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Der Grinch
Der einzige Grund, warum ich noch mit ihr zusammen bin, ist der Grinch. Dieser Jim Carrey-Film. Wenn ich mir den alleine anschaue, komme ich mir endgültig wie ein Weichei vor. Das geht mal gar nicht. Aber zwischen den Jahren ist Schluss. Spätestens Silvester. Und das wird nicht so eine Weihnachtsbaum-Sache. Wo man sich vornimmt, ihn spätestens Anfang Februar rauszuschmeißen und dann steht der Scheiß-Baum Mitte März immer noch da. Nein. Der Grinch noch und der Besuch meiner Eltern und dann: Finito Frigido Zigo!
Heute ist Mittwoch und es gibt Bratwürstchen. Sie kann exakt vierzehn Gerichte, neun für die Wochentage und fünf anlässlich von Sonn- und Feiertagen. Bratwürstchen zählen doppelt, weil sie die manchmal in Schneckenform macht.
„Schmeckt es dir?“, fragt sie mich.
„Vorzüglich.“
„Nicht zu trocken?“
„Köstlich“, sage ich und quetsche den letzten Tropfen Ketchup aus der Flasche. Das macht sie immer so, sie will immer noch jeden Rest ausquetschen. Bei Zahnpastatuben, Ketchupflaschen, Duschgels, überall. Nur im Bett nicht.
Ich kann die Flasche wegschmeißen, sie tief im Müll verstecken, sie buddelt sie wieder aus wie ein kleines Frettchen, stellt sie mir auf den Tisch zu ihren staubtrockenen Styropor-Würsten – sie lässt sie viel zu lange in der Pfanne, viel zu lange – und tut so, als wäre nichts gewesen, als hätten ihre Maulwurfshände das Ding nicht am Abend vorher noch aus dem Müll gezerrt. Dabei steht die neue Flasche doch schon auf der Anrichte!
„Köstlich, wirklich köstlich“, sage ich. „Und so schön knusprig.“
Es ist Freitag und sie sprüht gerade Kunstschnee auf ein Fenster. Hält die Dose wie ein zwergenwüchsiger Rembrandt – ich weiß, dass sie dabei die Augen zusammenkneift, sie ist so gut wie blind, weigert sich aber eine Brille aufzusetzen! – und sprüht mal hier, mal dort Schneeflocken auf das Fenster. Dann schaut sie mich über die Schulter hinweg an, ihre Augen sind krebsrot vom vielen Zusammenkneifen und es riecht überall nach diesem widerlichen Schneespray und sie sagt: „Schön? Oder?“
„Richtig weihnachtlich“, sage ich.
„Obwohl das Wetter ja nicht mitspielt“, sagt sie. „Es ist ja wie im März. Kein Schnee weit und breit in Sicht.“
„Aber dafür jetzt am Fenster.“
„Ja“, sagt sie. Und schaut aufs Fenster. „Da ist nun Schnee.“
Dann wackelt sie mit der Dose herum und es klickt und klackert, als würden dort Murmeln zusammenstoßen.
Wir sind beim Einkaufen und ich schiebe den Einkaufswagen hinter ihr her, als wäre ich Inder. Sie hat kein System. Gar keins. Wir sind erst in Gang Eins wegen ihres Haarsprays, dann gehen wir in Gang Vier, um dort Obst zu kaufen, dann trabe ich zurück zu Gang Eins, weil wir noch Toilettenpapier brauchen. Gang Drei für Cornflakes. Wieder Gang Zwei für Spaghetti und Bolognese-Sauce. Und für Schinken und immer so weiter.
„Es gibt viel mehr zu kaufen als früher“, sagt sie, irgendwann zwischen Gang Zwei und Drei. „Ich weiß noch, als Kind gab es solche Sachen nur in den Feinkostläden.“
Das sagt sie, weil man auf den Schinken nun „Prosciutto“ geschrieben hat. Und „italienische Spezialität.“
„Ja“, sage ich. „Deshalb geht auch die Umwelt kaputt.“
Sie legt den Schinken in den Einkaufswagen und fragt: „Wie meinst du das?“
„Na ja, der muss doch hierher transportiert werden aus Italien mit LKWs oder so.“
„Oh“, sagt sie. „Vielleicht sollten wir was spenden. Für den Regenwald. Da hatte ich neulich erst eine Reportage drüber gesehen. Aber da war es um Urlaub gegangen.“
Genau.
