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Der Goldfisch
Als ich Studienrat Behrens nach gut zehn Jahren wiedersah, beugte er sich gerade über einen Stapel naturwissenschaftlicher Bücher, den ich in die dunkelste Ecke meines Antiquariats geschoben hatte. Die Begeisterung, mit der er einen Band nach dem anderen behutsam in die Hände nahm, um ihn von allen Seiten zu betrachten, rührte mich. Nicht jeder Kunde behandelte das, was mir am Herzen lag, mit solcher Sorgfalt. Meine Vorliebe für Naturwissenschaften hielt sich zwar in Grenzen, doch all meine seltenen Bücher hatten einen ideellen Wert und ihr Besitz machte mich stolz. Die kräftig schlanken Hände von Herrn Behrens strichen über Umschläge, wanderten durch vergilbte Seiten, klimperten über Buchrücken, als spielte er mit Leichtigkeit die Tasten eines Klaviers. Tatsächlich war mir einen Moment, als hörte ich ein weiches Tremolo.
Er war zwei Jahre lang mein Lehrer in Mathematik und Physik gewesen, den Fächern, die ich am meisten gefürchtet hatte. Vor Herrn Behrens musste allerdings niemand Angst haben. Wenn er in seinem immer gleichen mausgrauen Anzug, gekrönt mit einer weinroten Fliege, zerstreut durch die Flure eilte, kicherten wir pubertierenden Schülerinnen und Schüler hinter ihm her oder ignorierten ihn, weil er weder als Vorbild noch als Objekt der Begierde brauchbar war. Anders als unser muskelüberladener Sportlehrer oder der derbe Schulhausmeister, dessen Werkzeugkasten genauso unübersichtlich war wie seine zotigen Witze. Für uns alle verkörperte Herr Behrens den Narren, der stundenweise aus seiner fremden, unscheinbaren Welt zu uns auf die Erde stieg, um uns mit überflüssigen Formeln zu langweilen.
Nachdem ich meinen alten Lehrer eine Weile beobachtet hatte, richtete er sich atemlos auf und strich sein dunkles, volles Haar zurück. Warum nur hatte ich es schütter und grau in Erinnerung?
»Sagen Sie, haben Sie wohl einen Karton für mich?« Sein Blick wanderte an mir vorbei, als fixierte er einen Schmetterling, der neben meinem Ohr flatterte. »Oder wären Sie so freundlich, die Bücher zu mir nach Hause zu liefern? Wenn Sie diesen Service überhaupt anbieten.«
Noch am selben Abend schleppte ich einen sperrigen Karton voller in Seidenpapier gewickelter Bücher drei knarrende Holztreppen hinauf. Herr Behrens öffnete, während ich noch auf den Klingelknopf drückte, als hätte er mich direkt hinter der Tür erwartet.
Im ersten Moment glaubte ich, mich in der Wohnung geirrt zu haben, so sehr hatte sich mein alter Lehrer verändert. Statt des grauen Anzugs trug er ein nachtblaues Hemd über einer hellen Leinenhose. Aufrecht stand er vor mir, nur sein Blick wanderte wieder an mir vorbei und verlor sich im Hausflur.
»Bitte kommen Sie herein.« Er nahm den Karton entgegen und stellte ihn neben den Tisch eines von Licht durchfluteten Wohnzimmers. Der hell geschrubbte Holzboden knarzte bei jedem seiner Schritte. Als ich meinen Mantel von den Schultern streifen wollte, war er schon hinter mir und nahm ihn mir ab.
Ich hatte ein muffig möbliertes Ein-Zimmer-Appartement erwartet und saß nun auf seiner kobaltblauen Ottomane vor einem Glastisch, in dem sich die Abendsonne spiegelte. Der Espresso, den er mir sofort anbot, war der beste, den ich je probiert hatte.
Verlegen betrachtete ich einen Goldfisch, der mich aus einem Aquarium anstarrte, das auf einem Tischchen neben mir stand. Immer wieder stieß der rotgoldene Fisch mit seinem zarten Maul an die durchsichtige Wand, als wolle er sie überwinden, um sich an meinem Gesicht festzusaugen. Oder um mich zu küssen? Ich unterdrückte ein Lachen und legte meinen Zeigefinger sacht auf das Glas. Da hatte ich schon einen Kuss. Plötzlich tauchte ein zweiter Fisch zwischen wogenden Pflanzen auf, schwebte heran und schmiegte sich an den ersten.
»Statt eines Fernsehers.« Herr Behrens lächelte seinen Fischen zu. »Und damit vertreibe ich mir sonst meine Zeit.« Er deutete auf Bücherwände, die jeden Zentimeter Tapete überflüssig machten.
Ich nickte, nippte an meinem Kaffee und nahm von dem Gebäck, das er vor mich hingestellt hatte. Natürlich interessierte ich mich für seine Sammlung, aber eine alte, längst abgelegt geglaubte Schüchternheit lähmte mich. Ich hatte mich auch früher nie in den Vordergrund gedrängt. Trotzdem überraschte mich meine kindliche Scheu.
