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Der Geist geht
Die Haustür glänzt wie immer. Ich rieche den Mief aus teurem Parfüm und Parkettwachs, mit dem ich aufgewachsen bin. Auf dem Klingelschild mein Name: Ivette, fett durchgestrichen. Beim letzten Mal habe ich mit Nagellackentferner den Eddingstrich entfernt, aber jetzt grinst er mir wieder höhnisch entgegen. Mein Magen zieht sich zusammen, vielleicht ist es nur der Hunger, bei mir gibt es schon seit Tagen nur Müsli und Möhren. Allmählich brauche ich einen Plan, wie es weitergeht ohne Job, ohne Jan, ohne ...
Wie verabredet, nein, wie bestellt, komme ich hier pünktlich um Viertel nach vier zum Kaffee vorbei. Ein kurzer Blick auf mein Handy, dann schiebe ich es in die Hosentasche. Meine Mutter hasst es, wenn irgendwas mehr Aufmerksamkeit bekommt als sie.
Der Blick in die Küche lässt mich erstarren. Zwei Schritte und ich schlage ihr alles aus der Hand. Die Tabletten schlittern über den schwarzen Fliesenboden. Das Wasser spritzt auf einen Haufen aus Folien, Taschentüchern und Pizzaresten.
„Was soll der Scheiß schon wieder?“ Unsanft schiebe ich meine Mutter auf einen der klebrigen Stühle. „Perfekt getimet, was?“ Ich fege die Tabletten zusammen und werfe sie in den Müll. Drehe mich einmal um mich selbst, versuche das Gefühl von zu Hause einzufangen.
Mutter legt den Kopf auf die Tischplatte. Mit einem schnellen Griff rette ich die Kaffeeschale vor dem Absturz. Ihre Geriatrie-Zeitschrift rutscht vom Tisch, mein Blick schweift durch die sonst immer spiegelblanke Küche.
Aus Augenschlitzen linst meine Mutter zu mir. „Wenn du gehst, Ivette, will ich nicht mehr.“ Sie hat ihren Kopf gedreht und beobachtet meine Versuche, das Chaos zu ordnen. Kaum schaue ich in ihre Richtung, fängt sie an zu weinen und stöhnen.
„Hör auf damit, wir wissen beide, dass es hier nicht um mich geht.“ Ich wende mich ab, sehe den Berg dreckigen Geschirrs und die offenen Sushipackungen, da kommt der widerliche Geruch her. „Wolltest du dir nicht eine Haushaltshilfe suchen?“ Wie automatisch räume ich Teller und Gläser in den Geschirrspüler.
„Lass das, du wohnst hier nicht mehr.“ Sie sitzt da, bleibt auf Abstand.
In der unteren Schublade suche ich nach meinem Lieblingstuch, das mit den Marienkäfern, und beginne, die klebrigen Ringe und Krümel zu beseitigen. Das Tuch hat mir einer von Mutters Lovern geschenkt, ich sei genauso quirlig, wie die Käfer und immer glücklich. Gedankenverloren streichle ich über eines der übergroßen rot-schwarzen Insekten.
Der Hunger siegt, ich grabble in der Keksschublade nach etwas Essbarem.
„Ich hab dich nicht rausgeworfen, hab nur gesagt, wenn du dein Studium abbrichst und mit dem Typen nach Amerika gehst, bist du raus.“
„Kanada, und er heißt Jan.“ Ich taste nach meinem Handy, hat es nicht gerade vibriert?
Meine Mutter schnaubt nur, redet seit Wochen nicht mit mir, nicht wirklich.
