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Der Gesang der Truthähne

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02.11.2001
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Der Gesang der Truthähne

Ein fahles Licht hängt über dieser nächtlichen Raststation, ein Aprilmond, mit blauen Äderchen durchzogen. Ein weit entferntes, übergroßes Auge. Er parkt den Wagen, zieht die Handbremse an, vertritt sich die Beine, lässt dabei die Wagentüre offen. Die Luft ist kalt, der Parkplatz wie ein Spiegel nach dem Regen der vergangenen Stunden.
Wenn er den Kopf zur Autobahn dreht, hört er das Brummen schwerer Motoren. Sonst ist da nur der Wind und doch mischen sich Geräusche darunter, wie ein Zischen aus vielen Schnäbeln. Er schlägt die Wagentüre zu, schlendert entlang der abgestellten Trucks, die mit ihren hohen Aufbauten wie Häuser wirken. Einer hat über vier Ebenen verteilt Truthähne geladen. Die schmutzigen Abdeckplanen sind verrutscht und er kann in das Innere des Laderaumes sehen. Dicht aneinander gepresst hocken die Tiere in riesigen Drahtkäfigen, zitternd, zischend, gurrend. Manche rasen im aufgezwungenen Stress dieser Nacht, dieser Fahrt zu den Schlachtbänken entfernt liegender Großmärkte. Andere sitzen ganz ruhig, traumatisiert, erschöpft. Dazwischen bemerkt er die Körper toter Tiere, mit ausgepickten Augen, aufgerissenen Hälsen.

Was ist das, denkt er erschüttert.
Das kann, das darf nicht sein.
Wir haben Gesetze dagegen gemacht, sie beschlossen, sie im ganzen europäischen Dorf eingeführt. Gesetze gegen diesen Alptraum vergangener Jahrzehnte und ihren Transportpraktiken.
Er geht zur Vorderseite des Trucks, hört von dort leise Stimmen. Die tiefere eines Mannes, der Anweisungen zu geben scheint, fordernd, immer wieder, zwischen regelmäßigen Atemzügen. Die Stimme einer Frau, nur ganz leise, zischend, fast so wie die todgeweihte Ladung dahinter, Wortfetzen, eine Sprache, die er nicht versteht. Kein Licht brennt in der Fahrerkabine, die Vorhänge in den Farben der amerikanischen Südstaatenflagge sind vorgezogen. Er kann nur ahnen, weiß, dass er richtig gedacht hat, als er den Schrei des Mannes hört, vermischt mit dem jetzt lauten Keuchen der Frau, ihrem hohen Winseln.
Alles ist voll von diesen tierischen Geräuschen in diesem Truck in diesem Augenblick. Ein Augenblick, in dem sich alles gleicht und die Unterschiede wegfallen. Nur der zwischen Macht und Ohnmacht bleibt.
Er steht vor dieser Erkenntnis, entdeckt darin die Chancenlosigkeit der Kreatur, spürt die Flut von Irrtümern, in der diese Welt noch steht wie gegen eine Brandung, eine Welt, in der nur die alles vernichtende Art die Macht hat, ihre Gesetze zu brechen. Der Ekel vor all dem steigt auf in ihm, macht ihn hilflos dort am Parkplatz, der jetzt auch ein Spiegel wird für all das, das sich ein paar Meter darüber zischend zum Überleben bekennt.

Er geht weg von diesem Transporter, leer im Kopf und fassungslos sowieso.
Der Aprilmond hängt über der Plane, unter der es nach Leben schreit und gurrt. Der Mann und die Frau steigen gleichzeitig aus dem Führerhaus des Trucks. Der Mann schreit, gestikuliert mit beiden Händen, stößt die auf ihn einredende Frau von sich, öffnet die Türe eines in der untersten Ladeebene stehenden Drahtkäfigs, holt den Körper eines toten Truthahns heraus, greift nach einem zweiten, noch zappelnden, schlägt diesen mit dem Kopf gegen die metallenen Verstrebungen des Aufbaues, wirft die beiden blutigen Körper vor die Füße der weinenden Frau, schlägt die Plane vor, holt wütend zum Schlag gegen das Gesicht der Frau aus, lässt es dann doch sein, steigt fluchend zur Fahrertüre hoch, startet den Motor und lässt die Frau mit dem toten Lohn ihrer Arbeit in einer Wolke aus schwarzen Dieselabgasen zurück.

