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Der große Coup
Morgen ist es endlich soweit. Es wird der Tag sein, an dem Lutz sein Opus magnum kreieren wird. Die große Rache des kleinen Mannes. Seit geraumer Zeit treibt er sich am Braunschweiger Hauptbahnhof herum. Er studiert den Verkehr. Zu welcher Zeit fahren die meisten Züge? Wann sind die meisten Menschen da? Und am allerwichtigsten: Wann sind die Toiletten frei?
Die Vorbereitung ist schließlich essenziell, es muss einfach perfekt werden. Lutz war immer penibel vorsichtig, wenn er jetzt schludert, ist alles aus. Sieben Monate und 19 Tage für die Katz. Die Durchführung des Plans an sich ist nicht das Problem, reinste Routine, nur der Rahmen, in dem sich alles abspielen soll, muss peinlichst genau festgelegt werden. Den Rest wird er schon so hinbekommen. Das Geld nicht zu schnell und nicht zu langsam in den Münzschlitz. Wenn man es Lutz anmerken würde, dass er gerade darüber nachdenkt, wie er möglichst unauffällig die Groschen in den Automaten steckt, fliegt er auf. Dann auf den Bon warten, diesen der Maschine abnehmen, durchs Drehkreuz und möglichst in die hinterste Kabine. Er reißt genau ein Blatt Papier ab und schließt damit die Tür. Wer weiß, welches Schwein da vorher schon seine Griffel hatte. Ungestört schiebt er nun seine Cargohose samt Schlüpfer bis in die Knie, um sich folgend mittig über dem Rand der Klobrille in zehn-vor-acht-Position in Stellung zu bringen. Lutz hat mittlerweile eine sehr starke Beinmuskulatur, er könnte bis zu fünf oder sogar sechs Minuten in dieser Haltung verbringen, nötig sind jedoch meist nur ein oder zwei, um das Werk zu vollenden. Und, Voila! Der Brillenbomber aus Niedersachsen platziert die Mine auf der Empore. Er wischt ab, zieht sich wieder an und dreht sich um. Da liegt er, der Gefallene. Lutz salutiert. In diesem Krieg wurden schon viele seiner Hervorkömmlinge für das höhere Ziel geopfert. Doch Lutz besitzt mittlerweile die Nerven und die Kälte eines Generals, der die Welt von einer Seite sah, die das Schimmern im Auge erlöschen lässt; die Tränen trocknet, bevor sie fließen können. Sein gehärteter Blick sieht gespannt zu. Der Super-GAU der Sanifair-Toilette ist Sekunden entfernt. Ein leichtes Rattern ertönt, er liebt dieses Geräusch. Der Klang der Revolution. Im gleichen Moment beginnt die Brille zu rotieren. Die Selbstreinigungsfunktion des Donnerbalkens, die eigentlich dessen Hygiene wahren sollte, wird zum Henker genau dieser. Wie die Nutella, die von einem dicken Kind langsam, nahezu ritualartig auf einem Bagel verschmiert wird, verteilt sich der gut verdaute Horror einer jeden Klofrau über dem gesamten Porzellan. Das Werk ist vollbracht, die Flucht folgt sogleich. Lutz schaut kurz unter der Kabinentür hindurch, ob sich mutmaßliche Zeugen im Raum befinden. Sobald die Luft rein ist, macht er sich aus dem Staub. Das Phantom der stillen Örtchen. Doch wie kam es zu dieser Radikalisierung? Was treibt einen Menschen dazu, alles Menschliche abzulegen?
Alles begann in der Serways-Raststätte Lappwald Nord auf der A2 bei Helmstedt. Niemand hätte je gedacht, dass an so einem Ort Monster geboren werden können. Während der Hinfahrt in den Vogelpark Walsrode musste er recht zeitig nach Fahrtbeginn feststellen, dass da unten etwas drückt, was raus wollte. „Das kommt davon, wenn man mehr als eine Tasse Kaffee am Morgen trinkt. Nie wieder“, dachte er sich. Er steckte also das Geld rein, nahm den Bon, erledigte ganz normal sein Geschäft in die Schüssel und verließ den weiß gefliesten Thronsaal. Auf dem Weg nach draußen hielt er kurz inne. „Ich habe doch noch den 50 Cent Gutschein, das ist eine ganze Mark, wenn ich den nicht einlöse, dann kann ich mein Geld auch gleich ausm Fenster werfen, verbrennen oder einem Penner zum Versaufen schenken. Am besten hol ich mir was zu essen, jetzt wo sowieso wieder Platz ist.“ Mit einem Snickers in der Kralle und einem Ausdruck im Gesicht, der „von euch lass ich mich aber nicht verarschen“ sagte, begab er sich zur Kasse.
