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Der Goldfisch

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05.02.2014
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Der Goldfisch

Als ich Studienrat Behrens nach gut zehn Jahren wiedersah, beugte er sich gerade über einen Stapel naturwissenschaftlicher Bücher, den ich in die dunkelste Ecke meines Antiquariats geschoben hatte. Die Begeisterung, mit der er einen Band nach dem anderen behutsam in die Hände nahm, um ihn von allen Seiten zu betrachten, rührte mich. Nicht jeder Kunde behandelte das, was mir am Herzen lag, mit solcher Sorgfalt. Meine Vorliebe für Naturwissenschaften hielt sich zwar in Grenzen, doch all meine seltenen Bücher hatten einen ideellen Wert und ihr Besitz machte mich stolz. Die kräftig schlanken Hände von Herrn Behrens strichen über Umschläge, wanderten durch vergilbte Seiten, klimperten über Buchrücken, als spielte er mit Leichtigkeit die Tasten eines Klaviers. Tatsächlich war mir einen Moment, als hörte ich ein weiches Tremolo.
Er war zwei Jahre lang mein Lehrer in Mathematik und Physik gewesen, den Fächern, die ich am meisten gefürchtet hatte. Vor Herrn Behrens musste allerdings niemand Angst haben. Wenn er in seinem immer gleichen mausgrauen Anzug, gekrönt mit einer weinroten Fliege, zerstreut durch die Flure eilte, kicherten wir pubertierenden Schülerinnen und Schüler hinter ihm her oder ignorierten ihn, weil er weder als Vorbild noch als Objekt der Begierde brauchbar war. Anders als unser muskelüberladener Sportlehrer oder der derbe Schulhausmeister, dessen Werkzeugkasten genauso unübersichtlich war wie seine zotigen Witze. Für uns alle verkörperte Herr Behrens den Narren, der stundenweise aus seiner fremden, unscheinbaren Welt zu uns auf die Erde stieg, um uns mit überflüssigen Formeln zu langweilen.

