Der Gewinn
Die spät-sommerliche Luft umspülte Annas Beine, ließ ihr leichtes Kleid sich in kunstvollen Wellen um den Körper bewegen bis hinauf zu den Schultern, wo der sanfte Wind ein neues Spielzeug in den braunen Haaren fand, Strähne für Strähne hob, wieder senkte und mal zu der einen dann zu der anderen Seite blies, ganz so als wolle der Sommer ihr die Haare flechten. Annas Haut war blass und hatte einen leichten Schimmer von Rot, der am ganzen Körper zu finden war, sogar an den Füßen, die heute in einem Paar hellbraunen Sandalen steckten. An deren Enden streckten sich die dunkelrot bemalten Zehen heraus, derselbe Ton, der auch ihre Lippen bedeckte. Vielleicht war diese Farbe etwas zu kräftig für eine Frau ihres Alters, aber es schien sie nicht zu stören, mag sein, sie bemerkte es gar nicht. Den meisten Menschen fiel es schwer, Annas Alter zu schätzen, nicht weil sie so jung oder so viel älter aussah, einfach weil sie etwas Zeitloses an sich hatte. Durch ihrer gesamte Erscheinung wurde dies unterstrichen, mit dem Schnitt ihres Gesichtes, mit ihrer Kleidung, selbst mit ihren Bewegungen. So gab sie den Menschen in ihrer Umgebung stets das Gefühl, für den Moment der Begegnung aus der Zeit gefallen zu sein, sich gleichsam wie in einer umhüllenden Blase vom Jetzt getrennt zu haben. Die meisten ihrer Bekannten mochten dieses zeitlose Etwas, genossen es, wenn es sich wie ein schützender Mantel um sie legte und vor der Hektik und der Vergänglichkeit schützte.
Anna schritt langsam den Weg entlang, den sie so oft gegangen war, die Linie mit all ihren Kurven und Winkeln, welche ihre Wohnung mit ihrem Arbeitsplatz verband. Wege, die man oft läuft, so dachte sie, entwickeln sich sehr unterschiedlich. Manche nutzen sich ab, werden brüchig und vergehen nach und nach. Andere wiederum werden über die Zeit von kleinen Wegen zu großen Straßen, werden immer fester und weiten sich Jahr um Jahr nach beiden Seiten aus. Nur ihr Weg war immer gleich geblieben, wie am ersten Tag. So oft sie ihn auch genommen hatte, immer war es so gewesen, als schmiege er sich sacht an die Sohlen ihrer Füße und trüge sie beinahe schwerelos zwischen den beiden wichtigsten Punkten ihres Lebens hin und her. Dann ließ jeder ihrer Schritte das Grau des Betons sich leicht kräuseln und zog kleine Wellen über den Asphalt, die sich an den Rändern zur Straße und zu den Häusern brachen.
Fast unbemerkt und doch spürbar war der Asphalt heute weniger weich als sonst, ließ die Wellen schneller versiegen als an anderen Tagen. Es war das erste Mal, dass der Weg sich anders anfühlte, dass der stete Fluss immer wieder ins stocken geriet. Sie hatte auch nie darüber nachgedacht, war den Weg einfach gegangen und nun schmerzte es sie, dass so vertraute Fließen durchbrochen zu spüren und sie zog das kleine Taschentuch aus dem Kleid, um sich die Feuchtigkeit von den Wangen zu wischen.