„Das macht dann 1,20€ bitte.“
„Oh nein! Ich habe hier noch einen Gutschein.“
„Entschuldigung, aber der Strichcode ist so blass gedruckt, dass der Scanner ihn nicht erfassen kann.“
„Wie bitte? Das kann nicht sein, ich habe den doch vor ein paar Minuten erst gezogen.“
„Naja, ich sehe nur, dass das scheinbar nicht funktioniert.“
„Dann geben sie mir doch einfach einen neuen. Sie sahen doch, dass ich eben auf dem Klo war.“
„Entschuldigung, aber das darf ich nicht.“
„Dann würde ich gerne Ihren Vorgesetzten sprechen.“
„Der hat noch bis nächsten Mittwoch Urlaub, Sie können ja dann wiederkommen.“
Lutz war fassungslos. Sowas hatte er noch nie erlebt. Er griff erzürnt das Snickers, packt es wieder dorthin, wo er es gefunden hat und stürmte zur Tür. „Sie werden noch von mir hören!“ Lutz machte sich sofort wieder auf den Heimweg. So geladen wie er war, hätte er den Vogelpark einfach nicht genießen können. Zuhause angekommen schmiss er direkt den Computer an und begann zu tippen. Beschwerdemails begaben sich im Minutentakt ins World Wide Web. Alle Beteiligten wurden informiert und gleichermaßen angeprangert, irgendjemand musste die Suppe wieder auslöffeln, ob Sanifair, Tank & Rast, Serways oder der Bundesverkehrsminister persönlich.
Ganze fünf Tage aktualisierte Lutz fast stündlich erfolglos sein E-Mail-Postfach. „Das kann und darf nicht sein“, denkt er sich. „So wird der arme, kleine Mann mal wieder im Stich gelassen. Vom Monopolkapitalisten ausgebeutet. Vom Staat missachtet. Die stecken doch alle unter einer Decke. Tank & Rast besticht doch die Politiker, damit die ihren Blick von den wahren Problemen dieses Landes wenden. So kann das nicht weitergehen. Aber was tun? Die Polizei wird involviert sein. Die Verschwörung aus Staat und Konzern ist wahrscheinlich größer als McDonalds. Wenn die Macht so konzentriert ist, hilft nur noch ein Guerillakrieg, die Revolution aus dem Untergrund. Doch ich kann niemandem vertrauen, jeder Verbündete nur ein potenzieller Wolf im Schafspelz. Nein, diesen Krieg werde nur ich führen. Ich allein.“ Und so begann der Untergang.
Der große Tag ist gekommen. Lutz geht es miserabel. Er hat die ganze letzte Woche nur Toastbrot, Reis und Bananen gegessen. Dazu noch zwei Dosen Mais für die Ästhetik. Alles ist verstopft. Er rafft sich trotzdem auf: „Ich kann jetzt nicht versagen, das hier wird der letzte große Coup. Kunst von Welt kann eben nur durch unsägliches Leid entstehen. Das war schon immer so.“ Er braucht eine halbe Stunde bis zum Bahnhof, genau so lange, wie die vier Darmböller brauchen, um ihre Wirkung zu entfalten. Das stärkste Abführmittel, das es rezeptfrei zu kaufen gab. Damit wird er den braunen Riesenziegel schon rausbomben können. Zack, alle auf ex! Man darf eigentlich nur eine nehmen. Drauf geschissen. Jetzt ist das Schicksal besiegelt. Die Lunte brennt und kann nicht mehr gelöscht werden. Bald wird hier alles hochgehen.
Am Bahnhof angelangt, krümmt er den Rücken wieder gerade. Alles schmerzt. Jetzt muss es schnell gehen. Das Geld geht in den Automaten und der Bon wird entnommen. Einen Euro kostet der ganze Spaß. „Jeder Hund darf hinkacken, wo er will, aber wir Menschen scheinen weniger Rechte in diesem Land zu haben, als alle anderen Tiere. Wir müssen einen ganzen Euro dafür blechen, das sind zwei Mark, um am Bahnhof unsere Notdurft zu verrichten. Und dann kriegt man auch nur die Hälfte davon erstattet, wenn überhaupt“, denkt er sich. Der Zorn steigt und der Wille, das System zu vernichten, bestärkt sich zunehmend. „Perfekt.“ Wie geplant befand sich keine Menschenseele auf seiner Zielgeraden. Wie immer begibt er sich in die hinterste Kabine, dort, wo er am ungestörtesten ist, reißt ein Blatt Papier ab und schließt die Tür. Er verspürt noch keinen Druck, die Verstopfung scheint tief zu sitzen, aber laut Packungsbeilage der Sprengsätze dürfte es nur noch maximal drei Minuten dauern. Der Sekt ist bereits geschüttelt und der Korken löst sich langsam aber stetig. Er lässt die Hose in die Kniekehlen fallen und winkelt die Beine an. Der Countdown zum Raketenstart hat begonnen. Lutz is ready for take-off.