Nachdem ich meinen alten Lehrer eine Weile beobachtet hatte, richtete er sich atemlos auf und strich sein dunkles, volles Haar zurück. Warum nur hatte ich es schütter und grau in Erinnerung?
»Sagen Sie, haben Sie wohl einen Karton für mich?« Sein Blick wanderte an mir vorbei, als fixierte er einen Schmetterling, der neben meinem Ohr flatterte. »Oder wären Sie so freundlich, die Bücher zu mir nach Hause zu liefern? Wenn Sie diesen Service überhaupt anbieten.«
Noch am selben Abend schleppte ich einen sperrigen Karton voller in Seidenpapier gewickelter Bücher drei knarrende Holztreppen hinauf. Herr Behrens öffnete, während ich noch auf den Klingelknopf drückte, als hätte er mich direkt hinter der Tür erwartet.
Im ersten Moment glaubte ich, mich in der Wohnung geirrt zu haben, so sehr hatte sich mein alter Lehrer verändert. Statt des grauen Anzugs trug er ein nachtblaues Hemd über einer hellen Leinenhose. Aufrecht stand er vor mir, nur sein Blick wanderte wieder an mir vorbei und verlor sich im Hausflur.
»Bitte kommen Sie herein.« Er nahm den Karton entgegen und stellte ihn neben den Tisch eines von Licht durchfluteten Wohnzimmers. Der hell geschrubbte Holzboden knarzte bei jedem seiner Schritte. Als ich meinen Mantel von den Schultern streifen wollte, war er schon hinter mir und nahm ihn mir ab.
Ich hatte ein muffig möbliertes Ein-Zimmer-Appartement erwartet und saß nun auf seiner kobaltblauen Ottomane vor einem Glastisch, in dem sich die Abendsonne spiegelte. Der Espresso, den er mir sofort anbot, war der beste, den ich je probiert hatte.
Verlegen betrachtete ich einen Goldfisch, der mich aus einem Aquarium anstarrte, das auf einem Tischchen neben mir stand. Immer wieder stieß der rotgoldene Fisch mit seinem zarten Maul an die durchsichtige Wand, als wolle er sie überwinden, um sich an meinem Gesicht festzusaugen. Oder um mich zu küssen? Ich unterdrückte ein Lachen und legte meinen Zeigefinger sacht auf das Glas. Da hatte ich schon einen Kuss. Plötzlich tauchte ein zweiter Fisch zwischen wogenden Pflanzen auf, schwebte heran und schmiegte sich an den ersten.
»Statt eines Fernsehers.« Herr Behrens lächelte seinen Fischen zu. »Und damit vertreibe ich mir sonst meine Zeit.« Er deutete auf Bücherwände, die jeden Zentimeter Tapete überflüssig machten.
Ich nickte, nippte an meinem Kaffee und nahm von dem Gebäck, das er vor mich hingestellt hatte. Natürlich interessierte ich mich für seine Sammlung, aber eine alte, längst abgelegt geglaubte Schüchternheit lähmte mich. Ich hatte mich auch früher nie in den Vordergrund gedrängt. Trotzdem überraschte mich meine kindliche Scheu.
»Vielleicht habe ich ein paar Schätze für ihr Geschäft.« Konzentriert schritt er die Regale entlang, blieb immer wieder stehen. Sein rechter Zeigefinger glitt über Buchrücken. Wenn sich sein Körper streckte, um ein Regal weit oben zu erreichen, zeichneten sich seine Muskeln durch den dünnen Stoff des Hemdes ab. Verlegen senkte ich den Blick, und als ich bemerkte, dass ich nun auf sein Gesäß starrte, spürte ich, wie sich gleich mehrere Hitzewellen über mein Gesicht ergossen.
Während meiner Schulzeit war mir nicht aufgefallen, dass er eine solch durchtrainierte Figur hatte. Damals hatten wir ihn für einen klapprigen, alten Kerl gehalten, ihn gar nicht wahrgenommen. Nun stellte ich fest, dass er zehn, allerhöchstens fünfzehn Jahre älter war als ich.
Herr Behrens hatte einen schmalen Band aus dem Regal gezogen, blätterte darin und lächelte. Dabei erstrahlte ein Kranz winziger Fältchen um seine Augen herum. Seine Mundwinkel hoben sich, wurden zu einem Lachen, das sich in zwei tiefen Grübchen verankerte. Verwirrt hörte ich mir selbst beim Schlucken zu, und als mir sogar ein Seufzer entschlüpfte, wurde mir mein unpassendes und hoffentlich unentdecktes Verhalten bewusst.
»Vielleicht können Sie die hier gebrauchen?« Mit ein paar in Leinen gebunden Büchern setzte er sich vorsichtig auf die Kante des Sofas neben mich und wischte ein paar Krümel zur Seite.
»Ich habe sie doppelt«, beantwortete er meinen fragenden Blick, und sah mir zum ersten Mal ins Gesicht. Jetzt wich ich ihm aus und betrachtete den Schemen meines Oberkörpers im Glas der Tischplatte.
Er lachte verhalten. »Wundern Sie sich darüber, dass so ein Langweiler wie ich nicht nur Fachbücher liest?«
Ich lächelte verwirrt und schüttelte den Kopf. Ruhig schenkte er Kaffee nach. Seine Hand streifte meine. Für einen Moment hielten wir beide inne. Ich vergaß, zu atmen.
Als ich wieder Luft bekam, spürte ich eine Mischung aus Leere und Taubheit im Körper. Mein Kopf dagegen glühte schon wieder und ich hoffte inständig, dass diese Hitze nicht sichtbar werden würde, solange ich mich in dieser Wohnung aufhielt. Meine Sprachlosigkeit, die in seiner Nähe begonnen und sich bisher nicht aufgelöst hatte, empfand ich jetzt als Segen. So war es besser, als wenn mir ein gehauchtes Wort entglitte, denn mehr als einen Hauch hatte ich heute nicht zu bieten. Noch ein paar Minuten und ich würde ohnehin die Fassung verlieren, also stand ich auf. Meine Beine waren mir fremd und weit entfernt, doch sie funktionierten. Der Tisch blieb stehen, ich knickte nicht ein, sondern schritt, nur ein wenig steifbeinig, in Richtung Garderobe.
Als er mir in den Mantel half, stellte ich mir bereits vor, seine Hände, mindestens aber seine Blicke glitten über meinen ganzen Körper, und zwar unterhalb meiner Kleidung. In Wirklichkeit hielt er mich wahrscheinlich für genauso dumm wie stumm und hatte keinerlei Interesse an mir. Was bildete ich mir da nur ein?
»Ich würde sie gern wiedersehen. Vielleicht auf ein Glas Wein?« Er inspizierte den Boden zu meinen Füßen, als bemerke er mein Zusammenzucken nicht. Bevor ich antworten konnte, fuhr er auch schon fort: «Ich weiß, Lehrer und Schüler ..., aber das ist ja längst vorbei.
Ich sah ihn erstaunt an.
»Ja, ich habe Sie sofort wiedererkannt. Natürlich. Ich habe Sie immer sehr gemocht. Also?«
Zum ersten Mal trafen sich unsere Augen. Seine strahlten grün und waren ohne Scheu. Ich nickte, noch immer stumm. Von meinem Mitleid, das ich noch vor Stunden für ihn übrig gehabt hatte, war gerade mal das Leid geblieben und verwirrt stolperte ich die Treppe hinunter.

