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Der grüne Schlüssel

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06.02.2001
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Der grüne Schlüssel

Der grüne Schlüssel

Ausgehändigt für zwei Tage, ein Besuchsrecht auf Zeit.
Da liegt er; sanft, friedlich, mit streng zurückgekämmtem Haar, die Hände gefaltet, die Finger blau. Ein schöner Körper, der schon anfängt zu verwesen. Künstlich gekühlt wird er, der Verwesungsprozess gestoppt, die Zeit für zwei Tage angehalten.
Sie sieht ihn an. Steht neben ihm. Würde ihm gerne übers Haar streichen, sagt ihm, dass sie ihn liebt. Immer war sie da, immer war auch er da, nie waren sie auseinander und wenn, nur auf Zeit – auf Zeit, wie jetzt, in diesem Augenblick.
Durch einen Schleier sieht sie ihn über Blumenwiesen rennen, durchs Roggenfeld wandern und immer dabei lachen. Sein krummer Gang erinnert an alte Schauspieler, sein Lächeln an Hollywoodlegenden, dabei ist er nur ein einfacher Mann.
Sie sagt in die Kühltruhe hinein, in der er jetzt liegt, damit sein Fleisch nicht verfällt: Gut siehst du aus, nur deine Krawatte ist etwas schief, ich würde sie dir gerne gerade rücken, aber das Glas ist dazwischen. Rennst du wieder über Blumenwiesen? Wenn ja, musst du auf deine Füße aufpassen, du stolperst so schnell und deine Knochen sind nicht stark, du brichst dir doch leicht was, daher pass auf, pass ja auf, bis ich bei dir bin.
Sie weint, drückt den grünen Schlüssel fest an sich. Er ist ihr Schatz, er ist ein Schatz für zwei Tage und für zwei Nächte. Nicht dann nimmt sie Abschied von ihm, jetzt – hier und jetzt, auch, wenn sich alles, was sie sagt, nicht danach anhört. Ihr ist, als würde er sie anschauen, als würde er lächeln und sagen: Die Zeit überbrückst du auch noch, den letzten Weg gehst du nicht allein. Das schaffst du, denn du bist ein großes Mädchen. Und pass auf Boxer auf.
Sie sagt: Boxer kann dich nicht besuchen kommen, er darf die Zelle nicht betreten. Aber er wird gegen Abend mal mitkommen, wenn ich mit ihm raus muss, schauen wir bei dir vorbei und dann kannst du mit ihm reden, auch zu ihm auf Wiedersehen sagen und ihm das von der Zeit erzählen. Er sieht so friedlich aus. So friedlich, als würde er sagen: Das mache ich, verlass dich drauf, das werde ich tun.
Es ist kalt draußen. Der Wind pfeift so laut, dass sie ihn hört. Fernes Donnergrollen erfüllt die Luft. Sie drückt den Schlüssel so fest in ihrer Faust, dass sie den Schmerz spürt. Alles durch einen Schleier, genau, wie sie ihn sieht. Sie fragt sich, wo er jetzt ist und ob es ihm dort gut geht. Sie fragt sich, wie lange sie wohl noch braucht, um ihm zu folgen und was dann kommt, ob es überhaupt ein gemeinsames Leben oder Sterben geben wird und geben kann. Sie fragt es nicht in Worten, sondern in Augenblicken; alles rauscht an ihr vorbei wie Momentaufnahmen.
