Mitglied
- Beitritt
- 20.03.2002
- Beiträge
- 3
Der Glasturm
Ich stand ganz oben, in einem dieser gläsernen Gebäude, die man vor Jahren erbaute, um den Anbruch der Moderne darzustellen. Mein Blick senkte sich ein wenig müde auf die Stadt herab. Es war Morgen. Die gestrige Nacht war lang und heftig und ich dachte, mich hier noch ein wenig sammeln zu können. Es regnete. Ich kam öfter hierher, wenn die Nacht ihr Ende nahm, ohne das die Müdigkeit mich nach Hause trieb. Der Blick auf die Stadt faszinierte mich immer wieder. Sonntag Morgen. Die Straßen sind leer und nur noch einige Wenige erfüllen das Herz der Stadt mit ihrem Blut. Die meisten Menschen, die man um diese Zeit noch beobachten kann, kommen entweder von einer Feier und sind randvoll des Alkohols oder anderer Drogen. Oder sie gehören zu den immer strahlenden Frühaufstehern, die selbst an einem Sonntag nicht davor zurückschrecken, Brötchen auf den Tisch der Familie zu stellen oder im knallbunten Trainingsanzug ihre morgendlichen Runden zu absolvieren.
Heute sah man die Jogger nicht. Es regnete.
So stand ich also im obersten Stockwerk des gläsernen Turms und schaute auf die Stadt herab, als sich neben mir ein Mann im schwarzen Anzug bemerkbar machte. Er war ca. 1,80 groß und von kräftiger Statur. Sein schwarzer Mantel und sein Hut stahlen mir die Möglichkeit, einen Anblick von ihm erhaschen.
Er schaute zu mir herüber und lächelte ein wenig. Ein leichtes, kaum bemerkbares Lächeln, aber ein mit Liebe und Geborgenheit Erfülltes. Ich lächelte zurück. „Ich komme oft hierher wenn es regnet“, sagte er. Ich erinnere mich noch genau an die Art, wie er es sagte. So offen und selbstverständlich. Doch ich empfand es nicht als selbstverständlich. Ich war schon lange nicht mehr einfach so in einen Dialog eingebunden worden. Die Welt ist kalt und introvertiert. Einfach miteinander reden? Das kannte ich nicht. „Ich mag es, mir die Menschen anzuschauen. Wie sie mit offenen Schirmen durch die Straßen eilen oder die Jacken über ihre Köpfe ziehen.“ „Weißt du, was mir am Regen gefällt?“. Ich wusste es nicht. „Regen ist die einzige Zeit, bei der sich die Menschen noch mit Liebe begegnen. Sie heben den Blick, wenn sie einander begegnen und schenken sich ein warmes Lächeln. Sie sitzen alle im selben Boot. Und jeder fühlt mit dem anderen mit. Deswegen mag ich den Regen.“ Ich war verwundert über diese Aussage, doch sie gefiel mir. Ich wollte ihm antworten und drehte mich zu ihm hin, doch er schenkte mir nur noch ein kurzes Lächeln und verschwand.