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Der Golan
Bei meiner ersten Sammeltaxifahrt, die mich in endlosen Serpentinen zwischen zerriebenen Hügeln in die Kommune brachte, fiel mir auf, dass selbst der Sand olivgrün war. Unter der Sonne Israels gibt es für mich nichts außer dieser Farbe. Nur wenn es früh am Morgen ist und sie hinterm Hermon vorkriecht, 1000 Meter über dem Meeresspiegel, in ein paar Sekunden, dann ist der Golan für wenige Minuten in rosa Licht getaucht.
Es ist die Farbe meiner alten Vorhänge, ein helles, transparentes Rosa, hinter dem man Licht wahrnimmt, selbst wenn es dunkel ist. Seit meiner Kindheit kenne ich es. Es hat denselben Farbton, den man hinter verschlossenen Augen sieht oder hinter Bauchdecken, wenn man ungeboren ist. Und so war mein Kinderzimmer in Deutschland. Wenn das Nachmittagsgrau durch die großen Fenster fiel, konnte ich die Vorhänge zuziehen wie zwei riesige Augenlider, mich auf meinen runden Flokati legen und an die Decke starren und alles war rosa.
Irgendwann würde mein Vater anklopfen und freundlich meinen Namen nennen, der nicht Frida war, wie Frida Kahlo, sondern Teresa, wie Mutter Teresa. Dann würde er mit süßlicher Stimme fragen, ob ich schon für Chemie gelernt hätte, und ich würde antworten, dass ich sogar mit Latein fertig sei und dann würde ich seine Schritte hören, wie sie sich beruhigt von der Tür entfernten. Ja, ich verstand meinen Vater. Besser als mich selbst zumindest. Vor der Arbeit schwamm er seine zwanzig Bahnen im Freibad im Sommer. Im Winter im Hallenbad. Auf seine zwei Toastbrotscheiben am Morgen kam ihm nichts außer Aldi-Gouda mit Plastikrand und so saß er am Küchentisch, hielt eine Toastbrotscheibe zwischen Daumen und Zeigefinger, trank grünen Tee und las Zeitung. Ich wusste, dass ich ihm wichtig war, und er wollte, dass aus mir was wird.
Über mich und meine Jugend ist weiter nicht viel zu erzählen. Sie war geprägt von der Frage, ob ich wirklich existierte, und wenn ja, warum Leute dann ständig meinen Namen vergaßen. Zweimal die Woche ging ich zum Hockey, zweimal zum Klavier. Mein erstes Mal hatte ich mit sechzehn und einem Koch und wenn nichts zu tun war, schloss ich die Vorhänge, um im rosa Licht zu baden. Bis zum Abitur war ich mit einem Anton Schneider zusammen, dem Sohn meiner Physiklehrerin. Einmal waren wir auf Kreta, den gefühlten Rest der Zeit hinter den rosa Vorhängen meines Zimmers. Meistens lagen wir auf meinem Bett und dann drückte Anton an mir herum wie eine Etikettiermaschine, was mir irgendwann so auf die Nerven ging, dass wir uns wieder trennen mussten.
Wie die meisten Eins-Minus-Schülerinnen meiner Schule zog ich nach dem Abitur in eine andere Stadt, um mein Fach studieren zu können. Die ersten anderthalb Jahre setzte ich mich mit Schwarmintelligenz, Coitus Interruptus und Formen des Wahnsinns auseinander, während in meiner eigenen Psyche nur ein laues Lüftchen wehte. Ich las Milan Kundera, Haruki Murakami oder schaute Dokumentationen über den Amazonas auf Youtube in meinem Zwölf-Quadratmeter-Zimmer im Studentenwohnheim, und wenn der dicke, haarige Mann, der sicherlich kein Student mehr war, wieder einmal beschloss, in der Küche direkt gegenüber von meinem Fenster Butterbouletten zu backen, nackt, dann zog ich einfach meine rosa Vorhänge zu, legte mich auf meinen Flokati und starrte die Decke an, bis das Bild aus meinem Kopf verschwand. Es war wie in der Schulzeit. Tagsüber würde ich in der Uni sein, für irgendwelche Tests lernen oder Vulkanausbrüche auf dem Thinkpad verfolgen. Abends würde mein Vater anrufen und fragen, ob ich Quantitative Methoden I schon gelernt hätte und ich würde antworten, dass ich sogar mit Differentielle fertig sei. Anstatt Hockey zu spielen, ging ich nun zweimal die Woche zum Schwimmen, wo ich auch Heinrich kennenlernte. Er war zwei Jahre älter als ich, also dreiundzwanzig, hatte weiche Haut und schöne Hände und wenn er hinter den Vorhängen auf mir kam, sah sein Sperma aus wie rosa Zuckerguss.