In Gang Vier kollidiert sie mit einer Freundin. So eine mausgraue Rothaarige: Ach, lange nicht gesehen. Hast du schon gehört?Und was machst du so? Wir sollten unbedingt mal wieder telefonieren.
Zehn Minuten. Wenn nicht länger.
Ich spiele mit dem Gedanken, ihr den voll beladenen Einkaufswagen von hinten in die Hacken zu fahren. Schiebe ihn schon ein bisschen zu mir zurück, um Anlauf zu nehmen. Aber dann mache ich es doch nicht. Der Grinch.
Weil meine Eltern da sind, gibt es ein Feiertagsgericht: Tiefkühl-Ente mit Preiselbeeren und Klößen. Nach dem Essen nimmt mich meine Mutter zur Seite und sagt: „Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, wenn du so kalt zu ihr bist. Das ist mir unangenehm.“
Ich sage: „Ich weiß nicht, was du meinst.“
Sie sagt: „Das macht man aber nicht.“
Ich sage: „Kommt gut nach Hause. Und frohes Fest.“
Meine Mutter hat nicht alles geschafft und sie natürlich auch nicht. Deshalb musste ich viel zu viel essen – schon kaltes Zeug, das regt mich am meisten auf. Wenn sie schon vorhat, mich als Müllschlucker zu missbrauchen, warum gibt sie mir dann nicht gleich die Hälfte? Wenn es noch warm ist? Nein, da muss noch dran genagt und gepickt werden wie ein aidskranker Vogel, nur um mir dann eiskaltes Entenzeug zuzuschieben, das mir im Magen liegt wie Schrot.
Ich liege im Bett und schwitze Bratensaft. Sie legt sich zu mir, packt ihre Beine so komisch auf meine wie eine Schlingpflanze, schiebt eine Brust an mich ran und leckt mir mit einer eiskalten Katzenzunge im Ohr herum. Dann wurschtelt sie mit ihrer Decke herum wie bescheuert und plötzlich spüre ich ihren Fuß, der kälter ist als ein Eiswürfel, an meinen Beinen und sie säuselt: „Ich liebe dich.“
Am nächsten Tag habe ich eine Grippe. Von ihren kalten Beinen. Es ist etwas Ernstes, das weiß ich gleich, weil sie mich so anschaut, als sie meine Stirn befühlt. Wie meine Mutter. Sie sagt: „Oh, gerade jetzt. Du hast dir bestimmt was auf der Arbeit geholt.“
Ich nicke mit rotzschwerem Kopf.
„Ich mach dir mal ein Süppchen.“
„Und lass bitte die Rollos runter.“
„Oh, tut dir das Licht in den Augen weh?“
Tut es, Einstein.
Durch die Tür höre ich, wie sie mit meiner Mutter telefoniert. Suppe wäre dann das fünfzehnte Gericht.
Als ich aufwache, habe ich irgendwas Nasses an den Beinen und bin ganz allein. Es ist dunkel. Hoffentlich sind das Wadenwickel.
Ich rufe nach ihr mit schleimbelegter Kehle und sie steht plötzlich in der Tür. Sie hat den Pulli an, den ich so mag, und riecht wollig und warm wie ein Schäfchen. Sie stellt sich ans Bett und bestreicht meine Brust mit Wick-MediNait und es riecht blau. So als hätte sie tausend frische Menthol-Blumen gekauft. Und danach eine Herde Perwoll-Schafe durchs Haus getrieben.
Als ich die Augen wieder öffne, hat sie den Fernseher aus dem Wohnzimmer hereingeschoben, mitsamt diesem Rolldings, auf dem er immer steht. Sie legt sich zu mir ins Bett und schaltet ihn ein.
Sie lehnt dabei mit dem Rücken ein bisschen an der Wand hinter dem Bett und schaut so auf mich herunter. Sie zwinkert mir zu und sagt: „Der Grinch.“
Ich knurre irgendetwas Missbilligendes. Jim Carreys grüne Farbe sticht mir in die Augen. Sie regelt die Helligkeit herunter.
„Ich kann den Film nicht ausstehen“, krächze ich, während ich sehe, wie der kleine, süße Who mit der Mäusenase gerade Who-Sachen macht. „Ich guck den nur wegen dir.“
„Und dafür liebe ich dich“, sagt sie. Und küsst mich auf die heiße Stirn.