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Der gnadenlose Fahrstuhl
Das erste Opfer des Fahrstuhls war ein Rechtsanwalt. Er betrat fröhlich pfeifend die Kabine, um nach der Besprechung mit seinem Mandanten, der einen weiteren Mieter aus dem Haus ekeln wollte, zurück ins Erdgeschoss zu fahren.
„Du hast den falschen Knopf gedrückt, Angeklagter!“ brüllte eine Stimme aus der Gegensprechanlage. „E heißt bei mir Endstation!“
„Wer spricht da?“ stammelte der Rechtsanwalt verwirrt.
„Dein Richter“ donnerte es aus dem Lautsprecher. „Und jetzt lass Dir was einfallen, sonst geht’s dir schlecht, denn Rechtsverdreher wie du sind bei mir genau die richtigen Kandidaten für einen Freigang im Keller!“
Er machte dem Zögern des Anwalts ein schnelles Ende, indem er drohend einen Meter nach unten sackte. „Wenn Sie mir etwas antun, werde ich sie nach dem Gesetz auf Schadenersatz verklagen, dass Ihnen Hören und sehen vergeht! Ich würde mir das Ganze noch einmal gut überlegen!“ meinte der Anwalt mit wiedergewonnener Hochnäsigkeit. „Falsche Antwort, schuldig!“ verkündete der Aufzug unbeeindruckt. „Euer Gesetz interessiert mich nicht, ich habe mein eigenes. Dein Urteil ist gesprochen!“ Und mit diesen Worten öffnete er die Wartungsklappe im Boden, so dass der Anwalt mit einem gellenden Schrei im Schacht verschwand.
Der nächste, der den Fahrstuhl benutzen wollte, war ein Literaturlehrer, der einem Freund die Idee zu einem Buch gestohlen und sie an einen Agenten im 23. Stock verhökert hatte. Ohne Umschweife machte der Aufzug auch seinem nächsten Opfer klar, was es erwartete:
„So, wie du wahrscheinlich irgendeinem Ahnungslosen die Idee für das Buch genommen hast, werde ich dir jetzt das Leben nehmen, wenn Du jetzt nicht zum ersten Mal deine eigene Phantasie bemühst und mir ein verdammt gutes Gegenargument nennst!“
„Ich habe viel gelesen, aber noch nie, dass ein Aufzug seine Benutzer umbringen könnte!“ antwortete der Lehrer überlegen. „Durchgefallen, Du Analphabet, setzen!“ höhnte der Aufzug, öffnete die Klappe und schickte dem Professor ein schauriges Gelächter hinterher, bis dieser mit einem dumpfen Aufprall in der Tiefgarage aufschlug.
Ein Pfarrer betrat den Aufzug. „Ich mag Leute wie Dich nicht. Sie bringen die Leute auf die falschen Ideen. Vielleicht solltest Du zur Abwechslung diesmal Dir selber einen guten Rat geben!“ bellte der Aufzug und ließ schon voller Vorfreude die Klappe ein wenig auf und zu rollen. „Wenn du mich tötest, wirst du in der Hölle enden“ meinte der Pfarrer unerschrocken. „Die Hölle ist doch von uns aus gesehen unten, oder?“ fragte der Aufzug scheinheilig, und als der Pfarrer erkannte, was gemeint war, befand er sich auch schon auf dem Weg nach unten.
Im Laufe seines ersten Betriebstages tötete der gnadenlose Fahrstuhl noch den Besitzer eines Elektrogeschäftes, der ihm mit seiner Fachsimpelei über Aufzugstechnik auf die Nerven ging, eine reiche Dame, deren Kleider ihm zu protzig waren, den Hausmeister, weil der trotz Verbotsschild rauchte, und einen Bankangestellten, der die Taschen voller schmutzigem Geld hatte. Niemals ließ er sich von Bitten und Betteln erweichen, und wer einmal sein Missfallen erregt hatte, verschwand auf Nimmerwiedersehen in Richtung Tiefgarage.
Am späten Abend schlurfte ein Penner in den Fahrstuhl. „Du stinkst“, bellte der Fahrstuhl und quietschte drohend mit der Bodenklappe.
„Lässt sich nicht vermeiden“ grinste der Penner.
„Ich fände das an deiner Stelle gar nicht so lustig“ geiferte es aus der Gegensprechanlage, „sondern würde mich lieber darauf vorbereiten in einigen Sekunden ziemlich tief zu fallen!“
Der Penner zuckte mit den Schultern. „Und wenn schon“ meinte er gutmütig und schob sich ein vergammeltes Brötchen in den Mund, „das kann mir jetzt auch egal sein.
„Häh?“ stutzte der Fahrstuhl. Damit hatte er nicht gerechnet.
„Ich bin der schrecklichste Fahrstuhl, der jemals konstruiert wurde, und ich an deiner Stelle würde schlottern vor Angst! Bedeutet dir dein Leben denn gar nichts?“ erkundigte sich die Maschine ungläubig.
„Nein“ schmatzte der Penner unbeeindruckt. „Da kommst du ein paar Wochen zu spät. Damals vielleicht, als ich noch eine gutbezahlte Stelle in dem Elektrogeschäft hier im Haus hatte.“ Mit einem traurigen Lächeln erinnerte er sich.
„Dann hat mein Chef mich rausgeschmissen, weil ich einer stinkreichen Frau nicht höflich genug war, als sie sich beschwerte, nachdem sie mit ihren Klamotten in einen Ventilator gekommen war und mir die Schuld gab. Dann habe ich erfolglos versucht eine Buchidee zu verkaufen, ein Bekannter vom Fach wollte mir dabei helfen, aber er sagte der Literaturagent habe kein Interesse an meiner Geschichte. Die Bank setzte ihre Anwälte auf mich an, und dem Hausmeister war es eine Freude, einige Monate später die Räumungsklage durch- und mich auf die Straße zu setzen. In meiner Not bin ich irgendwann sogar in der Kirche gelandet, aber die konnten mir auch nichts Besseres mitteilen als dass mein Schicksal wohl Gottes Plan war. Schlimmer kann es sowieso nicht werden!“ zuckt er mit den Schultern und erwartete die Entscheidung.
Einige Sekunden verstrichen in gefährlicher Stille. Dann brach der unbarmherzige Fahrstuhl in dröhnendes Gelächter aus.
„Du bist mein Mann!“ johlte er.
„Ich wusste doch, dass ich ein Menschenkenner bin! Mein Freund, ich glaube, ich habe gute Nachrichten für Dich: Unten, in der Tiefgarage, findest du auf dem Boden des Fahrstuhlschachtes den Vertrag über dein Buch, du brauchst nur noch Deinen Namen einzusetzen. Frag einfach den Hausmeister nach dem Knopf zum Öffnen der Wartungstür. Ach nee“, erinnerte er sich glucksend. „Der kann ja heute leider nicht. Findest Du schon selbst. - Ein dickes Bündel Geld für den Anfang sollte da auch noch irgendwo rumliegen, und ich glaube Deinen ehemaligen Chef und ein paar alte Freunde wirst du dort auch wiedertreffen!“ Und mit diesen Worten öffnete er die Türen und entließ den verdutzten Penner in die Freiheit.
[ 01.07.2002, 21:50: Beitrag editiert von: Edward Humm ]