Als ich das Haus betrat, rasten die Zwillinge über den Flur auf mich zu, und schon hing rechts ein kleiner Cowboy, links ein Indianer an meinen Beinen. Ihr Begrüßungsgeheul lockte meine Frau aus der Küche. Sie strich sich lachend mit dem Unterarm über die Stirn und warf mir einen Kuss zu.
In meiner Hand brannte der Hausschlüssel. Ich hatte von Männern gehört, die in solch einem Moment eine Kehrtwendung machten, die Tür leise hinter sich schlossen und für immer aus dem Leben ihrer Familien verschwanden.
»Ich wasche mir nur schnell die Hände«, rief ich, schlich ins Bad und drehte beide Wasserhähne weit auf.

 
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Hallo Sylvi,
willkommen bei den Wortkriegern. Zuallererst, damit du es für die Zukunft besser weißt: Anmerkungen oder andere Texte, die nicht Teil der Geschichte sind, gehören als Kommentar darunter. Ist ja nicht weiter schlimm.

Was mich die gesamte Zeit über gestört hat, war das Bild, welches hier wieder einmal von Schwulen erstellt wird. Dass sie jedem anderen Schwulen am liebsten gleich an die Wäsche würden etc., alles wird auf unrealistische Weise extrem romantisiert, ich spreche hier von der wundersamen "Verjüngung" des Lehrers, was vollkommen unnötig war und arg befremdet. Oder eben, als sich der Protagonist auf den Heimweg machen will, entwickelt er sogleich sexuelle Fantasien über sich und seinen Lehrer, den er zehn Jahre nicht mehr sah und den er in der Schule als albern und dadurch vielleicht ein wenig sympathisch erachtete ... aber jetzt, da sich die Vermutung anbahnt, er sei schwul, oh, schon geht's rund in seinem Kopf. Und Herr Behrens ist ja so freundlich und "plötzlich" richtig sexy!

Ruhig schenkte er Kaffee nach. Seine Hand streifte meine. Für einen Moment hielten wir beide inne. Ich vergaß, zu atmen.

Es ist einfach das häufig in den Sechzigern verwendete Thema "Junge Person entdeckt ihre (manchmal auch unterdrückte) Sexualität mit einer älteren, reiferen Person", gepaart mit der Affäre, wie wir sie zum Beispiel aus dem Film "Mama ist beim Friseur" von 2008 kennen, immer ummantelt von diesem schrecklichen Klischeebild homosexueller Männer.
Tut mir leid, nein!

Nombreux

 

Liebe Mitautoren und -innen,

hier ist meine erste Geschichte für das Forum. Ich bin gespannt auf eure Kritik und Vorschläge, freue mich darauf!


Der Goldfisch

Solche Anmerkungen bitte separat.

 

Hallo Sylvi,

ich habe mich gefragt, was für Dich die Bedeutung der Geschichte ist, denn ich konnte sie nicht ganz einordnen.
Geht es darum, jemanden von früher wieder zu treffen und plötlzich zu merken, dass die Person ganz anders ist?
Oder geht es um erotische Spannung, dann in dem Clou gipfelt, dass der Leser dachte, es handele sich um Mann und Frau, was gar nicht stimmt?