Seit ein paar Jahren bereits studierte Heinrich irgendwas mit Geisteswissenschaften und versuchte mit aller Kraft politisch zu sein, weshalb er auch die taz abonnierte. Ab und an fotografierte er Naziaufmärsche für die Hochschulzeitung oder schrieb einen Kommentar zu verfahrenen Strukturen der Geflügelhaltung und manchmal aßen wir sonntags ein Bio-Ei.
Warum seine Eltern ihn Heinrich genannt hatten, ist mir immer schleierhaft geblieben. Ich wusste nur, dass man daraus Heini machen konnte und dass ihn das nicht störte. In Heinis Zimmer gab es eine gemütliche zwei Meter Matratze, weiße Vorhänge und einen nussbraunen Egon Eiermann Tisch, weil seine Eltern Architekten waren. Außerdem hing an seiner Wand eine Weltkarte, in der beschämend wenige Pinnadeln steckten, und alle in Europa. Vor ein paar Jahren hatte er ‚Das Salz der Erde’ gesehen und spielte seitdem mit dem Gedanken, Kriegsfotograf zu werden. Manchmal lag mein Kopf auf seiner Brust und während mein eines Ohr seinem beruhigenden Herzschlag lauschte, verfolgte das andere einen Schwank aus Robert Capas Leben, dessen Bildbände Heini zum Einschlafen wälzte. Und wenn es Fotos aus dem Spanischen Bürgerkrieg waren, dann war das auch okay, schließlich lagen wir ja in Heinis Bett und nicht in irgendeinem Massengrab und seine Haut war weich und ganz warm und ich fühlte mich wohl, obwohl die Vorhänge weiß waren. Heini war wie ein Karl May im Taschenbuchformat, er konnte stundenlang über Schwefelschürfer am Ijen reden, über das Zerschlagen mexikanischer Piñatas oder Totenkulte auf Haiti, dass man das Gefühl bekam, er hätte bereits alles gesehen und vielleicht stimmte das ja auch irgendwie. Die meisten seiner Freunde, mit denen wir uns zum Racletteessen oder irgendwelchen Vortragsreihen trafen und die ständig meinen Namen vergaßen, hielten ihn für eine Art intellektuelle Jungfrau Maria. Niemand wusste so richtig, wo Heini seine Ideen hernahm. Einmal als wir in seinem Bett lagen und Heini gerade das Bild eines Fünfziger Jahre Modells beim Schminken aufschlug, offenbarte er mir, dass er mit über zweihundert Frauen geschlafen hatte. Instinktiv drückte ich ihn weg und dann wurden seine Augen ganz groß und feucht und sein Mund zitterte leicht. Naja, eigentlich sei es ja nicht so schlimm, meinte ich, und auch schon vergangen, aber mein inneres Stirnrunzeln blieb.
Nach seiner Beichte wurde Heini immer launischer. Wenn ich ihn traf, war er entweder total aufgewühlt und wollte unbedingt mit mir schlafen, oder er warf mir Sachen an den Kopf, die ihm hinterher furchtbar leid taten, was wiederum dazu führte, dass er unbedingt mit mir schlafen wollte. Nur ich wollte nicht - zumindest so nicht - und das machte alles nur noch schlimmer. Wenn ich einmal von einem Kommilitonen erzählte oder Herrn Täuber, meinem Dozenten in Klinischer Psychologie, der ganz jung war und humorvoll und so gar nicht wie die übrigen Milchgesichter, dann flackerten Heinis Augenlider kurz und eine Woche später würde er sich ein Grundlagenwerk der Psychologie gekauft haben und eine Fünfzig-Kilo-Hantel.