Nachdem sie wieder einige Zeilen geschrieben hatte, schaute Babette vom Bildschirm auf und richtete den Blick auf den Schulhof. So ging es bereits seit dem Mittagessen. Das Wetter war so verlockend, dass es ihr schwer fiel, nicht dauernd daran zu denken und in Abständen immer wieder danach zu schauen. Ja, er war immer noch da, lag hell und einladend vor dem Fenster, fast hätte sie danach gegriffen und doch nur das glatte Glas gespürt hinter dem sich der Sommer erstreckte. Wie Schade, dass sie diesen sonnigen Tag nicht genießen konnte, dachte sie und fühlte sich wie eine beiwohnende Zuschauerin, die sich die Nase an einem Schaufenster platt drückte und an ihren Platz gefesselt war. Während dieser kurzen aber intensiven Blicke aus dem Fenster ließ sie ihre Finger weiter über die Tastatur schnellen und schaute hin und wieder wieder auf den Monitor, um ihre Arbeit zu überprüfen. Es war alles an seinem Platz, jeder Satz, jedes Wort, jeder Buchstabe, selbst sie und langsam schob sie eine Strähne ihres Haares zurück hinter die Ohren, wo es aus dem Knoten gefallen war. Als Babette einen Schluck aus ihrem Becher nahm, sah sie die kleine Gestalt leichten Schrittes über den Hof kommen. Da sie gute Augen hatte, wenngleich seit einiger Zeit nur noch mit Brille, erkannte sie Anna sofort. Sie wusste auch, dass Anna heute eigentlich frei hatte, genauso wie schon an den beiden vergangenen Tagen. Natürlich liebte Anna ihre Arbeit, jeder wusste das, aber dies hatte sie noch nie veranlasst auch an einem freien Tag in der Schule zu erscheinen. Während Babettes Hände weiter der Pflicht nachgingen, verfolgten ihre Augen die vertraute Gestalt. Anna blieb für einen Moment im Schatten einer der Kastanien stehen und wischte sich mit einem Taschentuch über das Gesicht. Dann entdeckte sie Babette am Fenster, schien überrascht, doch schon waren die Züge ihres Gesichts wieder in das so vertraute Lächeln zurück geglitten. Leicht hob sie den Arm und winkte Babette zu. Durch das weiße Tuch in ihrer Hand hatte die Geste etwas von Abschied dachte Babette und musste schmunzeln, winkte ihr fröhlich zurück und hatte das für einen winzigen Moment das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Dann griff sie nach ihrem Becher und hielt ihn hoch über den Fenstersims, während sie mit der anderen Hand darauf deutete. Anna nickte zaghaft und setzte ihren Weg fort, während Babette sich erhob, um die Kaffeemaschine zu bedienen.
Er trommelte mit den Fingern der rechten Hand einen regelmäßigen Takt, der von der schweren Platte des Arbeitstisches aufgesogen nun fast stumm durch die schwere Luft des Zimmers glitt. Mit der Linken zupfte er am Saum seines Hemdes, hatte es bereits zu einem Teil aus der Hose gezogen, hielt die Hand für einen Moment vor den Mund, als wolle etwas gesagt werden, was den Mund nicht verlassen durfte. Schließlich erhob er sich nach einer ganzen Weile der gefühlten Erstarrung, seit dem Anruf gegen Mittag hatte er so dagesessen und das Gefühl für die Zeit verloren. Sein Blick fiel auf den Schulhof, der in das helle Licht der Sommersonne getaucht war und dunkle Schatten der Bäume umschlossen hielt. Ein paar Schüler waren nach dem Unterricht nicht sofort vom Gelände gegangen und hatten sich in den Schatten der alten Bäume gesetzt. Einer von ihnen rauchte, was auf dem Schulgelände verboten war, doch er hatte nicht vor einzuschreiten, nicht in diesem Moment. Als er sich vom Fenster weg drehte, riss er etwas von der trockenen Erde eines der Blumentöpfe mit seinem Ärmel heraus. Er würde Babette bitte, die Pflanzen zu gießen und vielleicht müsste er sie auch bitten, etwas Kaffee zu kochen, nur um etwas für das kommende Gespräch zu haben, etwas, was er anbieten könnte, etwas an dem er sich festhalten würde. Doch er konnte sich nicht dafür entscheiden, weil er nicht wusste, welchen Grund er Babette hätte nennen sollen. So streifte er einmal durch das gesamte Büro, vermaß mit seinen kräftigen Schritten die Länge von einer Wand zur gegenüberliegenden, suchte in Gedanken nach den passenden Worten. Es fiel ihm schwer einen Anfang zu finden, er war nie um Worte verlegen gewesen. Es ärgerte ihn, weil er Anna mochte und deshalb seine Worte ganz besonders sorgsam wählen wollte. Als er wieder am Fenster angekommen war, waren die Jugendlichen verschwunden. Am Eingang des Schulgeländes bewegte sich langsam Annas Gestalt auf ihn zu. Ihr Gang wirkte schwerer als sonst, irgendwie gebremst. Auch glaubte er in ihrem Gesicht einen Anflug von Sorge erkennen zu können. Und noch immer suchte er nach den passenden Worten und wünschte, Anna wäre noch nicht gekommen, würde ihm noch etwas Zeit gegeben haben.