KLIRR! Lutz schießt ein Blitz durch alle Gliedmaßen. Ein lähmender Schock durchzieht seinen Körper. „Hose hoch, Drecksschwein, du bist verhaftet“ erklingt es hinter ihm. Lutz bewegt langsam seinen Kopf zur Seite und sieht eine zerbrochene Fliesenkachel am Boden. „End of the line. Seit Monaten sind wir dir schon auf den Fersen, aber du warst uns immer einen Schritt voraus. Jetzt hat sich das Blatt wohl gewendet“ sagte die Stimme hinter ihm. „Du brauchst übrigens gar nicht versuchen zu fliehen. Wir haben alles umstellt.“ Lutz Blick schweift weiter gen Boden. Unter der Kabinentür konnte er vier schwarze Schuhe erkennen. „Aber wie?“, fragt Lutz. „Wie habt ihr herausfinden können, dass ich hier zuschlagen werde?“ „Ganz einfach“, antwortet die Stimme. „Du hast fast täglich an einer anderen Raststätte einen Anschlag verübt, an manchen sogar mehrmals. Wir wussten auch durch Kameraaufnahmen, dass du an jedem der Tatorte warst. Dadurch, dass es aber auf den Toiletten keine Kameras gibt, konnten wir dich nicht überführen. Ein weiteres Indiz war, dass du bis jetzt der einzige Mensch warst, der je einen Sanifair-Bon einlösen wollte. Wenn man dazu noch die Hasstiraden in den E-Mails nimmt, hat man das perfekte Motiv für diesen Schiethad. Wir mussten dich jedoch auf frischer Tat ertappen. Und als es in letzter Zeit ruhig um dich wurde, wussten mein Einsatzteam und ich, dass du dein kleines Hobby nicht einfach so an den Nagel gehängt hast. Nein, der Robespierre des Auf-die-Brille-Ballerns hat etwas Großes geplant. Wenn man dann noch eins und eins zusammenzählt, wird klar, dass du hauptsächlich im Einzugsbereich Braunschweig zugeschlagen hast. Da am Hauptbahnhof der meiste Verkehr auf öffentlichen Toiletten herrscht, war sicher, dass du hier zuschlagen wirst, wo du am meisten Schaden anrichten kannst. Alles eine Frage der Zeit. Also haben wir über Nacht Tunnel hinter den Klokabinen ausgegraben und patrouilliert. Mit Erfolg wie mir scheint.“ Lutz schluckt. War er so unachtsam? Konnte er nicht besser aufpassen? Es blieb nur ein Ausweg. In den Knast geht er nicht und eine Geldstrafe steht völlig außer Frage. Zumal diese in Mark nochmal doppelt so hoch wäre. Nein, Lutz geht mit einem Knall. „Schön, Sie haben mich, bravo. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass Sie mich trotzdem nicht von dem abhalten werden, weswegen ich hier bin“, sagt Lutz fest entschlossen. „Make my day“, ertönt es hinter seinem Rücken. Lutz fängt schlagartig an zu pressen mit dem Wissen, dass es für ihn sowieso keinen Morgen geben würde. In dem Moment durchbohrt eine Kugel von hinten seine Brust. Lutz spürt keinen Schmerz. Er ist gewillt als Märtyrer zu sterben. Weitere Kugeln durchdringen ihn, er sackt immer weiter zusammen. Plötzlich schießt die Boa Kotstriktor aus ihm heraus und verteilt sich über der gesamten Keramik. Endlich, der lang ersehnte Befreiungsschlag. Die Pillen haben gewirkt. Lutz geht zu Boden, doch die Fliesen fühlen sich für Lutz nicht kalt an. Ein Gefühl der Wärme gleitet durch seinen Körper, wie wenn man an Weihnachten mit einem Glühwein vor dem Kamin sitzt, während draußen der Schneesturm heult. „Unter dieser Hose ist nicht nur Fleisch, unter dieser Hose steckt eine Idee! Und Ideen, Kommissar Clean, sind kugelsicher“, haucht Lutz mit letzter Kraft in den Raum. Ein leichtes Rattern ertönt, er liebt dieses Geräusch. Der Klang der Revolution.