Das einzige Problem an der Sache aber waren Herrn Täubers Unterarme, die sahen nämlich immer so aus, als hätte er gerade fünf Stunden Fässer geschleppt - ganz dick und sehnig und auf einmal war ich immer die letzte im Hörsaal und Täuber kramte in seinem Rucksack, ohne etwas zu finden. Irgendwann fragte er schließlich, ob ich nicht Teresa Gontard sei und ich war einfach nur verblüfft, dass er meinen Namen kannte. Er wollte wissen, ob ich mir vorstellen könnte, seine Hilfskraft zu werden, und als ich bejahte, sagte er einfach nur ‚prima‘. Aber das klang wunderschön aus seinem Mund!
Wir tranken einen Coffee-to-go zusammen und ich erfuhr, dass Herr Täuber Matthias hieß, 32 war und vegetarischer Freizeitkletterer und dass er Persönlichkeit für die Summe unserer Leidenschaften hielt.
Als ich Heini später von Täuber und meinem neuen Job erzählte, nickte er nur und meinte, dass das ja ganz gut sei und er sich auch irgendwie freue. Dann sagte er nichts mehr und ich merkte, dass ich Sehnsucht nach meinen rosa Vorhängen bekam.
Die Wochen verstrichen, ich wurde Expertin im Ausdrucken von Aufsätzen und Platzieren von Heftklammern und was Heini machte, wusste ich nicht mehr so genau. Manchmal abends, wenn das Handy klingelte und er es sein musste oder mein Vater, schaltete ich einfach die Niagarafälle dazwischen oder ein Erdbeben in Guatemala. Dann schrieb Heinrich mir einen Brief und darauf war eine Briefmarke geklebt mit dem kleinen Prinzen, der ganz alleine auf seinem kleinen Planeten hockt. Ich fand das ziemlich unerträglich - auch wenn ich nicht genau wusste weshalb - und steckte den Brief in den Robert Capa Bildband, den er mir zuletzt geschenkt hatte. Es dauerte gerade mal zwei Heftklammerfüllungen lang, bis ich mich in Täubers Büro wiederfand, um nach einer weiteren Packung zu fragen, und da hieß es, wir müssten mal über etwas sprechen und wenige Stunden später lag ich wieder auf meinem Teppich und überlegte, dass es ein bisschen unangenehm gewesen war, Täuber so abblitzen zu lassen, aber dafür umso befriedigender, auch einfach mal ‚nein’ zu sagen. Von da an verließ ich mein Zimmer kaum noch - außer, um mir ein Spiegelei zu braten - und die Vorhänge blieben die meiste Zeit verschlossen. Es fühlte sich an, als würde da etwas in meinem Zimmer heranwachsen und ich wollte das Rosa den ganzen Tag lang auf meinem Körper spüren.
Warum nicht auf der Spitze eines Vulkans? Warum in einer Kommune zwischen zerklüfteten Felsen im Golan? Manchmal, wenn es noch dunkel ist, wandere ich meinen Lieblingsberg hinauf, setzte mich auf einen Felsvorsprung und warte, bis mich das rosa Licht einhüllt. Dann überlege ich, was mich dazu bewogen hat, mein Leben stehen und liegen zu lassen. Aber wenn die Sonne hinterm Hermon vorkriecht und dem Land seine olivgrüne Farbe zurückgibt, habe ich eigentlich schon wieder vergessen, worüber ich nachdenken wollte. Dann fällt Heinis Brief mir ein, den ich vor ein paar Wochen zum ersten Mal gelesen habe. Wenn es stimmt, ist er Kriegsfotograf geworden in Syrien. Vielleicht sind wir gar nicht so weit entfernt voneinander. Womöglich trennen uns nur ein paar Hügel.