- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Der goldene Engel
Es war Heiligabend. In der großen Eingangshalle der Burg stand ein stattlicher Tannenbaum. Die Mägde hatten seine ausladenden Äste bereits mit roten, blauen und goldenen Kugeln geschmückt. Am liebsten hätte sich der Baum noch höher hinaufgereckt, um Platz für noch mehr Schmuck zu bieten. Doch da er keine Wurzeln hatte, konnte er auch nicht weiterwachsen.
Ein Knecht stellte eine lange Leiter vor ihm auf, um an die oberste Spitze zu gelangen. Hier sollte, wie jedes Jahr, ein großer, goldener Stern seinen Platz bekommen. Als der Mann die ersten Sprossen hinaufgestiegen war, erklang eine helle Stimme von der Treppe her: „Nein, heuer kommt kein Stern auf die Spitze des Baumes, sondern dieser herrliche Engel, den ich im Weihnachtsland erstanden habe.“
Mit schnellen Sprüngen lief die junge Grafentochter die letzten Stufen in die Halle hinunter. Ihre Augen leuchteten, als sie dem verdutzten Knecht einen grünen Karton übergab. Gebettet in hellblaues Seidenpapier lag ein Engel. Wie aus purem Gold blitzte und glitzerte er. Vorsichtig nahm das Mädchen die Figur heraus. Ein langes Kleid fiel in zahllosen Falten an dem Puppenkörper herab. Zwei Flügel aus weißen Federn breiteten sich an beiden Seiten aus.
Langsam, um den Engel ja nicht fallen zu lassen, kletterte der Knecht höher und höher die Leiter hinauf, bis er endlich an die Baumspitze heranreichte, wo er die goldene Figur aufsteckte. Zweimal drehte er sie noch hin und her, bis sie genau in der Mitte saß. Von hier oben konnte der Engel die ganze Halle überblicken. Strahlende Gesichter sahen zu ihm auf. Stolz hielt sich die Himmelsfigur kerzengerade. Schon immer hatte sie den Wunsch gehabt, einmal einen solch stattlichen Baum zu krönen. Dass dies auch noch in einer alten Burg geschah, machte sie umso glücklicher.
Nach dem Anbringen der Kerzen, verließen die Mägde und Knechte den Saal, um ihren weiteren Arbeiten nachzugehen. Es war noch viel zu tun, bis endlich am Abend die Geburt des Jesuskindes gefeiert werden konnte.
Der goldene Engel saß steif auf der Baumspitze und schaute sich neugierig um.
„Na, wie gefällt es dir dort oben?“, fragte die Tanne mit brummiger Stimme.
„Schön ist es. Ich fühle mich wie eine Königin, die gebieterisch auf ihr Volk herabsieht.“
„Welches Volk meinst du? Hier ist doch keine Menschenseele.“
„Ach, lieber Baum, du hast aber auch keine Fantasie. Die Untertanen sind die vielen Kugeln und Kerzen, mit denen du geschmückt bist.“
„Aha, so siehst du das also. Und welche Rolle spiele ich in deiner Königinnengeschichte?“
„Du? Du bist nur ein alter, knorriger Baum. Deine grünen Zweige passen zwar wunderbar zu den vielen bunten Kugeln. Aber ansonsten bist du nur ein Ständer, an dem alles Wunderbare aufgehängt wird.“
„Hm, ein Ständer bin ich für dich! Na warte! Wenn es mich nicht gäbe, dann hätten die Menschen keinen Weihnachtsbaum und du keine Baumspitze, von wo aus du kommandieren könntest!“ Wütend schüttelte sich die Tanne.
„Heh, was machst du da!“, rief der Engel. „Beinahe wäre ich hinuntergefallen.“
„Musst dich halt festhalten, mein Kleiner“, brummte der Baum und schüttelte sich ein zweites Mal.
„Hör endlich auf! Das ist kein Spaß mehr! Wenn ich auf den Boden falle!“
„Mir hat sowieso der Stern besser gefallen. Der war nicht so hochnäsig und vor allem nicht so vorlaut wie du!“
Noch einmal rüttelte die Tanne mit den Ästen. Doch dieses Mal ging sie zu weit. Der goldene Engel verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem lauten Schrei aus schwindelnder Höhe hinunter.
