Brettern hindurch in das Hühnerhaus zu retten. Auf die oberste Stange. Sein „toook, tok, tock“, danach klang selten erschöpft, eher... angeberisch, wie: „Na siehste, mich kann keiner.“
Ich liebte dieses schwarz-kupferglänzende Geschöpf, wie es den Kopf fast fragend zur Seite legte, wenn ich auf ihn einredete. „Komm, wir spielen Versteck.“ Wenn ich dann, eine dünne Spur Körner hinter mir, im Kuhstall verschwand und der scharrende, pickende, tockernde Hahn Minuten später mit wippendem Kamm vor meinem Heuhaufenversteck auftauchte und mir erneut zu verstehen gab: „Na siehste!“
Es war eine schöne Zeit. Bis eines Tages die Straßenbauer unsere Hofeinfahrt asphaltieren kamen. Der herrliche Geruch nach Teer, der Qualm und der unförmige Tonnenwagen, in dem das schwarze Zeug gebrutzelt wurde, lockten mich wie magisch an. Aber wohl auch andere, denn am nächsten Morgen weckte mich kein Hahn, sondern meine Mutter.
„Was ist mit Bismarck?“, wollte ich wissen.
„Er ist weggelaufen“, und als sie aus dem Fenster deutete, hinüber zur Einfahrt, sah ich dort nur noch zwei Männer und die Dampfwalze.
„Dann hast du vorhin ja doch aus Kummer geweint“, sagte Bastian.
„Nein, mein Junge, denn ein paar Tage später hat mir mein Opa die gleiche Geschichte vorgelesen, wie ich dir gerade. Die Bremer Stadtmusikanten. Da wusste ich, wo der Gockel war, der alte Angeber: Obenauf, wie immer, und ich war stolz auf ihn.“
„Waren das jetzt alte Schnurren, Opa?“
„Schlaf jetzt, du Bengel Engel.“
„Mein Papa sagt nämlich immer, der Opa erzählt nur alte Schnurren.“