Wenn es um die Person von früher geht, finde ich die Idee sehr schön. Sie ist mir nur zu rasch erzählt.

Nachdem ich meinen alten Lehrer eine Weile beobachtet hatte, richtete er sich atemlos auf und strich sein dunkles, volles Haar zurück. Warum nur hatte ich es schütter und grau in Erinnerung

Kleinigkeit: warum atemlos? vom mit Leichtigkeit über die Buchrücken tremolieren ist er doch nicht außer Atem geraten. Ist er vielleicht aufgeregt? Warum plötzlich?
Aber das Haar erschien früher schütter und grau und ist jetzt dunkel und voll? Das erscheitn mir irgendwie nicht plausibel. Scheinbar erschiend er Lehrer früher nicht nur wie ein Vollidiot, sondern auch von lächerlichem Äußeren, war aber in Wahrheit ein Adonis. Das ist mir irgendwie zu stark.
Vielleicht gibt es Anteile, die dem Erzähler früher nicht aufgefalen waren und andere Anteile, die sich verändert hatten. Oder manches ist noch genauso, und der Erzähler merkt, dass er jetzt anders darüber denkt. Da sind vielleicht plötzlich noch andere Erinnerungen an früher. Da sind auch jetzt gemischte Empfindungen etc. Ich hoffe, Du verstehst was ich meine. Mir geht die Verwandlung einfach zu schnell und zu glatt.
Ansich gefällt mir die Idee: der olle Typ von früher ist eigentlich doch interessant. Ich würde diese Geschichte gerne lesen.

Sollte es mehr um die erotische Spannung gehen, hilft die Geschichte von früher glaube ich gar nicht (eben wegen der Glaubwürdigkeit). Ich finde erotische Spannung in einem Text sehr schwer, da es sehr schnell ins klischeehafte abdriftet und in blumige Beschreibungen.

Die kräftig schlanken Hände von Herrn Behrens strichen über Umschläge, wanderten durch vergilbte Seiten, klimperten über Buchrücken, als spielte er mit Leichtigkeit die Tasten eines Klaviers.

Hier geht es mir persönlich schon ein Stück zu weit - kräftig schlanke Hände klimperten... mir wird da zu viel gesagt, wie ich das zu empfinden habe, was geschieht. Ist aber einfach nur mein Geschmack und bestimmt gibt es hier andere Meinungen.

Was ich dagegen gut finde ist diese Stelle

Meine Beine waren mir fremd und weit entfernt, doch sie funktionierten. Der Tisch blieb stehen, ich knickte nicht ein, sondern schritt, nur ein wenig steifbeinig, in Richtung Garderobe.

Die Beine sind kaum unter Kontrolle, man weiß nicht, ob sie den Dienst nicht versagen - ob nicht vielleicht sogar die Tischbeine nachgeben. Die Übertreibung und Erweiterung der eigenen Empfindung wird hier deutlich, ohne dass sie mir durch Adjektive vorgegeben wird.

Was ich mag ist das Ende. Es hat die richtige Länge, es gibt eine Idee vor, aber lässt doch alles offen. Hier finde ich auch die Beschreibungsintensität gut: Es ist sehr faktisch, nur der Schlüssel brannte, ein starkes Verb. Dieser Kontrast zwischen Alltag und der neuen, heimlichen Erregung kommt für mich sehr gut herüber so.

Das "Schwulenklischee" ist mir persönlich nicht aufgefallen. Ich bin ja auch erst von einer Hetero-Situation ausgegangen. (Was nicht heisst, dass es nicht trotzdem ein Klischee sein kann)

Ich hoffe, das hilft Dir weiter.

Viele Grüße,
Liva

 

Hallo Nombreux,

vielen Dank für deinen Kommentar und den Hinweis über die verkehrte Plazierung des zusätzlichen Textes.

Die Geschichte hat dich ja richtig genervt! Dabei ist sie ursprünglich so konzipiert, dass die Erzählstimme weiblich ist. Erst kurz bevor ich sie eingestellt habe, fand ich das zu langweilig und habe darum ausschließlich das Ende umgebogen.
Bedient die Geschichte im Fall einer weiblichen und männlichen Person auch ein Klischee? Du kennst wahrscheinlich das Problem der Betriebsblindheit. Ich kann meine eigenen Produkte überhaupt nicht mehr einschätzen, vor allem deshalb, weil ich sie sehr oft korrigiere und dann total verstrickt bin.

