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Der Geruch der Sehnsucht
Nachts auf dem Fluss, klarer Sternenhimmel, ein sanfter, kaum zu spürender Lufthauch und der leise Alt des beschwingten Plätscherns der Wellen, untermalt vom satten Bass des kaum vernehmbaren Vibratos der Schiffsmaschine. In diese Eindrücke mischt sich etwas Neues, Ungewohntes, geradezu Ungehöriges für die kalte Februarnacht. Es ist ein fast nicht wahrnehmbarer, nur angedeuteter Duft von Rosen. Er passt nicht hierher und wirkt beunruhigend.
Er fährt mit seinem Boot stromab, durch Düsseldorf, und schon mittags hat er den Loreleyfelsen passiert, dem verlockenden Gesang der blonden Jungfrau widerstanden, der so manchen Schiffer verwirrt, um den Verstand gebracht hat. Nein, das kann ihm nicht passieren; höchstens jungen Leuten, die so romantisch „angehaucht“ sind, dass sie einem scheinbaren Zauber erliegen. So jedenfalls stand es in dem Bericht des Innenministers von Rheinland-Pfalz, den er unlängst in der Rheinischen Post gelesen hatte. Unerfahrene Romantiker wurden auch heute noch manchmal „Opfer“ der Loreley, aber nicht selten war Alkohol im Spiel, das nur nebenbei.
Woher kommt dieser süße Duft, der immer deutlicher, intensiver wird? Das Rätselhafte bringt ihn etwas aus der Fassung, so dass er aufmerksamer die Ufer betrachtet, den nächtlichen Geräuschen lauscht, die Gerüche zu analysieren versucht, die der sanft atmende Wind wellengleich zu ihm trägt.
Steuerbords voraus kommt der Fernmeldeturm auf ihn zu, im Vorbeifahren addiert er die Zeichen der unteren Bullaugen der Dezimaluhr: 2 Minuten 30 Sekunden – die Stunden und Zehnerstunden leuchten nicht – nach Mitternacht. Nun fährt er unter der Rheinkniebrücke hindurch, kommt am Schlossplatz und der Pegeluhr vorbei, und dann nimmt er ganz deutlich wieder diesen Duft wahr. Vom Backbordufer aus Richtung Oberkassel, das sich an die Kleingärten hinter den Rheinwiesen anschließt, kommt er auf ihn zu, umfängt ihn mit süßer Wehmut.
Nun stoppt er die Maschinen und die Fahrt wird langsam, nur bestimmt durch die bedächtige Strömung in der Flussmitte. Im milden Licht des Mondes wächst plötzlich zwischen den schlanken Silhouetten der Pappeln eine Frauengestalt hervor. Ungläubig reibt er sich die Augen, und unwillkürlich fallen ihm Geschichten alter Seefahrer ein, von Elmsfeuern, Klabautermann und Seeungeheuern. Er glaubt zu träumen und möchte seinen Augen nicht trauen, als er auf einmal eine Art Seufzen vernimmt und klagende Rufe zu hören meint. Seine Sinne täuschten ihn wohl, denn bei genauerem Hinsehen wird aus der Frau ein Strauch, dessen Zweige sich kaum merklich bewegen. Doch gleich darauf wähnt er ein Gesicht zu erkennen, von langen dunklen Haaren umweht, und dann Arme, die ihm zuwinken.
Noch während er überlegt, ob ihn ein Spuk genarrt oder ein böser Traum heimgesucht hat, löst sich die Gestalt vom Ufer und schwebt wie ein Nebelschleier auf ihn zu, verharrt kurz und lässt sich dann unmittelbar vor der Brücke auf seinem Schiff nieder.
Schweigend schaut sie ihn an mit ihren dunklen mandelförmigen Augen. Seltsam vertraut kommt sie ihm vor.
„Wer bist du?“, fragt er schließlich.
„Ich bin die Sehnsucht“, antwortet sie.
„Welche Sehnsucht?“, möchte er wissen.
„Die Sehnsucht nach allem, was verloren ging“, sagt sie, „nach dem, was einmal war und vielleicht nicht wieder kommt, wenn man mich verjagt. Und die Sehnsucht nach dem was sein kann, was es noch nie gab.“
„Dann bist du die Fee der Träume?“, vermutet er zögernd.
“Der Sehnsucht und der Träume“, antwortet sie, „das sind Teile von mir. Ich wecke ich die Wünsche nach dem, was noch nicht war, wie ich auch an das erinnere, was schön gewesen ist und irgendwann aufgehört hat. Wer mir folgt, dem bin ich eine treue Gefährtin.“
„Wie kommt es, dass du nach Rosen duftest? Warum konnte ich lange, bevor ich dich sah, diesen süßen Duft spüren?“, fragt er weiter.
„Es ist das Ziel deiner Sehnsucht, das diesen Geruch hervor bringt“, lächelt sie wissend. „Du sehnst dich nach deiner Frau, die darauf wartet, dich mit Rosenwasser zu begrüßen. Und die schön ist wie eine Rose.“
Verblüfft betrachtet er die Fee. Ganz allmählich hatte sie die Gestalt von der Frau angenommen, die er tatsächlich schon während der ganzen Fahrt vermisst hatte. Nur war es ihm nicht bewusst geworden bis zu diesem Moment.
„Warum bist du zu mir gekommen, gerade jetzt?“, begehrt er zu wissen.
„Sie hat Sehnsucht nach dir, deshalb hat sie mich gerufen. Ich bin ihre Botin, und sie hat mich geschickt, weil sie deine Sehnsucht spürte“, sagt sie leise zu ihm. „Doch nun muss ich gehen, denn meine Zeit ist abgelaufen. Folge der Sehnsucht und warte nicht zu lange.“
“Güzel Gülüm“, denkt er, „meine schöne Rose“, und er will ihr noch etwas sagen, aber da löst sich die Gestalt schon wieder in Nebelschleier auf und schwebt zurück zum Ufer. Im selben Moment schlägt es von irgendwo 1 Uhr. Etwas benommen geht er zur Brücke, schaltet den Suchscheinwerfer an und leuchtet zum Ufer hinüber. Aber es ist weder die Frau noch ein Strauch zu sehen, nur die Rheinwiesen und die Reihe der Pappeln vor den kahlen Kleingärten.
Ihm ist nicht ganz klar, ob er geträumt hat oder nicht, doch nun weiß er: Wer sich sehnt, der sucht, und wird das Sehnen zur Sucht, dann ist es höchste Zeit. Wenn die Sucht sich zu sehnen vorbei geht, dann sterben die Wünsche und die Träume, und dann wird auch er sterben. Aber davon ist er weit entfernt, so stark ist die Sehn-Sucht. Sobald er die Ladung gelöscht hat, wird er dem Ruf der Fee folgen und zu seiner Rose nach Hause fahren.