Mit unerwartetem Schwung zieht sie sich hoch, zeigt auf mich. „Ich habe dir alle Möglichkeiten eröffnet, für dich auf alles verzichtet, alles getan.“
„Ja, Frau Doktor! Du hast mir einen blöden französischen Vornamen verpasst. Ich hatte sogar zweisprachige Kindermädchen.“ Mir wird heiß, die Worte sträuben sich auf der Zunge, wollen unbedingt raus. „Aber du hast mich nie geliebt!“
Sie ist schneller als sonst. Mein Kopf schnellt zur Seite, ich beiße mir auf die Lippen. Schmecke Blut. Die Finger meiner Mutter brennen auf der Wange. Ich hole tief Luft, will antworten, doch sie kommt mir zuvor: „Ich wäre heute Professorin und hätte meine eigene Klinik. Ich wäre jemand.“
„Tja, dann hättest du wohl nicht schwanger werden dürfen.“
Sie lacht höhnisch. „Das sagt die Richtige. Hast dich doch selbst von irgendwem anbuffen lassen.“
Ich sinke auf den Stuhl. „Warum lass ich dich nicht einfach die Tabletten nehmen?“
Bei dem Gedanken wird mir schlecht, es blitzen Bilder auf. Wir auf dem Spielplatz, wir mit Kochmützen und Spagettis, Mutter beim Aussuchen meiner ersten High Heels. Ihre betont beiläufige Stimme lässt mich aufblicken.
„Wo ist er, dein toller Typ?", fragt meine Mutter. Ich schüttle nur den Kopf, will gehen und bleibe doch sitzen.
Die Tabletten sind vergessen, gleich kommt die Weinflasche. Und irgendwann wird sie sich das Briefpapier schnappen, wie manisch anfangen zu schreiben. Entschuldigungsbriefe schreiben kann meine Mutter, sie findet immer einen Grund, eine Ausrede, meistens bei anderen.
Am liebsten will ich lügen, ihr einfach erzählen, dass er angerufen hat, ich in den nächsten Tagen endlich auch nach Kanada fliege, alles gut wird. Aber sie merkt immer, wenn ich lüge. Ich fange an, die Bücher ins Regal zu ordnen, ganz systematisch.
Meine Füße schlurfen, als ich die Tür leise hinter mir zuziehe, in der Hosentasche alle Tabletten, die ich in der Wohnung finden konnte. Meine Mutter hat mich nur beobachtet, ohne weitere Worte. Sie versucht nicht mal etwas zu erklären, gibt keine Antwort. Dabei ist die Nacht im Krankenhaus erst drei Wochen her. Die Schwestern haben versucht, mir zu erklären, dass es ein Hilferuf sei, von meiner Mutter kam nur: „Glück gehabt!“ Aber sie hat den Anruf nicht verhindert, mich kommen lassen. Und ich durfte sie in den Arm nehmen, ganz kurz.
Ich konnte nicht anders, habe gefragt: „Soll ich zu dir ziehen?“
Von ihr kam nur: „Hast du dich von dem Kerl getrennt?“
Seitdem sitze ich alleine in der kleinen Bude, die Jan und ich zu einem gemütlichen Kuschelnest gemacht haben. Alles voll Fotos von uns, dicken Kissen und sein Geruch hängt im Raum. Ich kann ihn riechen, obwohl er seit zwei Monaten weg ist – unser Leben in Kanada vorbereiten. Seitdem habe ich nichts von ihm gehört, überhaupt nichts. Er weiß nicht mal, dass er Vater werden könnte. Ich weiß nicht mal, ob er noch lebt.
Noch ein Blick auf das Handy, dabei wollte ich es doch wegstecken. Meine Schritte werden kürzer, ich erwische mich bei kleinen Umwegen und dem Blick in Schaufenster, die mich nicht interessieren. Ich komme jeden Tag später nach Hause.
Wie ein Geist schleiche ich durch die Straßen, suche in allen Gesichtern nach einem Bekannten, in allen Geräuschen nach meinem Namen. Aber hier ist keiner, kein Jan, keine Freundin, keine Familie. Irgendwer hat in einem der letzten Gespräche zusammengefasst: ‚Du brauchst anscheinend niemanden mehr‘, und ist gegangen. Seit ich Jan kenne, gab es nur uns. Und jetzt?