Der Kaffee war fast durchgelaufen als Anna im Büro erschien. Nachdem sich die beiden Frauen umarmt hatten, begann Babette damit, den Kaffee für sich und Anna zu bereiten.
„Wieso hat das solange gedauert? Man könnte meinen, du bist erst zweimal um die Schule gelaufen?“
Babette schaute Anna fragend an, widmete sich sofort wieder dem Kaffee.
„Zwei Stück.“
Es war mehr eine Aussage als eine Frage, denn Babette wusste sehr gut, wie Anna ihren Kaffee mochte.
„Ja.“ und nach einer kurzen Pause fügte Anna hinzu: „Nein, ich bin nicht um die Schule gelaufen. Ich habe mir einfach Zeit gelassen.“
Anna nahm den Becher entgegen und trank einen kleinen Schluck.
„Sehr gut … wie immer.“
„Danke, wie immer.“ vollendete Babette das Ritual.
„Und was treibt dich an einem so wunderschönen Tag hierher. Ich würde ja am See liegen, wenn ich könnte.“
„Ich muss mit ihm sprechen.“
Anna wies auf die Tür zum Büro des Direktors. Erst schaute Babette sie verwundert an, dann die Tür. Nachdem auch sie einen Schluck genommen hatte, führte sie das Gespräch fort, nun eine Nuance langsamer.
„Ich nehme an, dass er Zeit haben wird. Ich werde ihn gleich mal fragen.“
Damit erhob sie sich und schritt zur Tür.
„Sag ihm nur, dass ich jetzt da bin.“
Unvermittelt froren Babettes Bewegungen ein, selbst die bereits ausgestreckte Hand blieb reglos auf der Türklinke liegen. Ihr Blick richtete sich nun auf den Boden und obwohl es dort nichts anderes zu sehen gab als den alten grünen Teppich, suchten die Augen auf dem Grund des Zimmers nach einer Bedeutung hinter den gehörten Worten.
„Du bist angemeldet, hast ihn angerufen?“
Es schwang ein wenig Vorwurf in den Worten und sie blickte Anna verwundert an.
„War ich nicht da? Wann hast du angerufen?“
Langsam setzte Anna ihren Becher ab, stellte ihn sorgsam auf einen der Untersetzer und es dauerte eine Weile bis sie antwortete und es klang härter als sie beabsichtigt hatte.
„Ich habe ihn direkt angerufen. Meldest du mich jetzt bitte an.“
„Natürlich.“
Fast stieß sie mit dem Direktor zusammen, riss ihm beim Öffnen die Klinge aus der Hand, blickte überrascht und fand keine Worte.
„… es ist …“
„Anna soll hereinkommen!“ dabei blickte er an Babette vorbei, fixierte Anna als suche er nach einer Auffälligkeit, einem Beweis für die eigene Unruhe. Nachdem Anna eingetreten war, ergriff Babette ihren Becher, der noch fast voll war, und leerte ihn im Waschbecken aus. Anschließend spülte sie ihn sehr gründlich ab und stellte ihn zum trocknen auf das Handtuch. Rein mechanisch tippte sie weiter an dem Manuskript und obwohl sie sich nun nicht mehr konzentrierte, machte sie so gut wie keine Fehler.
Anna hatte auf einem der beiden Stühle vor dem dunklen Schreibtisch Platz genommen. Es war der Stuhl, der dem Fenster am nächsten war und Sonne fiel auf ihr Gesicht.