»Vielleicht habe ich ein paar Schätze für ihr Geschäft.« Konzentriert schritt er die Regale entlang, blieb immer wieder stehen. Sein rechter Zeigefinger glitt über Buchrücken. Wenn sich sein Körper streckte, um ein Regal weit oben zu erreichen, zeichneten sich seine Muskeln durch den dünnen Stoff des Hemdes ab. Verlegen senkte ich den Blick, und als ich bemerkte, dass ich nun auf sein Gesäß starrte, spürte ich, wie sich gleich mehrere Hitzewellen über mein Gesicht ergossen.
Während meiner Schulzeit war mir nicht aufgefallen, dass er eine solch durchtrainierte Figur hatte. Damals hatten wir ihn für einen klapprigen, alten Kerl gehalten, ihn gar nicht wahrgenommen. Nun stellte ich fest, dass er zehn, allerhöchstens fünfzehn Jahre älter war als ich.
Herr Behrens hatte einen schmalen Band aus dem Regal gezogen, blätterte darin und lächelte. Dabei erstrahlte ein Kranz winziger Fältchen um seine Augen herum. Seine Mundwinkel hoben sich, wurden zu einem Lachen, das sich in zwei tiefen Grübchen verankerte. Verwirrt hörte ich mir selbst beim Schlucken zu, und als mir sogar ein Seufzer entschlüpfte, wurde mir mein unpassendes und hoffentlich unentdecktes Verhalten bewusst.
»Vielleicht können Sie die hier gebrauchen?« Mit ein paar in Leinen gebunden Büchern setzte er sich vorsichtig auf die Kante des Sofas neben mich und wischte ein paar Krümel zur Seite.
»Ich habe sie doppelt«, beantwortete er meinen fragenden Blick, und sah mir zum ersten Mal ins Gesicht. Jetzt wich ich ihm aus und betrachtete den Schemen meines Oberkörpers im Glas der Tischplatte.
Er lachte verhalten. »Wundern Sie sich darüber, dass so ein Langweiler wie ich nicht nur Fachbücher liest?«
Ich lächelte verwirrt und schüttelte den Kopf. Ruhig schenkte er Kaffee nach. Seine Hand streifte meine. Für einen Moment hielten wir beide inne. Ich vergaß, zu atmen.
Als ich wieder Luft bekam, spürte ich eine Mischung aus Leere und Taubheit im Körper. Mein Kopf dagegen glühte schon wieder und ich hoffte inständig, dass diese Hitze nicht sichtbar werden würde, solange ich mich in dieser Wohnung aufhielt. Meine Sprachlosigkeit, die in seiner Nähe begonnen und sich bisher nicht aufgelöst hatte, empfand ich jetzt als Segen. So war es besser, als wenn mir ein gehauchtes Wort entglitte, denn mehr als einen Hauch hatte ich heute nicht zu bieten. Noch ein paar Minuten und ich würde ohnehin die Fassung verlieren, also stand ich auf. Meine Beine waren mir fremd und weit entfernt, doch sie funktionierten. Der Tisch blieb stehen, ich knickte nicht ein, sondern schritt, nur ein wenig steifbeinig, in Richtung Garderobe.
Als er mir in den Mantel half, stellte ich mir bereits vor, seine Hände, mindestens aber seine Blicke glitten über meinen ganzen Körper, und zwar unterhalb meiner Kleidung. In Wirklichkeit hielt er mich wahrscheinlich für genauso dumm wie stumm und hatte keinerlei Interesse an mir. Was bildete ich mir da nur ein?
»Ich würde sie gern wiedersehen. Vielleicht auf ein Glas Wein?« Er inspizierte den Boden zu meinen Füßen, als bemerke er mein Zusammenzucken nicht. Bevor ich antworten konnte, fuhr er auch schon fort: «Ich weiß, Lehrer und Schüler ..., aber das ist ja längst vorbei.
Ich sah ihn erstaunt an.
»Ja, ich habe Sie sofort wiedererkannt. Natürlich. Ich habe Sie immer sehr gemocht. Also?«
Zum ersten Mal trafen sich unsere Augen. Seine strahlten grün und waren ohne Scheu. Ich nickte, noch immer stumm. Von meinem Mitleid, das ich noch vor Stunden für ihn übrig gehabt hatte, war gerade mal das Leid geblieben und verwirrt stolperte ich die Treppe hinunter.
Als ich das Haus betrat, rasten die Zwillinge über den Flur auf mich zu, und schon hing rechts ein kleiner Cowboy, links ein Indianer an meinen Beinen. Ihr Begrüßungsgeheul lockte meine Frau aus der Küche. Sie strich sich lachend mit dem Unterarm über die Stirn und warf mir einen Kuss zu.
In meiner Hand brannte der Hausschlüssel. Ich hatte von Männern gehört, die in solch einem Moment eine Kehrtwendung machten, die Tür leise hinter sich schlossen und für immer aus dem Leben ihrer Familien verschwanden.
»Ich wasche mir nur schnell die Hände«, rief ich, schlich ins Bad und drehte beide Wasserhähne weit auf.