Ohne dass es mir bewusst ist, bin ich in Richtung des kleinen Bistros gelaufen. Es ist dort ruhig, den Kaffee kann ich mir noch leisten. Vor zwei Tagen hat mir der süße Angestellte ein Stück Kuchen zum halben Preis gegeben. Ein interessanter Typ, irgendwas bedrückt ihn, ich kann es sehen. Und der Boss lässt mich nicht aus den Augen, aber sorry, kein Interesse.
Ich steure zielstrebig auf die Glasvitrine mit dem Kuchen zu, stütze mich kurz ab. Selbst die recht kümmerlichen Reste lassen meinen Magen hopsen. Bis mir einfällt, dass ich nur noch zwei Euro in der Hosentasche habe.
Ein Nicken für den Boss und ein kleines Lächeln für den jungen Typen hinter der Bar.
„Einen Kaffee bitte, schwarz.“ Mein Blick schweift noch einmal über die leicht angetrocknete Apfeltarte und einen etwas krümeligen Nusskuchen.
„Bring ich an den Tisch“, sagt der Boss.
Auf dem Weg zu der Fensterbank höre ich schon das harte Klacken des Kaffeesiebs und den Dampf. Ich mag seine Art, wie er hochkonzentriert die Maschine bedient, umwabert vom heimeligen Geruch frisch gemahlenen Kaffees. Ich taste in meinem Rucksack nach dem Notizblock, muss meine Gedanken dringend aufschreiben. Ja, vielleicht ist das ein Weg, ich schreibe einen Brief.
Der erste Satz steht schon auf dem Papier, bevor ich überhaupt entschieden habe, an wen ich schreiben will. Meine Mutter? Jan? Eine Freundin, eine ehemalige …?
„Geht aufs Haus.“ Der Boss stellt ein Stück Apfeltarte zum Kaffee. Mein Magen knurrt.
„Danke.“ Ein kleines Lächeln. Ich mag den Boss, aber jetzt nicht, ich schließe meine Augen und hoffe, dass er zu tun hat.
„Arbeit?“
Ich schüttle den Kopf und endlich geht er: „Entschuldigung!“, und noch irgendwas murmelnd.
Meine Gedanken kreisen wie ein Starenschwarm, zu viele, zu laut. Was will ich schreiben? Was will ich – Abschied, Hilfe, Liebe?
Vom Tresen dringt nur undeutliches Gemurmel zu mir. Fußball, das allumfassende Männerthema würde ich tippen. Aber wer weiß, vielleicht streiten sie auch über die Tagespolitik.
Den ersten Zettel zerknülle ich, lasse ihn in meinen Rucksack fallen. Ich kriege meine Gedanken nicht zu fassen, wie soll ich das auflösen, meine Mutter verstehen, Jan finden, der Einsamkeit entkommen, …
Ich zerteile meinen Kuchen wie immer in kleine Happen, fange nochmal an zu schreiben. Draußen blitzt Blaulicht auf, ich schaue, in welche Richtung es fährt.
Als die Tür klappert, blicke ich auf und merke, dass ich alleine im Bistro bin. Die beiden Männer stehen sich draußen gegenüber, der junge Typ, Paul heißt er wohl, entspannt an den Türrahmen gelehnt. Der Boss dreht ruckartig den Kopf, als ob er mich eben noch beobachtet hätte. Im Neonlicht der Reklame schwirrt Asche durch die Luft. Ein dumpfes Aufprallgeräusch schreckt mich hoch, die Scheibe gerät in Schwingungen, ich kann es spüren. Ruckartig verziehe ich die Hand, ein Strich kratzt übers Blatt. ‚Ich möchte ______‘. Draußen beugen sich die Männer über die Gehwegplatten, der Boss formt mit seinen großen Händen eine Schale und trägt etwas herein. Er legt einen toten Vogel auf eines der kleinen Silbertabletts, zarte Federn lösen sich. Mein Blick folgt einer in die Kuchenauslage schwebenden Feder, ich trete näher, angezogen von dem kleinen Leben, was jetzt so ohne ist.