„Soll ich die Jalousien etwas schließen?“
Er war bereits aufgestanden.
„Nein. Ich finde es ganz angenehm so.“
Für einen Moment blickte sie aus dem Fenster, dann wieder auf ihn und wartete auf etwas, von dem beide nicht wussten, was es sein könnte. Der Mund war ihm immer noch trocken, sogar mehr als noch vor einigen Minuten und er räusperte sich gefolgt von einem kleinen Lächeln.
„Ich werde Babette bitten, einen Kaffee zu machen.“
„Für mich nicht, bitte.“ Noch immer lächelte sie. „Aber wenn sie möchten?“
„Vielleicht möchten sie etwas anderes trinken, Anna?“
Sie schüttelte nur ihren Kopf, sah etwas verlegen aus und es blieb ihm nichts, als sich zu setzen. Er holte tief Luft.
„Anna …“
Dann war die Luft bereits wieder entwichen. Noch einmal sog er die warme Luft des Zimmers ein, sehr langsam, und sah, dass Anna ihn dabei betrachtete und auf seine Worte wartete.
„Anna … ich werde, also wir werden Sie in allem unterstützen.“
Er lächelte sie an, um seinen Worten etwas verbindliches zu geben und als sie nicht gleich antwortete, fügte er hinzu: „Was ich meine ist, dass ich alles veranlassen werde, was möglich ist.“
Was genau damit gemeint war, wusste er selber nicht und wenn er Annas Blick richtig interpretierte, war es auch ihr nicht vollends klar. Langsam wich sein Lächeln und die Augenbrauen senkten sich, schoben die schweren Lider über seine Augen. Die Zeit schien erstarrt und er knetete mit seinen Händen als wolle er einen Knoten lösen. Mit ihren Händen strich Anna das Kleid glatt, sodass es nun knapp über ihre Knie fiel. Als sie sich nach vorne beugte, rutschte es wieder zurück und wie zum Schutz legte sie beide Hände darüber.
„Ich danke ihnen. Danke für die Hilfe. In den nächsten Monaten werde ich nicht arbeiten können. Die Ärzte halten es nicht für richtig.“
„Wir sind hier für Sie!“
Er konnte sehen, wie sich ihre Fingernägel leicht in die durchscheinende Haut der Knie gruben.
„Es wird kein Zurück geben.“
„So etwas weiß man nie, das können auch die Ärzte nicht wissen.“
Für einen kurzen Moment war er bei ihren letzten Worten erschrocken. Die Endgültigkeit im Klang ihrer ansonsten ruhigen Stimme hatte ihn überrascht. Anna hatte sich nie vor Herausforderungen gedrückt, vielleicht sah sie keine.
Sie hatte mit diesen Worten gerechnet, sie nicht zum ersten Mal gehört und ihre Antwort war die gleiche, wie die Male zuvor: „Ich weiß es.“
Diese Aussage schien den Moment abzuschließen, war wie das Ende eines Kapitels. Doch er hatte nicht vor, das Buch schon zur Seite zu legen.
„Warten wir es erst einmal ab.“ Das geplante aufmunternde Lächeln fiel ihm schwer und wirkte gezwungen. Trotzdem lächelte sie zurück, um ihn nicht zu enttäuschen oder einfach nur aus Höflichkeit.
Anna lehnte sich wieder zurück, da sie das Gefühl hatte, den schwersten Teil des Gespräches hinter sich zu haben.
„Anna, wann werden Sie in die Klinik gehen?“
„Bereits in der nächsten Woche. Es ist schon alles geklärt.“
Alles würde nun sehr schnell passieren und sie hatte Angst mit diesem Tempo auf das nahende Ziel zuzurasen.
„Dann sind Sie ab sofort nicht mehr im Dienst.“
Und obwohl es nicht wie eine Frage geklungen hatte, nickte sie.
„Ich werde mich um alles kümmern, es den Kollegen und, bei gegebener Zeit, den Schülern mitteilen.“
Wenigstens dies würde er ihr abnehmen wollen und für das kurze Gefühl der Erleichterung, schämte er sich gleich darauf.