Ihr ist, als blinzle er ihr zu. Sie will sich setzen, aber es gibt keinen Stuhl. Allmählich gehen ihr auch die Tränen aus, die sie weint, ohne zu wissen, warum. Es gibt doch eine Gemeinsamkeit, ein gemeinsames Leben, ein gemeinsames Sterben, eine gemeinsame Welt – wieso also weint sie? Sie weiß es nicht. Sie umklammert den grünen Schlüssel, der zu seiner Zelle führt; Nummer drei. Sie überlegt auch, ob sie die beiden großen Kerzen links und rechts neben ihm anzünden soll, alles wirkt so steril, so kalt, vielleicht würden die Kerzen ihn wärmen und die Kälte beseitigen. Sie sagt: In ein paar Tagen gibt es auch deinen Körper nicht mehr, dann wirst du in einer Urne zu Grabe getragen und das ist alles, was von dir übrigbleibt. Alles, was von uns übrigbleibt. Von unserem Leben. Sie denkt; du hast aufgehört zu atmen, bist gegangen, warum? Sie denkt es, sie sagt es nicht, ihre Stimme hat versagt, ihr Schluchzen ist im Boden versunken.
Sie beugt sich weit über ihn – so friedlich, so zart sieht er aus, richtig zerbrechlich und verloren – und haucht ihm einen Kuss durch das Glas auf die Stirn, weint lautlos und lächelt. Sie verabschiedet sich von ihm, sagt, sie komme bald wieder, presst die Jacke mit dem Schlüssel fest an sich und verlässt die Zelle. Sie geht durch den Friedhof, an den vielen Gräbern vorbei nach Hause. Zu Hause angekommen, macht sie sich Sorgen um ihn, denkt; hat er auch genug zu essen, ist ihm auch nicht kalt? Ich hätte vielleicht doch die Kerzen anzünden sollen, bitte sei mir nicht böse, morgen mache ich sie an, damit sie dich wärmen und damit sie dir Licht geben, denn du hast sicher Angst im Dunkeln. Sie denkt: Er wird doch verhungern, so lange hat er schon nichts mehr gegessen. Ich werde ihm sein Lieblingsessen machen und bringen. Ich werde ihm eine Jacke mitbringen müssen, wenn ich wiederkomme. Und Boxer, von Boxer muss er sich verabschieden, bevor er geht.
Sie lächelt, lässt den grünen Schlüssel nicht los, presst ihn an sich wie einen Schatz.
Morgen komm ich wieder, sagt sie, morgen komm ich dich wieder besuchen und bring dir alles mit, heute kann ich nicht mehr, der Weg ist so weit, weißt du, und ich kann doch kaum laufen. Aber morgen, morgen komme ich bestimmt, verlass dich drauf. Und dann lese ich dir dein Lieblingsmärchen vor, das hattest du doch so gerne und ich werde dir von deiner Freundin erzählen, die hast du doch so geliebt.
Sie lächelt. Draußen peitscht der Regen an die Scheiben. Sie hört seine Schritte; das Zögern nach einer bestimmten Zeit. Sie hört, wie er sich die Hände wäscht und das Wasser rauscht. Gleich schlüpft er zu mir, denkt sie und schläft ein. Den grünen Schlüssel presst sie fest an ihre Brust. Er ist alles, was ihr von ihm noch geblieben ist. Morgen nimmt sie Abschied von ihm. Morgen ganz bestimmt.

© Stefanie Kißling, 22. September 2003

 

Hi stephi!

Eine anrührende Geschichte, die ihre volle Wirkung mit dem letzten Satz entfaltet. Ehrlich, bei mir hat sie gewirkt.
Was nicht heißt, dass es nichts zu bemängeln gab. Doch was mir wirklich gefallen hat, war die seiche Melancholie, die wie ein Schleier über dem Ganzen hing.

Mir fehlten im ersten Drittel die äußeren Einflüsse ein wenig, Gefühle und Emotionen, die von Äußerlichkeiten kommen(hab ich das jetzt passend ausgedrückt?:( )

Gegen Ende dann drehen sich die Beschreibungen im Kreis, da könntest du vielleicht ein wenig kürzen. Es wird nichts Neues mehr geboten, alles schon erklärt.
Wie schon gewohnt, ist der Text geprägt von handwerklicher Professionalität, sehr schön.

Doch wie gesagt, die Melancholie, diese Traurigkeit, hat mich angerührt.

Soweit von mir,
Viele Grüße von hier!

 

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