Der Hüter des Moors
Es ist nahezu stockdunkel in dieser Nacht.
Nur das blasse Leuchten der Sterne und ein winziger Streifen Mond spenden etwas Licht. Morgen ist Neumond, viel Licht ist nicht da.
Doch der Junge lässt sich davon nicht erschrecken. Dunkelheit ist er gewöhnt. Und doch fürchtet er sich. Er fürchtet sich vor den Nebelschwaden, die in der Luft hängen, ihn bedrohen und ihm die Sicht auf den Untergrund nehmen, wobei doch genau das jetzt so wichtig wäre. Der Junge geht langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, immer erst testend, ob der Untergrund sein Gewicht trägt. Denn nur das würde sein Überleben sichern. Hier, im Moor, dem feindlichsten Lebensraum, den man sich vorstellen konnte.
Der Junge schloss die Augen. Er konnte sowieso nichts sehen, musste sich auf sein Gehör verlassen. Eigentlich mochte er das nicht, sich auf einen einzigen Sinn zu verlassen, dennoch ging er regelmäßig ins Moor. Er fand, das war es wert.
Er kam hierher um IHN zu treffen.
Vor ein paar Wochen war er das erste Mal dort gewesen, , in der Mitte des Moors. Da war auch so ein Wetter gewesen, kein Mond und Nebel. Er hatte sich verirrt, hatte schon die Hoffnung aufgegeben, als er plötzlich die Stimme hinter sich hörte.
„Was machst du hier, allein mitten im Moor?“, hatte der Mann gefragt, zu dem diese tiefe, sympathische Stimme gehörte.
„Ich habe mich verirrt.“, hatte der Junge geantwortet; seine Stimme hatte gezittert vor Angst und Kälte.
„Soso. Verirrt hast du dich.“ Ein spöttisches Lächeln klang in der Stimme mit. „Dann will ich dir mal den Weg zeigen.“
Die Stimme war nun direkt hinter ihm. Der Junge drehte sich um und blickte dem Mann ins Gesicht. Es war faltig und trocken, wie Papier. Augen, tief in ihren Höhlen liegend, sahen ihn an. Doch es war ein warmer Blick, einer, bei dem man sich geborgen fühlte. Der alte Mann lächelte, dann legte er seine Hand auf die Schulter des Jungen und führte ihn aus dem Moor heraus.
Seitdem kam der Junge öfter ins Moor, um den Alten besser kennenzulernen. Er wusste nicht viel von ihm, nicht einmal, wer er war oder wo er wohnte. Der Alte ging mit ihm durch das Moor, zeigte ihm die versteckten Pfade und lehrte ihn, diese auch bei Nebel zu finden. Bald wusste der Junge alles über das Moor. Er kannte es wie seine Westentasche. Er wusste, wie man darin überlebte. Manchmal erzählte der Alte ihm auch Geschichten, die etwas mit dem Moor zu tun hatten. Große Krieger, die hier versunken waren, sogar ganze Soldatentruppen und Opferungen, die Menschen hier Göttern vollbracht hatten. Göttern, die der Junge nicht kannte. So lernte der Junge nach und nach, alles über das Moor, auch, dass es abgrundtief böse war.
Heute hatte ihn der Alte wieder herbestellt. Bei ihrem letzten treffen hatte er gesagt, er müsse ihm etwas anvertrauen. Nun trat der Junge auf den Platz, an dem sie sich immer trafen. Normalerweise wartete der Alte immer schon auf ihn, doch heute schien er noch nicht da zu sein. Der Junge trat noch einen Schritt vor, blieb dann aber erschrocken stehen. Vor ihm auf dem Boden lag der Alte. Er sah aus wie tot, aber das wollte der Junge nicht wahrhaben, stürzte zu dem Alten, kniete neben ihm nieder und siehe da: Er lebte noch. Sein Atem ging flach, lange hatte er nicht mehr.
Der Alte streckte die Hand aus, zog den Jungen zu sich heran, bis das Ohr vor seinen Lippen war.
„Bevor ich gehe, habe ich noch eine letzte Bitte.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Du kennst das Moor jetzt so gut wie ich. Sorge dafür, dass keine der Geschichten, die ich dir erzählt habe, wieder eintritt.“ Seine Stimme, sie wurde immer leiser. Der Mann wurde immer schwächer, und doch sprach er weiter. „Schütze das Moor, es ist nicht nur Feind, sondern auch Freund.“ Seine Stimme erstarb, sein Körper wurde steif. Der Junge packte ihn, zog ihn von seinem Platz und ließ ihn im Moor versinken. Dann widmete er sich Nacht für Nacht seiner neuen Aufgabe, bis auch er alt und faltig war.