Gut, dass der Baum solch breite Zweige hatte. Kurz bevor die Himmelsfigur auf dem Boden aufschlug, streckte er einen Ast weit hinaus, so dass sich der Engel in den Nadeln festhalten konnte und nicht ganz hinunterfiel.
„Hab ich doch gut gemacht, oder?“, fragte der Weihnachtsbaum.
„Gut gemacht nennst du das? Schau mich doch an? Mein rechter Flügel ist fürchterlich zerrupft und der linke … Oh Gott, der linke ist abgerissen!“
Dicke Tränen kullerten dem Engel die Wangen hinunter und er sah überhaupt nicht mehr majestätisch aus.
„Jetzt heule bloß nicht. Du bist selbst schuld! Hättest du nicht so herumgeprahlt, wie schön du bist, und mich als Ständer für dich und den bunten Weihnachtsschmuck bezeichnet, hätte ich mich nicht ärgern müssen.“
In diesem Moment betrat das junge Mädchen die Halle. Ihr Blick richtete sich sogleich auf die Baumspitze. Dann folgte ein Schrei. „Wo ist der goldene Engel hin?“
Am liebsten hätte dieser „Hier“ gerufen. Aber Menschen konnten Dinge ja nicht verstehen. Also musste der Engel warten, bis das Mädchen ihn fand.
Gleich darauf lief es zur Tanne und fischte die zerzauste Engelfigur aus den Zweigen heraus.
„Was ist denn mit dir geschehen?“, fragte es. „So kannst du auf keinen Fall auf die Baumspitze zurück.“
Die Grafentochter schnappte den Engel und rannte aus der Halle.
Die Tanne sah ihnen traurig nach. Das hatte sie nicht gewollt. Nur einen kleinen Schrecken wollte sie dem eingebildeten Engel einjagen. Herunterfallen sollte er dabei nicht. Aber nun konnte es der Weihnachtsbaum nicht mehr ungeschehen machen.
Es dauerte lange, bis das Mädchen wieder in die Halle zurückkam. Doch wo war der Engel? Hatte sie ihn noch in der Werkstatt lassen müssen zum Trocknen des Leims?
Doch nein, es sollte schlimmer kommen, denn gleich darauf erschien erneut der Knecht mit der Leiter. Er stellte sie wieder vor den Baum, nahm den alten Stern, kletterte die Sprossen hinauf und steckte ihn auf die Spitze.
Das konnte nur bedeuten, dass der goldene Engel in diesem Jahr nicht mehr den Weihnachtsbaum schmücken sollte.
Aber wo war er nur?
Schluchzend und frierend lag der goldene Engel im eisigen Schnee. Die stolze Grafentochter hatte ihn achtlos in eine Ecke des Burghofes geworfen.
„Du kommst zu den Abfällen. Muss ich nächstes Jahr halt einen neuen kaufen“, hatte er sie noch sagen hören, als sie in den Stallungen verschwunden war, um den Knecht zu holen.
Zu allem Übel fing es nun wieder an zu schneien.
„Da wird man mich erst finden, wenn es im Frühjahr zu tauen beginnt. Ganz unansehnlich werde ich dann sein“, schluchzte die Himmelsfigur.
Bevor sie ganz von Schnee bedeckt wurde, fiel das Mondlicht auf ihr goldenes Kleid und ließ es aufblitzen.
„Mutter, schau mal, was da liegt!“, rief ein kleiner Junge, der mit einem schäbigen Mäntelchen bekleidet den Burghof überquerte. Schnell lief er hinüber zu der Stelle, wo der goldene Engel lag, wischte die Schneeflocken von dem Körper und hob die Figur behutsam hoch.
„Oh, ist der schön! Es fehlt zwar ein Flügel, aber den kann Vater doch flicken, oder?“
„Er kann es versuchen, mein Kleiner. Nimm ihn mit. Ich glaube nicht, dass unser Burgfräulein ihn noch braucht.“
So kam es, dass der goldene Engel in die warme Stube der Melkersfamilie kam. Mit flinken, geschickten Fingern gelang dem Vater, den fehlenden Flügel zu ersetzen. Zwar saß der Engel nun nicht mehr auf der Spitze eines prachtvoll geschmückten Weihnachtsbaums, sondern nur auf einem kleinen Tannenzweig, der von einem Kerzenstummel angestrahlt wurde. Aber es freute ihn letztendlich doch, als die Familie sich am Tisch versammelte und Weihnachtslieder anstimmte.