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Der gute Vitri
An einem Sommermorgen verschwand mein kleiner linker Zeh. Es war nicht so, dass er sich infolge einer Verletzung oder eines anderen schmerzhaften Prozesses verabschiedet hätte. Vielmehr bemerkte ich sein Fehlen zufällig beim Duschen. Ich sah das schrumpelige graue Ding noch im Strudel über dem Abfluss kreiseln, dann war es weg. Die Haut an der Stelle, wo er fehlte, war nicht einmal gerötet, sie war glatt. Als ich mit dem Finger darüberstrich, spürte ich ein feines Prickeln, eine ungewohnte Irritation, die gut auszuhalten war.
Die Einschränkung hielt sich zunächst in Grenzen. Das Fehlen des Zehs behinderte mich nicht beim Gehen, dazu kam es erst später, als die anderen Zehen ebenfalls verschwanden. Von einem schleichenden Prozess zu sprechen, mag angesichts der deutlichen Vorfälle unpassend erscheinen. Dennoch geschah die Ablösung weiterhin schmerzfrei und das beiläufige Auffinden der Mehrheit von ihnen an unerwarteten Plätzen erweckte den Eindruck, die Zehen würden sich der Reihe nach wegschleichen. Nachdem sich der letzte davongemacht hatte, erwartete ich, die Flucht der Körperteile hätte ein Ende gefunden. Und so verspürte ich trotz der Malaise eine gewisse Erleichterung – wenngleich es mir ab dem Zeitpunkt nicht mehr gelang, die Veränderungen zu kaschieren.
Das mag an meiner merkwürdigen Art zu gehen gelegen haben oder an den Krücken, ohne deren Hilfe ich nicht mehr von der Stelle kam. Herr Nachbar meinte jedenfalls, ein orthopädischer Schuhmacher könne da helfen, die wären solche Fälle gewohnt. Ich dürfe mich nicht so hängenlassen und müsse ein wenig Übung in die Arme investieren. Bestimmt sei da noch Einiges zu holen.
Bevor es dazu kam, fielen die Füße ab und ich tauschte die Krücken gegen einen Rollstuhl. Ich kann nicht sagen, dass ich ausschließlich traurig war, denn das Humpeln war zuletzt doch sehr schmerzhaft gewesen.
Den Gebrauch der Räder hatte ich schnell erlernt und fand manch Freude an der neuen Art der Fortbewegung, doch blieb es insgesamt eine kräftezehrende Angelegenheit. Auf mein Inserat in der lokalen Zeitung hin meldete sich Vitri, der das fortan stundenweise für mich übernahm. Wir kamen richtig gut miteinander aus, was wohl auch der Grund dafür war, warum der Vitri meinen abgestorbenen Unterschenkel ohne Murren aus dem Bett entfernte. Ehrlich gesagt roch der schon ein wenig, was dem Vitri nichts auszumachen schien.
Fortan legten wir eine Decke über die Beine, sobald wir das Haus verließen, was dazu führte, dass wir den zweiten Unterschenkel beinahe unbemerkt im Park verloren. Ohne das Holpern, als der Reifen darüberfuhr, wäre uns das durchgegangen. Dem Vitri übergab ich am Ende des Tages einen Bonus, weil er das stinkende Etwas ohne Zögern in die Büsche geworfen hatte.
Die Oberschenkel ließen noch einige Wochen auf sich warten. Nach einem heißen Bad im späten Herbst lagen sie friedlich nebeneinander im knisternden Badeschaum, der zurückblieb, nachdem ich das Wasser abgelassen hatte.
Den letzten Rest der Beine zu verlieren, war nicht weiter tragisch. Dem wohnte etwas Befreiendes inne, als würde Ballast von mir genommen. Der Vitri erfand sogar eine Methode, mich im Rollstuhl zu polstern und den Oberkörper zu fixieren, damit ich ohne Beine aufrecht sitzen konnte. Herr Nachbar meinte dazu, das wäre lösungsorientiert und bewundernswert, er hätte uns diesen Erfindungsreichtum nicht zugetraut. Zur Bestätigung nickte ich und verwies bescheiden auf Vitri, dem das die Röte in die Wangen trieb.
Zu diesem Zeitpunkt hatte der gute Vitri seine Einsätze von stundenweise auf ganztägig aufgestockt, was in seinem Fall acht Stunden bedeutete. Natürlich kamen Amt und Kasse zur Hilfe und übernahmen nicht nur sein Salär, sondern ebenfalls das seiner Kollegen für Nächte und Wochenenden. Doch ehrlich gesagt versorgte mich niemand von ihnen so gekonnt wie der Vitri. Selbstverständlich musste er sich erholen können, das mit mir anzusehen, war schon schwer für ihn. So bin ich mir sicher, das Abfallen der ersten Hand hat ihn ärger getroffen als mich, zumal der Hund vom Herrn Nachbar sofort zuschnappte und geräuschvoll die Knochen zermalmte. Durch beharrliches Zureden meinerseits hatte der gute Vitri seine Nerven nach einer Weile so weit im Griff, dass er weiterarbeiten konnte.
Ohne Hand geriet das Schieben des Rollstuhls zur Unmöglichkeit und da nun meine Schreibhand fehlte, konnte ich mit der anderen nur noch kritzeln, was mir auf Dauer als unbefriedigend aufstieß. Richtig anstrengend wurde es dazu nach dem Abfallen der mittleren drei Finger der zweiten Hand. Das Halten des Stiftes wurde zur regelrechten Tortur. Somit war ich nicht sonderlich betroffen, als der kleine Finger zuletzt vor dem Bett lag. Eine Weile noch konnte ich dem guten Vitri Daumen hoch signalisieren, dann hatte sich auch das erledigt.
Eines Nachts habe ich davon geträumt, mit einer Hand einen Fuß kratzen zu müssen und bin schweißgebadet aufgewacht. Ich fand es regelrecht erhebend, das im wachen Zustand ausschließen zu können.
Das Prickeln in den Stümpfen wurde erträglicher, als mir beide Arme den Laufpass gaben. Diesmal war der Hund des Herrn Nachbar nicht anwesend, was für Vitris Nerven ein regelrechter Glücksfall war. Seitdem ist der gute Vitri mit Schieben, Versorgen und den Diktaten rund um die Uhr ausgelastet, wenn nicht gar überlastet. Nie beklagt er sich, allein seine Augenringe zeigen, dass er nachts keine Ruhe findet. Doch auch in dieser Hinsicht ist ein Ende absehbar, denn jetzt warte ich darauf, dass der Kopf abfällt, weil er längst überfällig ist. Um den Torso soll er kein großes Gewese veranstalten, habe ich dem guten Vitri gesagt, um ihn wegen seiner Tränen zu trösten. Und er solle bloß den Kopf nicht hängen lassen. Vorsorglich diktiere ich ihm gerade ein herzliches Adieu, denn die Erfahrung zeigt: Das Ziehen im Nacken sollte ich ernst nehmen.