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Der Geschmack des Bodens
„David, steh‘ endlich auf!“
Mittlerweile schrie Mira während sie versuchte, mich hoch zu ziehen. Ich drückte mein Gesicht nur immer fester auf den kalten Boden.
„Bist du jetzt komplett durch geknallt?“, kreischte sie und beugte sich über mich, um meine Schultern zu packen. Ich drückte fester, bis sie endlich von mir abließ.
Ich war fassungslos über die vielen Taschentücher, die sie um mich herum verteilt hatte und an deren Gebrauch nicht etwa eine Erkältung, sondern ihre Entscheidung, mich nach über sechs gemeinsamen Jahren zu verlassen, schuld war. Wieso wurde ihr Weinen immer lauter, obwohl ich der mit dem gebrochenen Herzen war, derjenige, der am Boden lag? Ich sollte es sein, der all diese Taschentücher verbrauchte. Aber ich lag nur da und alles schmeckte bitter.
Schon im ersten Jahr mit Mira war mir klar, dass ich mit ihr Kinder wollte. Viele kleine, kluge Kinder, die die Welt entdeckten und uns daran teilhaben ließen. Sie hatte immer darüber gelacht und gesagt, sie wollte keine Kinder, denen schon vor ihrer Geburt Leistungsdruck gemacht wurde. Unsere Kinder sollten freier sein, als wir es waren. Diese Kinder würde es jetzt nicht mehr geben.
Stundenlang schrien und weinten wir, beleidigten uns, um uns dann wieder zu beteuern, wie unfassbar unsere Liebe eigentlich war oder gewesen ist. Wir drehten uns im Kreis, liefen weg, kamen zurück, beendeten alles in ein paar Sätzen und irgendwie auch nichts. Mein Kopf schmerzte, ich konnte kaum noch sprechen, so viele Worte hatte ich ausgespuckt. Ich hatte ihr all den Schmerz, den ich jetzt empfand vor die Füße gekotzt, sie damit beschmutzt, alles raus gelassen, was irgendwo in mir war. Ich wollte, dass es aufhörte, aber hatte Angst vor dem Moment, in dem sie die Tür hinter sich zuzog und weg war. Mir schoss in den Kopf, dass ich ab jetzt alleine aufwachte und nicht mehr aus dem Bett heraus zusehen konnte, wie sie sich im Badezimmer zurecht machte. Das sanfte Streichen durch die Cremedose, das gleichmäßige Reiben der schönen Hände. Ich hatte das Gefühl, ich könnte nie mehr ohne dieses Morgenritual aufstehen.
„Wenn ich ohne dich aufwachen muss, wache ich lieber gar nicht mehr auf“, schmiss ich ihr verzweifelt vor die Füße und wusste, wie unrecht ich ihr damit tat.
„Mira, ich kann dich nicht verlieren, das hab‘ ich dir doch immer schon gesagt.“
„Du musst mich nicht verlieren, das weißt du.“
Es machte mich wütend, dass sie wirklich an diesen Schwachsinn glaubte. Ich sollte mit der Liebe meines beschissenen Lebens eine Freundschaft führen? Nach sechs Jahren, von denen mindestens vier verdammt romantische Jahre waren und die letzten zwei vielleicht etwas anstrengend, aber doch auch irgendwie schön? Am schlimmsten war, dass ich diesen Moment immer wieder in meinem Kopf durchgespielt habe, bevor es passierte. Sie kommt herein, schaut mich mit Tränen in den Augen an, die Arme verschränkt. David, wir müssen reden. Immer und immer wieder habe ich den Moment in meinem Kopf gehabt und ihn dann weggeschoben, sie fester gehalten, ja, vielleicht zu fest. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich schon dachte, dass sie nun geht. Die Angst, sie zu verlieren sollte nun der Grund für den Verlust sein und mir blieb nichts - nur der bittere Geschmack des Bodens.
Die nächsten vierzehn Monate verbrachte ich mit Leiden. Nicht dieses romantische Leiden, bei dem hübsche, junge Männer mit wilden Locken und Drei-Tage-Bart auf einem hübschen, antiken Sofa sitzen und rauchen, laute, melodische Musik im Hintergrund. Es war die Art von Leiden, die einen fast das Leben kostet. Ich konnte nicht ohne Mira und sie konnte auch nicht so gut ohne mich, wie sie es sich gewünscht hatte. Unsere Treffen, die meistens spät nachts in meinem Bett stattfanden und für die wir beide nicht nüchtern sein konnten, waren durchzogen von einem Schmerz, für den ich keine Worte fand. Ich verlor mich immer wieder in ihr, Orgasmus für Orgasmus. Die Zeit zwischen diesen Treffen verbrachte ich meistens auf dem Fußboden in Miras altem, leergeräumten Zimmer, ohne antikes Sofa und ohne Musik. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass das Leiden jemals wieder ein Ende finden würde. Ich ging kaum noch zur Uni und die Freunde, die ich hatte, kamen nur noch selten vorbei. Wenn das Telefon mal klingelte, wollte ich es nur abheben, wenn ich wusste, dass am anderen Ende der Leitung Mira stand, in ihrer neuen Wohnung, in der sie ohne mich lebte und in die ich niemals ging. Die Nächte mit Mira begannen sich zu häufen, als der November anbrach und manchmal spielte mir mein Kopf einen Streich und ich vergaß für kurze Momente, dass sie mich verlassen hatte. Weihnachten und Silvester verbrachte ich in ihrem alten Zimmer, das klingelnde Telefon nebenan. Im Januar bekam ich sie kaum zu Gesicht und dachte schon, sie hätte sich nun endgültig von mir gelöst. Als sie dann mit Anbruch des Februars endlich wieder in meinem Arm lag, die Decke bis unter das Kinn gezogen, wusste ich, dass etwas anders war. Ihr Blick war abweisend, ihr Körper nicht so vertraut, ihre Stimme nicht so tröstend.
„Ich hab‘ abgetrieben“, flüstere sie in die Dunkelheit der Nacht.
Es gab noch einige weitere gemeinsame Nächte, aber wir spürten beide, dass der Schmerz nun größer geworden war als der Trost. Bis zu diesem Moment hatte ich mich daran festgeklammert, dass sie nicht zwei Mal mein Herz herausreißen könnte. In dieser Nacht hatte sie mir mit nur drei Worten das Gegenteil bewiesen. Und so ging ich eines Abends, nachdem Mira die Tür hinter sich zugezogen hatte, ins Badezimmer, öffnete die Cremedose, die sie bei ihrem Auszug im Regal vergessen hatte und verwischte die Spuren, die ihre Finger dort hinterlassen hatten.