Deine erotischen oder eher schon sehr sexuell orientierten Interpretationen kann ich nicht ganz nachvollziehen. Ich glaube, du legst mehr in die Gedanken der Figuren, als je angedacht war.

Über Klischees denke ich auf jeden Fall noch einmal gründlich nach. Ein Minenfeld, in das ich sicher häufiger trete als mir lieb ist.


Viele Grüße

Sylvi

 

Hallo Sylvi!

Deine Geschichte gefällt mir gut. Dem Lehrer ist es offenbar gelungen, die bis dahin verborgene homoerotische Saite in der Seele seines Ex-Schülers zum Klingen zu bringen. Zu dieser metaphorischen Ausdrucksweise mit der Saite, die den Ex-Schüler mit einem Musikinstrument vergleicht, hat mich diese sehr poetische Stelle angeregt:

Die kräftig schlanken Hände von Herrn Behrens strichen über Umschläge, wanderten durch vergilbte Seiten, klimperten über Buchrücken, als spielte er mit Leichtigkeit die Tasten eines Klaviers. Tatsächlich war mir einen Moment, als hörte ich ein weiches Tremolo.

Es ist ein Archetypus, das heißt, eine allen Menschen angeborene Vorstellung, dass bei einem Sexualakt der Körper der Frau ein Musikinstrument ist, auf dem ein Mann spielt - ein Beispiel findet sich in der Autobiographie von Uschi Obermaier, als sie ihr Liebeserlebnis mit Jimi Hendrix schildert:

Es war eine ganz besondere Anziehungskraft, und dass ich Jimi Hendrix nicht verfehlen würde, hatte ich schon während des Konzerts gewusst. Lauter, hatte ich mir gewünscht, wenn er zu sanft wurde; mehr, wenn er die Gitarre so nah vor den Lautsprechern baumeln ließ, dass die Rückkopplungen durch den Saal pfiffen und kreischten. Jimi Hendrix hatte seinem Publikum nichts geschenkt und mir alles gegeben. Er hatte seine Hits in Stücke gehauen und es auf der Bühne seiner Gitarre besorgt, schnell und brutal, und das Instrument hatte gewinselt und gewimmert und geschrien, und ich hatte mitgeschrien und mitgewimmert, und als es vorüber war, brannte die Gitarre, und in mir hallte es nach und hörte nicht auf. Und die Jungs, die mich kannten, merkten, dass es keinen Zweck hatte, mich anzusprechen.
...
Er warf sein Hemd in die Ecke und zeigte mir seine weiche, dunkelbraune Haut. Er öffnete mein Oberteil, er improvisierte mit den Fingerspitzen zum Rhythmus meines Pulsschlages, dann steigerte er behutsam das Tempo, und es war ganz leicht, ihm dabei zu folgen. Er war sanfter mit mir als mit der Gitarre, er war genauso viruos, und er brauchte kein Benzin, um mich in Brand zu stecken

Dein Ich-Erzähler, der als Familienvater seinen Kindern ein - heterosexuelles - Vorbild sein will, hat mit Hilfe des Lehrers seine weibliche Seite (Saite) entdeckt und ist zunächst verwirrt und beschämt - das hast du dichterisch sehr schön umgesetzt!

Grüße
gerthans

 
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Liebe Liva,

vielen Dank für deine ausführliche Kritik!

Ja, in der Geschichte geht es um verschiedene Blickwinkel, und zwar die eines einzelnen Menschen.
Schüler-innen haben sicher eine ganz andere Einschätzung Lehrer betreffend als eine erwachsene Person, die nicht mehr unter einem schulischen Druck steht. Diese Erzählung ist nicht autobiografisch, aber ich erinnere mich an einen Lehrer, vor dem ich immer Angst hatte. Viele Jahre später habe ich ihn in einer Kneipe ziemlich angeheitert wieder getroffen. Als Jugendliche war mir nicht bewusst, dass diese Personen, die mich mit unverständlichem Stoff quälen, Menschen sind, und zwar in diesem Fall ein recht attraktiver, wenn auch alkoholisiert.