Überraschend hart kam ihre Antwort, fast schon drohend.
„Nein, das möchte ich nicht.“
„Sie wollen es selber sagen? Ich halte das für nicht …“
„Nein, ich möchte nicht, dass sie es erfahren.“
Ihr durchdringender Blick hatte etwas Flehendes und doch Unerbittliches, so traute er sich nicht, ihr gleich zu widersprechen.
„Aber was soll ich denn sagen? Man wird doch Fragen stellen.“
„Sagen Sie einfach nichts.“
Beide starrten einander an, maßen sich mit ihren Blicken und er erkannte wieder diese Stärke in ihr, die sie zu einer guten Lehrerin gemacht hatte. Es hatte nur wenig Sinn, es ihr ausreden zu wollen, doch er musste es einfach versuchen.
„Das geht nicht. Irgendetwas muss ich sagen. Sie können nicht einfach … verschwinden.“
„Sagen Sie, ich wäre an eine andere Schule gegangen, ...“, sie schien erleichtert, „... ich hätte den Arbeitsplatz gewechselt.“
„Man wird mich fragen, an welche Schule und wieso Sie gegangen sind. Sie haben doch gerne hier gearbeitet. Niemand wird das glauben.“
Ein wenig sackte sie zusammen, als er ihre Idee zerbrach. Das Gespräch hatte sich nun ganz entgegen ihrer Absicht entwickelt, machte sie zusehends hilfloser.
„Warum möchten Sie nicht, dass die anderen davon erfahren?“
Ihr Blick haftete am Boden und ein Teil ihrer Stärke war verschwunden, vielleicht für immer.
„Möchten Sie nicht, dass man darüber spricht, dass man womöglich tratscht?“
Es war ihm nur schwer begreiflich.
„Nein, es ist mir egal. Es ist mir egal, was einige sagen werden, ob sie meine Geschichte verbreiten.“
„Niemand wird schlecht über sie reden!“
Mit nun gehobenen Blick und fester Stimme fuhr sie fort.
„Um die geht es mir nicht, sie können denken, was sie wollen. Die anderen, die die ich mag und die mich mögen, die sollen es nicht wissen.“
Zum Ende des Satzes war ihre Stimme unsicherer geworden, hatte ein bis dahin gut unterdrücktes Zittern durchscheinen lassen. Er hatte es gespürt, verstanden aber nicht.
„Sollten es nicht gerade die erfahren?“
„Nein, ich möchte nicht, dass sie traurig sind. Sie sollen mich in guter Erinnerung behalten.“
„Aber man wird Sie in guter Erinnerung behalten, wegen der Dinge, die Sie getan haben.“
„Mag sein, dass man sich an die guten Dinge erinnert, aber man wird auch immer an die Trauer erinnert werden, an den Abschied, an das Ende.“
Eine Träne zog eine schmale glänzende Bahn über ihre Wange, ihr Blick war glasig geworden, traf ihn vorwurfsvoll. Etwas sanfter fuhr er fort.
„Es sind alles erwachsene Menschen und einige werden gerade dazu, sie werden damit umgehen können. Das gehört dazu.“
„Ich möchte es trotzdem nicht. Man soll mich nicht so in Erinnerung behalten. Nicht so!“
Ihre letzten Worte klangen resigniert, waren aber so bestimmt gesprochen worden, als dürfe daran nicht mehr gerüttelt werden.
Der Schein des Lichtes wanderte langsam an der Wand empor, kroch über die Tapete hinauf zu den Bildern der Schule, vorbei an den vielen Gesichtern. Bald würden die Strahlen über die Köpfe der ehemaligen Schulleiter hinweg gleiten, dachte er, dann wäre es endlich Zeit nach Hause zu gehen. Sie schaute auf eine Pflanze am Fenster, betrachtete die trockenen Blätter, durch die sich das Licht einen braunen Strahl brach. So fein, dass man jede Ader erkennen kann, dachte sie. Ein wenig Wind und das Blatt würde den Halt verlieren, auf den Boden fallen.
