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Der Gummibaum
Die Küche war ein Durchgangszimmer für mich. Meine Mutter saß dort und beobachtete alles. Wenn ich zur Tür hereinkam, schaute sie von den Buchstaben auf ihren Blättern auf, wie zufällig, und lächelte, aber eigentlich wusste sie schon, dass ich kam. Sie hatte spitze Ohren, meinte mein Vater. Natürlich liebte er sie dafür, wie für alles andere auch.
In meinem Zimmer stand ein Gummibaum. Der sah aus, als wäre er aus Wachs. Wenn ich lange genug zwischen den Blättern hindurchsah, konnte ich mir vorstellen, die ganze Welt wäre so: Von einer feinen Schicht Wachs überzogen. Da wäre ich gerne herumlaufen; alles hätte geschlafen, außer mir.
Meinem Vater ging es ähnlich. Er erzählte mir, wie sehr er es liebte zwischen den Stunden im Lehrerzimmer Kaffee zu trinken. Wenn der Kaffee seinen Kopf erreiche, dann werde ihm so manches ganz plötzlich klar. Für einen Augenblick bloß. Die Schüler mochten ihn, aber ein bisschen komisch fanden sie ihn auch.
Arno war fünfzehn, als mein Vater beschloss, dass es gut wäre, wenn sie mehr miteinander unternähmen. Wie Vater und Sohn eben. Sie gingen ins dunkle Zimmer meines Bruders und mein Vater ließ sich erklären, wie man ein Radio reparierte oder eine Trillerpfeife. Wenn es dann nichts weiter zu sagen gab, saßen sie einfach miteinander herum und schauten die Decke an, oder mein Vater trank ein Bier, und irgendwann sagte er: „Ich finde gut, was du machst.“
Mich ließen meine Eltern in Ruhe. Sie sagten, dass es keinen Sinn mache, mich zu überfordern. Dass ich nun einmal aus einem anderen Holz wäre. In meiner frühesten Kindheit hatte ich einen Alptraum gehabt und der verfolgte mich wie eine böse Krankheit. Ich konnte nicht unter Leute gehen. Ich bekam Angst und schrie, bis meine Eltern mich in mein Zimmer zurückbrachten. Morgens nahm mein Vater mich zur Schule mit. Ich hielt es aus. Aber meine Mutter musste mich pünktlich abholen, wenn die letzte Stunde vorüber war. Sie schenkte mir den Gummibaum. Der beruhigte mich. Ich dachte mir die Welt weich wie seine wächsernen Blätter.
An Sonntagen machte ich Ausflüge in die Speisekammer. Dort roch es nach Früchten. Meine Mutter hatte Zeit, alles zu konservieren, was ihr unter die Finger kam. Diese Ausflüge bedeuteten vor allem, dass ich an ihr vorbei musste. Leise schlich ich durch den Flur, versuchte das Knarzen der Dielen zu vermeiden. Ich wusste, auf welche ich nicht treten durfte. Einmal gelang es mir, unbemerkt am Küchentisch vorbeizukommen. Doch all die anderen Male erwischte meine Mutter mich und lächelte nur freundlich.
Meistens brachte ich eine Flasche Apfelsaft von meinen Ausflügen zurück. Ich schüttelte sie und sah zu, wie die Saftflocken langsam aufstiegen und wieder zu Boden sanken. Das war wie der Gummibaum in klein. Wenn man länger hinsah, sah man viel mehr, als da war. Dann sah man das brennende Haus meines Opas, von dem mein Bruder und ich von Tante Katha erfahren hatten. Manchmal sah ich auch meine Mutter, aber dann sah ich sie nur am Tisch sitzen und lächeln. Die Saftflocken kannten viele Geheimnisse, aber manche kannten sie eben nicht.
Als er noch klein war, schenkte meine Mutter Arno eine Schnecke. Sie hielt sie in der hohlen Hand. Als sie die Finger langsam auffaltete, begann Arno zu schreien, dann wurde er ohnmächtig. Zwar verstand ich nie, warum er solche Angst vor Schnecken hatte, aber ich begriff, dass meine Mutter das grausame Talent besaß, die tiefsten Ängste eines Menschen zu erkennen, und vielleicht sogar mehr als das.
Wenn mein Vater nach Hause kam, in die Küche, dann wartete sie schon auf ihn. Sie nahm ihn in den Arm, wie ein Kind, streichelte ihn und sagte, dass er ihr starker Mann sei.
Arno aber ließ sich nicht trösten. Er hatte sie durchschaut. Eine Zeit lang konnte mein Vater ihn noch bei uns halten. Selbst als er die Schule abbrach, um Gärtner zu werden. Von da an verbrachte er viel Zeit in dem kleinen Schuppen, den ihm die Stadtverwaltung zugestanden hatte. Einmal besuchte ich ihn dort und als ich ihn fragte, warum die Fenster so sehr beschlagen seien, antwortete er, dass das immer so wäre, und er das auch zu schätzen wüsste.
Irgendwann verschwand er dann. Mein Vater ließ nach ihm suchen, aber er war aus allen Registern gestrichen. Manchmal glaube ich ihn zu sehen, dann trägt er einen dunklen Bart und einen breiten Hut, aber wahrscheinlich ist er es gar nicht. Kurz nachdem er das Haus verlassen hatte, begann die Schwermut meines Vaters. Meine Mutter hielt ihn nun sehr oft im Arm, aber es war, als würde er ihr zwischen den Fingern zerrinnen, und da verstand ich, dass es mir genauso ergehen würde, wenn ich weiter nur den Gummibaum anstarrte. Ich begriff das der Gummibaum mein Gefängnis war und er war so riesig geworden in all den Jahren. Es dauerte Stunden, bis ich seine vielen wächsernen Blätter zerschnitten hatte.
Als ich damit fertig war, ging ich in die Küche. Meine Mutter lächelte, aber sie wusste, dass auch ich sie durchschaut hatte. Es genügte, dass ich sie darauf ansprach. Zuerst versuchte sie sich herauszureden, aber je mehr ich sie auf sie selbst aufmerksam machte, desto mehr konnte ich spüren, wie ihre Macht schwand. Am Ende flehte sie mich an, ich solle aufhören, und als ich das nicht tat, stieß sie mich einfach zur Seite und rannte davon.