Ich höre nur weit weg den Kommentar von Paul, meine Hand fährt sacht über den Schnabel, die weichen Federn an der Kehle.
„Das Genick ist gebrochen.“ Ich spüre, dass meine Augen feucht werden, blinzle es weg.
Der Boss fragt leise: „Genick gebrochen?“ Also nehme ich vorsichtig seine Hand und führe sie zu der Stelle, an der ein kleiner Knochen aus dem Federkleid ragt. Seine Finger zittern, kurz überlege ich, sie fester zu fassen, aber er zieht sie zurück und ich lasse meine Hand ins Leere fallen. Ohne Kommentar greift er zur Flasche unter dem Tresen. Der scharfe Geruch von Schnaps, den er aus einem Wasserglas kippt, lässt mich zurücktreten, meinen Rucksack umklammern.
„Und der Flattermann?“, fragt Paul. „Machen wir mit dem jetzt?“ Er blickt zwischen mir und seinem Boss hin und her. Erwartungsvoll schaut dieser mich an.
Ohne nachzudenken, mit einem tiefen Aufatmen lege ich einen Finger auf das Silbertablett und sage bestimmt: „Ich finde, wir sollten ihn beerdigen.“
Paul winkt an. „Ab in die Tonne damit.“
„Nein, das ist Leben, sowas wirft man nicht weg.“
In meinem Kopf dröhnt es, ich will das Tablett nehmen, den Vogel in Sicherheit bringen, ihm ein Heim geben, ein letztes. Ich drehe einen Fuß leicht schräg, schiebe meinen Körper zwischen Paul und den Vogel, gehe in Verteidigungshaltung. Fahre mit einer Hand über meinen Bauch.
Da wird die Stimme des Bosses klarer in meinem Kopf, ich höre bewusst seine Frage. „Wie hast du dir das vorgestellt?“ Sein: „Beerdigen … ich meine, wo willst du ihn denn beerdigen?“, klingt skeptisch.
Suchend schaue ich mich um, ignoriere das Geplänkel der beiden, irgendwas über verrückt sein und nur tot. Mein Blick fällt auf den Blumenkübel vor der Tür, eine Mischung aus üppigen Petunien und einigen verhungerten Fleißigen Lieschen. Ich zeige auf den großen Topf: „Da draußen im Blumenkübel.“
Kopfnickend greife ich mir das Tablett und gehe. Paul hält mir die Tür auf, schaut mich mit ungläubigen Augen an.
Während beide Männer mir durch die große Scheibe zuschauen, knie ich vor dem Kübel nieder. Vorsichtig, einige Petunientriebe beiseite biegend, kratze ich ein Loch in die Erde. Sie ist frisch aufgefüllt, es riecht satt und beständig nach etwas Bleibendem. Ich muss Kraft aufwenden, um durch das Wurzelgeflecht tief genug zu kommen, fasse die Kuchengabel falsch herum, um den breiten Stiel nutzen zu können. Sanft streichle ich ein letztes Mal über den jetzt kalten Körper, bette den toten Vogel in das kleine Grab und überlege, was ich noch tun könnte. Nichts, da kann man nichts mehr tun. Mit den Gabelzinken schiebe ich vorsichtig Erde in die flache Kuhle, bedecke den Körper und suche nach einem Stein oder Ähnlichem. Nein, hier ist nichts, also klopfe ich nur achtsam auf den weichen Boden. Erst beim Aufstehen merke ich, dass mir Tränen übers Gesicht laufen. Kein Schluchzen, kein Ton, nur leise fließende Tränen.
Ohne mich noch einmal umzudrehen, gehe ich, meinen Rucksack über einer Schulter, die Kuchengabel in der Hand.
- Quellenangaben
- Jimmys 'Den Geist tragen'