„Nicht so!“ wiederholte sie und es klang wie die Ermahnung eines Schülers.
„Sehen Sie Anna, ich respektiere Ihren Wunsch, die anderen nicht zu verletzten. Im Moment müssen Sie aber an sich denken.“
Er empfand seine Worte als platt, irgendwie fade, es war ihm aber nicht gelungen, es besser auszudrücken. So blieb es ein leerer Appell, der im Raum verhallte. Ihre Trauer war deutlich spürbar und sie war genauso stark, wie alles an ihr stets gewesen war. Nun lastete das Gefühl auf ihm, drückte seine Schultern und wurde ihm unerträglich.
„Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?“
An den Worten haftete seine gesamte Hilflosigkeit, machten sie schwer und klebrig. Doch dann blickte sie zu ihm und nahm ihm die Bürde mit einem Lächeln ab.
„Sie haben Recht, ich kann nicht verlangen, dass Sie für mich lügen.“
Er schien erleichtert, hatte gehofft, dass sie vernünftig sein würde. Es war eine der Eigenschaften, die er so an ihr schätzte.
Leicht beugte Anna sich noch vorn, lächelte ihn weiterhin an, als würde er ganz plötzlich ihren gesamten Trost benötigen.
„Ich weiß nicht, was Sie verstanden zu glauben haben Oliver, aber es geht mir gut.“
Ihr Blick war auf irgendeinen Punkt, ein Etwas hinter ihm gerichtet.
„Ich bitte Sie nur, mir einige Monate frei zu geben, damit ich eine Reise machen kann. Es ist mein Traum, so wie der der meisten Menschen, wenn man gewonnen hat.“
Die Worte verwirrten ihn, waren mit einer absoluten Sicherheit gesprochen worden, als hätte eine andere Realität nie existiert.
„Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Anna.“ nicht einmal was Sie sagen, dachte er.
„Nun Oliver, ich habe im Lotto gewonnen und möchte etwas von der Welt sehen, ein wenig reisen.“
Vorsichtig schob sie ihre Hände über den Schreibtisch und griff nach den seinen, drückte sie sanft.
„Das verstehen Sie doch sicher. Endlich habe ich die Möglichkeit aus Allem raus zu kommen.“
Sein Blick senkte sich auf die Hände vor ihm. Diese zarten Hände hatten nicht vor ihn gehen zu lassen, hielten seine Finger fest umspannt und als er seinen Blick wieder hob, sah er, wie sie ihn erwartungsvoll anblickte.
„Ich verstehe nicht, was Sie da verlangen. Ich denke Sie verstehen nicht, was …“
Sie unterbrach ihn, wie sie es bei einem ihrer Schüler tun würde.
„Ich verlange nur, was jeder in meiner Situation verlangen würde. Geben Sie mir die Zeit, den Gewinn zu genießen.“
„Von welchem Gewinn reden Sie?“
„Nun von dem Lotteriegewinn, das habe ich Ihnen doch bereits erzähl, Oliver.“
Jetzt waren ihre Worte fast schon tadelnd. Damit war für sie das Gespräch beendet und sie erhob sich, wirkte wie einen Läufer, der nur kurz gestrauchelt war und nun seinen Weg fortsetzte.
„Vielen Dank, dass Sie die Zeit für mich erübrigt haben“
Sie reichte ihm die Hand und er stand, fast schon automatisch, auf, ergriff die ihrige.
„Natürlich. Wenn Sie etwas brauchen …“
Wie seltsam ihm die eigenen Worte klangen, sie ergaben keinen Sinn und doch fügten sie sich lückenlos in Annas Realität und schlossen das Bild.
Die Strahlen der Sonne waren fast bei den ehemaligen Leitern angelangt, als Anna die Tür öffnete und das Büro verließ. Oliver schaute ihr hinterher, betrachtete ihre Person noch, als sie bereits nicht mehr zu sehen war. Dann schritt er zum Fenster, suchte auf dem Schulhof nach ihrer Gestalt und als er sie nicht finden konnte, begann er an dem Erlebten zu zweifeln und fragte sich, wie viel davon wahr sein könne.