(Ich bin gerade etwas irritiert, weil ich dir eine lange Antwort geschrieben habe, die sich aber in Luft aufgelöst hat. Also ein neuer Versuch.)

Diese Autoritätshörigkeit gehört in die sechziger und siebziger Jahre und ist somit vielleicht nicht für alle Leser nachvollziehbar. Zu diesen Kindheits- und Jugendängsten gehörte natürlich auch Abscheu. Die Person, vor der ich Angst habe, ist alt, böse, hexengleich. Jahre später relativiert sich diese Meinung natürlich, wenn ich mit dem anderen auf etwa gleicher Höhe bin.

Mit deinen Anmerkungen zur schnellen Verwandlung hast du aber Recht. Auch wenn mir als schüchterne Schülerin (oder Schüler) ein Lehrer wie ein Tattergreis erscheint, kann ich ihn nicht ein paar Jahre später als durchtrainierten schönen Mann auferstehen lassen. Hier werde ich also noch feilen.
Und die kräftigen, schlanken Hände verschwinden auch ganz schnell!
Erotische Spannung sollte sich nur am Rand bemerkbar machen. Ich bin ganz deiner Meinung: Das ist ein schwieriges Gebiet und es ist nicht ganz leicht, die kitschige Ebene zu umschiffen. Da sind wir wieder beim Klischee. Mir fällt es schwer, die eigene Arbeit einzuschätzen. Aber um genau dafür eine Rückmeldung zu bekommen, bin ich ja hier.

Danke für deine Tipps und natürlich dein Lob!

Viele Grüße

Sylvi

 

Hallo gerthans,

gerade bin ich aus dem Bad deines Kommentares gestiegen - sehr entspannend. Danke dafür!
Es ist interessant, wie unterschiedlich eine Geschichte interpretiert wird und welche Saiten sie zum Klingen bringt. Nebenbei hast du mich an das Thema Archtypen erinnert. Das wollte ich doch auch immer mal vertiefen. Man kommt ja zu nix.

Viele Grüße

Sylvi

 
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Hallo Sylvi,
ich habe Deine Geschichte sehr gern gelesen, interessant, glaubhaft geschrieben und das Ende hat mich überrascht.

Wenn er in seinem immer gleichen mausgrauen Anzug, gekrönt mit einer weinroten Fliege zerstreut durch die Flure eilte,
Da fehlt ein Komma nach der Fliege.
Gute Nacht und liebe Grüße von Damaris

 

Hallo Damaris,

ich war eine Weile nicht hier, habe eben erst deinen Kommentar gelesen und das Komma gleich eingefügt.

Ich freue mich über deine Bewertung!

Liebe Grüße
Sylvi

 

Hallo Tashmetum und herzlich willkommen,

schön, dass du gleich im Goldfischglas gelandet bist.

Ja, du hast völlig Recht mit dem too much. Ich habe die Geschichte hier im Forum nicht verändert, werde sie mir aber, sobald ich Zeit finde, zusammen mit den Kommentaren noch einmal ansehen.

Der Studienrat hat seinen Schüler nicht fixiert, weil er in der Schule nicht offen zu seiner Homosexualität stehen kann. Nimm an, die Schulzeit lag in den Siebzigern. Da stand Homosexualität noch unter Strafe, wenn ich mich nicht irre.
Er ist auch nicht der Typ, der starrt, eher einer, der mit der Tapete verschmilzt und erst aus der Deckung kommt, wenn er es für richtig hält. Schüchtern ist er natürlich auch. Aber in seiner Verliebtheit wagt er einen Schritt, der vielleicht sogar für ihn selbst neu ist.

Schmetterling? Da fliegt tatsächlich irgendwo ein Schmetterling? Den suche ich gleich, ist mir entfallen.
Schmetterlinge sind denn doch ein bisschen ... ähm, kitschig.

Viel Spaß hier für dich und Grüße

Sylvi

 
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Hey,
ich finde, das ist eine gute Geschichte. Was mich besonders freut, ist, dass du (als Neuankömmling hier) sprachlich echt schon was auf dem Kasten hast - bei vielen Neuen hauen mich unnötige Schreibfehler oder einfach schlechte Sprache raus, bei dir gar nicht.