Er sitzt im Wagen, beide Hände am Lenkrad. Weiß treten die Knöchel hervor, so fest hält er sich an. Was vermag der Mensch alles zu tun, sogar mit seiner eigenen Art, denkt er. Wäre in dieser Nacht daran etwas zu ändern gewesen, fragt er sich. Hätte er das Recht der Einmischung gehabt, nur entstanden in dieser Zufälligkeit des Mitansehen Müssens? Was wäre damit gerechtfertigt, bewiesen gewesen? Die Frau mit der fremden Sprache, die Blutspritzer der toten Truthähne, das rote, hässliche Gesicht des Mannes, seine erhobene Hand?
Dahinter, dazwischen, daneben, davor, überall der Gesang der Truthähne.

Sie machen uns alle was vor, alle die dahinterstecken, alle die beschließen und trotzdem wegschauen.
Der Morgen graut ihm.

 

Hallo Aqualung,

mit kräftigen, dunklen Pinselstrichen hast Du ein Bild gemalt, von dem man hofft, daß es surrealistisch ist, aber leider wird man nicht gerettet...
Der Spiegel am Anfang und Schluß der Story- wieder ein gelungener Griff in die Trickkiste...
(Oder besser gesagt: In die reich bestückte Handwerkskiste eines Autors).
Ich sehe in der Geschichte eine Menge Gesellschaftskritik. Oberflächlich geht es um Tierschutz, doch bald merkt man, daß es auch um (mangelnden) Menschenschutz, um Machtlosigkeit selbst der Herrschenden (= Gesetzgeber) geht, deren Gesetze nichts bewirken. Es geht auch um Leid und Ohnmacht der gequälten Kreatur, gleich ob Mensch oder Tier („...die Unterschiede wegfallen. Nur der zwischen Macht und Ohnmacht bleibt“).
Und dann doch dieser Wille zu Überleben, physisch und seelisch („... das sich ... zum Überleben bekennt“).
Selbst die Hauptperson leidet, obwohl sie selbst kein Leid begangen hat.
Habe ich das so richtig verstanden?

Beim vorletzten Absatz weiß man nicht gleich, daß sich das „er“ nicht auf den Truck- Fahrer bezieht- wolltest Du das?
„Der Morgen graut ihm“ empfinde ich als ungünstig ausgedrückt, was hälst Du von: Es graut ihm vor dem Morgen?

Bin jetzt einige Tage unterwegs, bis dann !

Tschüß... Woltochinon

 

Hallo Aqualung,
"der Morgen graut ihm" - Das ist der stärkste Satz in dieser starken Geschichte. Es täte mir leid um ihn, wenn du ihn ändertest in die eindeutig möglichen Varianten, die alle erwarten wie den wohlverdienten Ruhestand.
Grüße von Emma

 

Hallo, Aqualung!

Deine schonungslosen und ausdrucksstarken Worte passen hervorragend zu dieser eindrucksvollen Geschichte. Sehr gut gelungen!
Der Satz am Schluß ergibt, meiner Meinung nach, einen falschen Sinn.
Vorschlag: Vor Morgen graut ihm.

Ciao
Antonia

 

Hallo Woltochinon,
den vorletzten Absatz wollte ich genauso, wie du es bemerkt hast. Ansonsten trifft deine Analyse der Geschichte punktgenau. Vielleicht ist sogar der Truck-Fahrer das ärmste Tier dabei, ich bin mir da selbst nicht sicher. Den letzten Satz habe ich von einem Text der Gruppe "Element of crime", ein bißchen umgestaltet, aber doch ausgeliehen. Das Grauen vor dem, was da ist, nicht zu ändern ist, spiegelt sich im kommenden Morgen.

Liebe Emma, ich lass die Anleihe des Endes so stehen, es soll dafür nur diese Variante überbleiben.

Auch dir Dank, Antonia. Zum letzten Satz habe ich Woltochinon meine Sicht erklärt. Vielleicht überlebt gerade in der Mystik dieses letzten Satzes die Geschichte in den Köpfen der Leser.....

 

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