Der Greis
Unterhalb: Dichte Wolken
Eine mittelgroße Stadt erscheint wenn der Betrachter sich durch die Wolken stürzt.
Die Straßen sind erkennbar, werden größer... Fahrzeuge und Passanten erscheinen...
Etwa 20 Meter über dem Boden, ein alter Mann erscheint im Blickwinkel und zieht die Aufmerksamkeit des stillen Beobachters auf sich. Nicht weil er irgendetwas Besonderes tut, sondern wegen etwas was sonderbar erscheint: Er sieht den unsichtbaren Beobachter mit starrem Blick an.
Der Alte wird der Bezeichnung Greis gerecht, er hat einige graue, spinnwebenartige Haare die sich mit dem kaum vorhandenen Wind der mit dem Sonnenuntergang aufkommt, bewegen. Die dünnen Fäden vollführen einen stillen Tanz auf dem Kopf des Greises, der aus irgendeinem Grund fast schon bizarr wirkt. Sein Gesicht ist von Falten und tiefen Kerben gezeichnet, die Haut, bleichem Leder gleich, bedeckt ihn wie eine kleine dreidimensionale Landkarte mit Bergen und Tälern, die Handrücken sind voll mit Malen des Alters, die Finger von der immer stärker werdenden Gicht schwach geworden. Die linke Hand zittert merklich, die Kraft ist schon lange Zeit aus den Gliedern des Alten gewichen und hat sich einer anderen Art von Kraft schon fast ergeben.
In seiner gebückten Haltung geht der Greis erst einen, dann zwei Schritte, um dann wieder himmelwärts zu starren. Die Augen sind vom Starr befallen und nur trüb blicken sie durch seine Welt. Eine Träne bahnt sich wie ein kleiner Bach den Weg durch die Kerben seines Gesichts. Sein Blick zeigt wie müde er ist. Doch ein gewisser Stolz in seinen Augen ist noch erkennbar. Und dann dieser kleine aber durchdringende Glanz. Vielleicht hervorgerufen durch diese Erinnerungen in seinem Kopf, diese wärmenden Erinnerungen, vielleicht der einzige Grund dass der Greis die Prüfungen erträgt, die er ein Leben lang hätte bestehen musste, aber nicht immer bestand. Natürlich, auch die Prüfungen sind Teil seiner Erinnerungen, auch die fehlgeschlagenen und die, an denen er gescheitert war bevor er zu ihnen angetreten war. Unauslöschbar wie es scheint, wie Folter hatten sie sich in seinen tiefsten Kern eingebrannt, aber wie gesagt, auch diese wurden erträglich, durch die anderen Erinnerungen.
Seine Mitmenschen halten ihn für verblödet, sie sagen es nicht, aber es ist so, ja, er lebt wirklich nicht mehr in dieser Zeit. Irgendwann hatte er das mühsame Mitkommen aufgegeben, blieb stehen, und drehte sich dann sogar um, mit dem Ziel sich seinen eigenen kleinen Platz zu finden. Die Menschen verstanden das nicht. Dabei war es eine logische Konsequenz für den Alten gewesen. Er hatte das Vorhaben auch nicht plötzlich gefasst, er war nicht eines Morgens aufgewacht mit einer fixen Idee. Die ganze Sache hatte ihn eher langsam aber sicher übernommen, und er war glücklich damit. Nur wenn er wieder ins Jetzt, und ins Hier zurück kam, wie in diesem Augenblick, wurde er traurig , zitterte am ganzen Leib und weinte. Erst dann, wenn ihn diese Wärme zurückeroberte, langsam einlullte, zurückholte, in seine eigene Zeit, an seinen eigenen Ort, erfing er sich langsam aber mit vorbestimmter Sicherheit.
Nun hatte er nicht mehr viele Prüfungen vor sich, ein kalter Schauer scheint ihm über den gesamten Körper zu jagen, als ob er sich etwas bewusst werden würde, was er bis jetzt verdrängt hatte. Sein Blick gleitet vom Himmel weg, er schließt die Augen. Wischt sich die Tränen mit dem Ärmel von den Wangen, wie ein kleines Kind. Niemand hatte ihn weinen gesehen seit dem er ein Kleinkind war. Nie war jemand dabei wenn er sein Innerstes nicht mehr verbergen konnte. Er öffnet die Augen. Er sieht von hier aus nicht bis zum Horizont, die Häuser verhindern es. Die Straße auf der er steht bietet auch nichts, was nur annähernd von Interesse sein könnte.
So fixiert er wieder den unsichtbaren Beobachter über sich, nicht verwundert, auch wenn niemand sonst ihn sehen kann. Dann, als er so hinaufsieht, kommt langsam wieder diese Wärme in seinen Körper zurück, gleitet, strömt, ohne Geschwindigkeit, aber eben irgendwie doch, vielleicht langsam und schnell zugleich, in seine Seele.
Ein Hauch von Leben.