Als ich Studienrat Behrens nach gut zehn Jahren wiedersah, beugte er sich gerade über einen Stapel naturwissenschaftlicher Bücher, den ich in die dunkelste Ecke meines Antiquariats geschoben hatte.
Ich finde das auch einen schönen Einstieg. Da fragt man sich gleich, was es mit diesem Typ auf sich hat.

Die Begeisterung, mit der er einen Band nach dem anderen behutsam in die Hände nahm, um ihn von allen Seiten zu betrachten, rührte mich. Nicht jeder Kunde behandelte das, was mir am Herzen lag, mit solcher Sorgfalt.
Das sind so kleine Beobachtungen, die solltest du unbedingt beibehalten und ggf. auch gerne ausbauen, durch Körperhaltung oder Gestiken eine Figur zu beschreiben, finde ich immer eine sehr feine Art, diese zu beschreiben.
Also einerseits kann ich mir den Studienrat schon gut vorstellen. wie gesagt - aber was ich schlecht finde, ist, dass er (nach zehn Jahren) dann plötzlich 'jung' aussieht, so mit Muskeln und so - das hat mich rausgehauen, soll das ein Kunstgriff sein oder so, einfach, um zu zeigen, dass der Prot auf ihn steht bzw ihn attraktiv findet? Ich würde den einfach bisschen gealtert sein lassen, und sagen, dass er in diesem Hemd das erste mal muskulös aussieht, dass man seine sportliche Figur in seinen Anzügen früher nicht gesehen hat. Weil aonst haut mich das raus, niemand verjüngt sich.

der derbe Schulhausmeister, dessen Werkzeugkasten genauso unübersichtlich war wie seine zotigen Witze.
Da stimmt hinkt irgendetwas in deinem Vergleich. Unübersichtliche Witze?

Sein Blick wanderte an mir vorbei, als fixierte er einen Schmetterling, der neben meinem Ohr flatterte.
Cool!

»Oder wären Sie so freundlich, die Bücher zu mir nach Hause zu liefern? Wenn Sie diesen Service überhaupt anbieten.«
Das finde ich sehr eigenartig. Also ich hab noch nie von so einem Lieferservice gehört - gibt es das wirklich? Weil ich das nicht kenne, wirkt das auf mich eben etwas aufgesetzt; so, als ob der Autor hier etwas krampfhaft ein Szenario herbeischaffen will, in dem die beiden Figuren auf engem Raum aufeinandertreffen

Immer wieder stieß der rotgoldene Fisch mit seinem zarten Maul an die durchsichtige Wand, als wolle er sie überwinden, um sich an meinem Gesicht festzusaugen. Oder um mich zu küssen?
Ich finde, einerseits sollten Vergleiche originell und passend sein; aber wenn man über diese Liga hinausgehen will, dann müssen Bilder meiner Meinung nach irgendwas mit Tiefe ausdrücken, wie zum Beispiel hier das Innenleben des Prots. Das finde ich immer sehr cool, wenn jemand so ein Bild hinkriegt, das mehr aussagt als bloß: Da ist ein Fisch. Offshore hat in einer Story neulich einen Barkeeper gehabt, und der hat eine auf die Nase bekommen, und dann hat er geschrieben, dass ihm das Blut wie aus einem Zapfhahn aus der Nase fließt; das fand ich auch ziemlich schön.

eine alte, längst abgelegt geglaubte Schüchternheit lähmte mich.
Das ist auch toll ausgedrückt. Also wie gesagt, ich finde, auf die Kürze deines Textes hast du da einige schöne Sätze reingepackt und auch sprachlich ist das Ding solide.

Ja, und dann kommt das Ende und die Auflösung: Der Prot ist eigentlich ein Mann. Ich fand das gut, das war nicht vorhersehbar, das hat mich überrascht und wertet deine Story auf jeden Fall auf, so eine überraschende Wendung zum Schluss, ansonsten wäre dein Text nur ein kurzer Ausschnitt, eine kurze Szene eines Lebens - mit der unerwarteten Wendung zum Schluss gibst du mir als Leser das Gefühl, dass da doch eine abgeschlossene Handlung gerade erzählt wurde.