„Ist alles in Ordnung, Oliver? Ich würde jetzt gerne gehen.“
Babettes Worte rissen ihn aus seinen Gedanken.
„Sie haben Anna gesehen?“
„Natürlich habe ich Sie gesehen. Sie ist gerade aus ihrem Büro gekommen.“
Sie trat zwei Schritte näher, schaute ihn fragend an.
„Ist wirklich alles in Ordnung? Stimmt etwas nicht … mit Anna?“
„Nein. Es ist etwas geschehen.“
Bereits wenige Schritte nach dem Verlassen des Büros war die Stärke wieder aus Anna verschwunden, war die gespielte Sicherheit gewichen und hatte sie benommen zurück gelassen. Nun spürte sie umso deutlicher die warme, stickige Luft auf den Gängen des Gebäudes, als würden die Ausdünstungen von Jahren in ihnen liegen. Sie bog am Ende des langen Flurs zu den Schülertoiletten ab, um sich etwas zu erfrischen, den Schweiß und die Tränen des vergangenen Moments abzuwaschen. In der Mädchentoilette roch es unangenehm und Anna musste unwillkürlich würgen, vielleicht ein Vorgeschmack auf das, was kommen würde. Sie betrachtete sich für einen Moment im Spiegel und wirkte abgespannt, über den helle Schein ihrer Haut hatte sich ein Grauschleier gelegt, wie bei einem weißen Kleidungsstück, das man schon oft gewaschen hatte. Dann musste sie fort sehen von der Spiegelung, wollte sich den kleinen Moment der Schwäche nicht hingeben. Schnell spülte sie die Tränen mit kühlen Wasser hinfort, trank noch ein wenig aus den zu einer kleinen Schale geformten Händen davon. Das Schlucken fiel ihr schwer und das Wasser brannte ihr in der Kehle. Nachdem Anna die Haare geordnet hatte und sich die Feuchtigkeit mit einem der Papierhandtücher aus dem Gesicht gewischt hatte, atmete sie tief durch und setzte ihren Weg fort. Da die Sonne schon hinter den hohen Gebäuden auf der anderen Seite des Schulhofs verschwunden war, fühlte sich die Luft etwas weniger schwer an. Auch war der Wind nun angenehmer als zuvor. Langsam schritt sie zum Ausgang, lauschte auf das Knirschen der kleinen Kiesel unter ihren Schuhen, hörte das Rascheln des trocknen Laubs und war doch so mit den gefallenen Worten beschäftigt, dass sie die schnellen Schritte hinter ihr nicht wahrgenommen hatte.
„Anna, so kannst du doch nicht einfach gehen.“
Babettes Worte klangen vorwurfsvoll.
Sie blieb stehen, drehte sich zu Babette um und versuchte zu lächeln, hatte das Gefühl, es gelänge ihr nicht und würde sie verraten.
„Ich möchte nicht, dass es jemand erfährt.“ stieß sie hervor.
„Natürlich nicht. All die Aasgeier würden sich auf dich stürzen.“
Die Worte trafen sie hart und sie rang erneut mit den Tränen, spürte wieder dieses Zittern.
„Damit werde ich fertig.“
„Endlich hat es mal die Richtige getroffen.“
Das Abbild Babettes begann zu verschwimmen, löste sich in Schlieren auf und zerrann zu einem Strudel von Farben. Vorsichtig nahm Babette sie in die Arme, drückte ihren Kopf an sich.
„Ach du, Anna, nur du kannst etwas so Schönes so schwer nehmen.“
Babette wiegte sie sanft, wie der Wind die trockenen Halme an den Rändern des Hofes. Die letzten Strahlen der Sonne breiteten sich rot über den Dächern aus und unaufhörlich näherte sich das Dunkel von den Rändern des Horizontes aus. Noch war es nicht zu sehen, aber man konnte es bereits spüren.