Der Gipfel
So viele Menschen sind unterwegs auf diesem riesigen Platz. Alte, Junge, Dicke, Dünne, Hässliche und Hübsche. Und er ist mittendrin. Alle sind auf der Suche. Sie suchen irgendetwas, doch niemand weiß so richtig was. Er auch nicht. Er schaut sich um, in alle Richtungen. Die Sonne scheint und der Himmel ist wolkenlos. Ein perfekter Sommertag. Dann sieht er ihn, diesen riesigen Berg, der sich mächtig und bedrohlich vor ihm auftut. Viele Menschen pilgern die große, breite Straße, die wie es scheint zum Gipfel führt, hinauf. Die Meisten laufen zu zweit. Mann und Mann, Frau und Frau oder Frau und Mann. Sie haben sich umarmt oder gehen Hand in Hand. Einige küssen sich, andere unterhalten sich nur, doch alle haben sie ein lächeln auf den Lippen. Zwischen den ganzen Paaren sieht man auch einige Personen die allein laufen. Sie sehen traurig und bedrückt aus und sie scheinen alle vom Gipfel hinunter zu kommen. Was mag dort oben sein, auf diesem Berg, denkt er sich. Er beobachtet das Szenario noch eine Weile und der Strom der Menschen scheint nicht abzureißen. Weder von den Paaren die die Straße bergauf gehen, noch von den Bedrückten, Einsamen die bergab laufen. Er wendet seinen Blick ab und schaut in die Menschenmassen, die um ihn herum wuseln. Einige unterhalten sich, andere stehen einfach teilnahms- und planlos rum. Und dann entdeckt er sie. Genau wie er, scheint sie nervös zu sein. Unruhig schaut sie sich um und versucht einen Überblick in diesem Chaos zu bekommen. Plötzlich bleibt ihr Blick an ihm haften. Sie schauen sich genau in die Augen. Um sie herum scheint alles ruhiger zu werden. Sie lächelt ihn an und er lächelt zurück. Er lässt sie nicht aus den Augen und läuft auf sie zu. Die Menschen gehen zur Seite und schauen ihm hinterher. Dann steht er endlich vor ihr. Sie begrüßen einander und sie sind sich sofort sympathisch. Beide wissen nicht, wie sie an diesen Ort kamen und warum sie hier sind. Und da es so scheint, dass der Weg zum Gipfel der Einzige ist, der von diesem chaotischen Menschengewühl wegführt, entscheiden sie sich den schweren Aufstieg zu wagen. Und sie laufen los, nichts Böses ahnend. Sie sind einfach glücklich. Sie unterhalten sich angeregt und sie gucken sich mit wissbegierigen und verträumten Blicken an. Er berührt zärtlich ihre Hand, sie spürt seine warme, glatte Haut und sie fühlt sich geborgen und sicher. Sie schauen sich verliebt in die Augen und dann küssen sie sich. Langsam und zärtlich. Sie tauchen ein, in eine neue Welt. Vergessen ihre Ängste und Sorgen, ihre Probleme und Nöte und den Anstieg zum Gipfel, der immer steiler wird.
Nun laufen sie schon lange zusammen. Die Menschen um sie herum, die Paare die vor und hinter ihnen liefen, sind weniger geworden. Und immer mehr laufen nun allein die Straße ins Tal hinunter. Wobei es sich nun eigentlich nicht mehr um eine Straße handelt, sondern vielmehr um einen Sandweg, mit nur noch einzelnen, asphaltierten Abschnitten. Auch am Himmel sieht man nun einige Wolken, die ab und zu die Sonne verdecken. Dann wird es kurz kühl und unsere beiden Verliebten nehmen sich in den Arm und wärmen
sich.