Du merkst, mir hat dein Text gefallen; hat mich echt positiv überrascht. V.a. die sprachliche Umsetzung als auch die Handlung fand ich unterhaltsam und interessant; also mir kam das nicht abgedroschen vor oder so. Gut, ich weiß jetzt nicht, wie du als Autor auf längere Strecke einen Text ziehst, ob sich dann Schwächen offenbaren, die bei der Kürze dieses Textes nicht offenbar wurden, aber mir hat es auf jeden Fall gut gefallen, dein Story. Bin gespannt, was man noch so von dir hört hier.

Grüße

 
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Hallo Zigga,

danke für dein Lob und deine Kritik!

Dieses Jungsein, das der Protagonist plötzlich bemerkt, lasse ich mir noch einmal durch den Kopf gehen.

Der Grundgedanke dabei war, dass ich als sehr junger Mensch jeden, der auch nur wenig älter und vielleicht in meinen Augen ulkig angezogen war, als alt empfunden habe. Dieser Blickwinkel ändert sich mit der Zeit. Ich habe das früher recht stark so empfunden. Mit sechzehn Jahren waren über Zwanzigjährige schon alt für mich, zum Teil in anderen Welten schwebend, völlig abseits meines Alltags.
Junge Lehrer und Referendare waren interessant, aber unerreichbar oder kauzig und somit alt und hässlich. Dabei waren das meisten ganz unsichere, nur wenig ältere Männer (und Frauen, die ich nicht ganz so spannend fand.)
Eine vor Jahrzehnten noch sehr verbreitete Autoritätshörigkeit hat alle Menschen, die 'über mir standen' und zum Beispiel Angst in Form von Schulversagen ausgelöst haben, verzerrt. ich habe nie den Menschen gesehen, sondern immer eine Fratze - oder eine schöne Maske.
Auf diesen Blickwinkel bezogen, habe ich hier also meine vergangene Realität beschrieben. Das war allerdings nicht Sinn der Geschichte. Der ergibt sich oft erst im Nachhinein.
Ich weiß, dass mein Sohn die Welt mit ganz anderen Augen sieht, als ich das getan habe.

Diese Geschichte werde ich noch einmal bearbeiten und dabei deine und auch die Kritikpunkte anderer einbeziehen.

Viele Grüße
Sylvia

Hier ist meine zweite Antwort für dich. Gut, dass du mich per Nachricht auf deine Erweiterung aufmerksam und supernett, dass du dir überhaupt diese Mühe gemacht hast!

Der Hausmeister mit den unübesichtlichen Witzen. Vielleicht gibt es die nicht. Mir sind dabei wahrscheinlich Leute eingefallen, die fürchterlichen Mist erzählen, den selbst lustig finden und nicht verstehen, dass andere nichts damit anfangen können. Außer denen, die den Witzeerzähler toll finden und pflichtbewusst lachen. Oder sie tun es aus der Angst heraus, den Witz nicht verstanden zu haben, kichern also, um nicht für blöd gehalten zu werden. So denke ich mir im Nachhinein meine
Wortwahl.

Ja, es gibt sie noch, die Lieferung nach Hause. Gerade kleine Geschäfte machen das, um konkurrenzfähig zu bleiben. In Dörfern ist das sowieso kein Thema. Da wird natürlich die gute neunzigjährige Kundin, die nicht mehr schleppen kann, beliefert.
Aber auch, wenn der Protagonist es bisher nicht in Erwägung gezogen hätte, ist er jetzt natürlich neugierig, interessiert, bereit für ungewöhnliche Dienstleistungen.

Einen längeren Text gibt es im Herbst als Novelle. Zumindest hoffe ich, dass Verleger, Grafikerin, meine eigene Schubkraft und die Druckerei das gemeinsam hinbekommen.

Du hast mich mit deiner Einschätzung sehr beflügelt - DANKE!

Viele Grüße

Sylvi

 

Hallo Tashmetum,

das ist gut! Dein Vorschlag zeigt gleichzeitig eine Entwicklung der Figur.
Ja, das behalte ich bestimmt im Kopf. Vielen Dank!

Im Augenblick sind meine Gedanken allerdings bei der Veröffentlichung eines Buches, und ich werde mich erst später intensiver um eine Veränderung der Geschichte kümmern können.

Viele Grüße

Sylvi

 

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