Jetzt laufen sie schon ewig und der Weg scheint kein Ende zu nehmen. Auch der Gipfel ist, dem Anschein nach, noch genauso weit weg wie am Anfang ihrer Reise. Ach ja, der Anfang der Reise. Daran können sich die Beiden kaum noch erinnern. Sie wissen nicht mehr wie glücklich sie waren, wie sie sich das erste Mal berührten und küssten. Ihre Erinnerungen sind wie Zaubertinte, die immer weiter verblasst, bis sie schließlich ganz verschwindet. Nicht nur die Erinnerungen schwinden, auch die Kraft. Der ehemalige Sandweg ist nur noch eine Ansammlung von großen Steinen und Brocken, über die sie klettern müssen. Der Himmel ist grau und es regnet. Sie frieren beide. Sie könnten sich umarmen und wärmen, wie sie es früher schon taten, doch daran erinnern sie sich nicht mehr und deshalb kommt ihnen dieser Gedanke nicht. Ihre Gespräche haben nachgelassen und aus ihren Blicken sind die Wissbegierigkeit und die Verträumtheit verschwunden. Sie mussten der Langeweile und Gewohnheit weichen. Oft dachte er daran aufzugeben, doch dann überredete sie ihn weiterzugehen und wollte sie aufgeben, überredete er sie wiederum weiterzumachen. Doch nun kamen sie an eine Weggabelung. Der eine Weg war genauso steinig und uneben wie der, auf dem sie sich jetzt befanden. Außerdem konnte man in der Ferne einen riesigen Riss erkennen, der sich quer über den Weg erstreckte. Man würde ihn überspringen müssen, was viel Mut verlangte. Der andere Weg war asphaltiert und führte zu dem noch bergab. Rechts und links von ihm blühten Blumen und am Horizont konnte man die Sonne erahnen. Sie stritten sich. Er wollte den schwierigen Weg bergauf nehmen, sie den leichten, schön glatten nach unten. Und sie hätten wahrscheinlich nie eine Lösung gefunden, wenn nicht ein junger, stattlicher Mann des Weges gekommen wäre. Als sie ihn sah, vergaß sie plötzlich ihren alten Wegbegleiter, mit dem sie so viel erlebt hatte. Gutes wie schlechtes. Mit dem sie sich geküsst hatte, mit dem sie sich umarmt hatte und den sie geliebt hatte. Bei Anblick des stattlichen Mannes kamen in ihr plötzlich wieder die Gefühle hoch, die sie so vermisst hatte. Und ihr Blick wurde wieder verträumt und das Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück. Wie sollte sie dann auch nein sagen, als der stattliche Mann sie fragte ob sie nicht den schönen, asphaltierten Weg mit ihm einschlagen würde?! Und so ging sie dahin und ließ das Alte und Langweilige hinter sich.
Er sah ihnen noch eine Weile nach, bis sie schließlich aus seinem Blickfeld verschwanden. Man könnte fast sagen, wie Zaubertinte. Regentropfen liefen ihm über sein Gesicht und er wunderte sich, dass einige salzig schmeckten. Er schaute noch einmal zu dem Riss, den er überspringen wollte und plötzlich schien es ihm unmöglich dies zu schaffen. Ihr hinterherlaufen wollte er auch nicht und so entschied er sich, den Weg, auf dem er hoch gelaufen war, auch wieder hinunter zu gehen. Er lief los, ohne sich umzudrehen. Nun sah er auch traurig und bedrückt aus und er lief auch allein, den Berg hinunter, ins Tal der Einsamen. Zurück in das Menschengewühl und in das Chaos. Wer weiß, vielleicht findet er ja diesmal die wahre und einzige,
große Liebe.
Sie war glücklich, schloss ihre Augen und kuschelte sich an ihren neuen Begleiter. Er war so schön warm, fast wie Feuer und als sie die Augen wieder öffnet und ihn ansah, stellte sie fest, dass seine Haut wirklich brannte und sie war glutrot. Entsetzt riss sie sich los und starrte ihn an. Doch seine schönen, blauen Augen waren zu schwarzen Steinen geworden und sein hübsches Gesicht war einer hässlichen Fratze gewichen. Plötzlich tat sich der Boden vor ihnen auf und er wollte sie packen und in die lodernden Flammen werfen. Doch sie reagierte blitzschnell und rannte um ihr Leben. Vorbei an den Blumen, die nun alle verwelkt waren und auch die schöne, glatte Straße bekam langsam Risse. Aber sie schaffte es wieder bis zurück zur Gabelung. Doch dort war niemand mehr. Sie fühlte sich allein und sie schrie den Namen ihres alten Wegbegleiters, doch er konnte sie nicht hören. Er konnte sie nicht einmal mehr sehen, so weit war er schon weg. Irgendwann merkte sie, dass es sinnlos war und verstummte. Ihr war kalt und sie hatte Angst. Sie setzte sich auf einen Stein und wartete. Auf was, wusste sie nicht. Vielleicht darauf, dass er zurückkommen würde oder, dass irgendjemand anderes kam. Sie konnte doch so schlecht allein sein…… !
Und so endet die Geschichte von den Beiden. Dabei sah es doch am Anfang so gut aus. Es sah so aus, als könnten sie es schaffen, als könnten sie allen Gefahren trotzen und den schwierigen Aufstieg hinauf zum Gipfel der ewigen Liebe bestehen. Aber sie scheiterten, wie schon so viele vor ihnen.