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Der Geiger
Es war Abend in einer kleinen Nebenstraße, die nur von schwachem Licht gesäumt war. Der Geiger stieg aus seinem Wagen und schritt eilig den kleinen Fußweg zum Haus hinauf. Er hatte zwei Taschen mit Lebensmitteln bei sich und ging, nachdem er eingetreten war, in die Küche, um sie ordentlich zu verstauen. Während er Dosen voll Bohnen und Möhren verräumte, rief er in die Stille des Hauses: „Bist du wach? Oder schläfst du? Alterchen? Hörst du mich?“ Er bekam keine Antwort. Als alle Dinge an ihrem angestammten Platz waren, ging er einen Raum weiter und fand den alten Mann in seinem Sessel am Fenster. Er sah ihn an.
„Wie geht es dir?“ fragte der Geiger.
„Ganz gut, ganz gut. Und dir, du Schreihals?“ sagte der Alte lächelnd.
„Ziemlich stressiger Tag heute. Ben hatte Ärger in der Schule und ich kam mit der Arbeit nicht hinterher. Ich hab bis jetzt grade gearbeitet und nicht mal die Hälfte geschafft. Ich bin froh, wenn die Woche rum ist. Ich hab deshalb auch leider nicht viel Zeit heute.“
„Das macht nichts.“ sagte der Alte, „Irgendwann ist Zeit alles was du hast.“
„War Nicole heute hier?“
„Natürlich, natürlich.“
„Vertragt ihr euch noch?“
„Ach, sie ist ein liebes Mädchen. Das geht alles schon recht gut.“
„Das ist schön. Ich muss leider auch schon wieder los. Deine Einkäufe habe ich weggeräumt, wenn was ist, drück den Knopf.“
„Ja, ja, ich weiß, ich weiß. Ich werde auch gleich schon ins Bett gehen, aber bevor du gehst, bitte, du weißt, spiel ein Lied.“
„Ach, Papa, das passt mir heute gar nicht.“
„Doch, doch, “ bestand der Vater, „tu es für mich. Bitte.“
„Na schön.“ resignierte der Geiger schließlich. Er ging zu einem Schrank und nahm seine alte Geige, auf er das Spielen gelernt hatte, heraus. Auf dieser Geige hat er durch tausende Fehler zu seiner Perfektion gefunden. Sie war so alt wie er selbst und eigentlich nicht mehr besonders klangvoll, aber der Vater konnte sich damals einfach keine andere erlauben. Der Geiger aber wusste mit ihr umzugehen, er kannte all ihre Tücken und Fehler und strich den Bogen immer so gekonnt über die Saiten, dass kein Ton daneben ging.
Er legte sie ans Kinn und begann legato. Der alte Mann schloss die Augen.
Als die ersten Töne aus der Geige traten, flogen sie zum Kamin herüber und entfachten ein Feuer, das so wärmend, so schön war, wie kein anderes Feuer auf der Welt. Dieses Feuer würde niemals jemanden verbrennen, sondern immerzu nur Wärme und Geborgenheit spenden. Dann flogen die Töne zu dem Alten, nahmen eine Decke und hüllten ihn darin ein, dass er sich so geborgen fühlte, wie man sich nur in einem frisch bezogenen, warmen Bett in einer kalten Herbstnacht fühlen konnte. Sie strichen ihn über den Schopf und küssten seine Wange. Sie massierten ihn, sodass alle Leiden des Alters mit dem Zittern der Geige hinfort getragen wurden. Sie stellten sich um ihn auf und wehrten alle Sorgen, die da versuchten in seinen greisen Kopf zu spuken mit gekonnten Strichen ab, sodass nur die Freude Einkehr fand und die Ruhe das alte Herz schonend schlagen ließ.
Dann endete die Melodie. Ein letzter Kuss auf die Stirn und die Laute gingen wieder in die Geige schlafen, bis sie wieder geweckt wurden.
„So, Papa.“ sagte der Geiger hastig, „Ich muss nun wirklich los, Bea wartet schon. Bis Bald.“ Er gab ihm einen Kuss auf die Wange und verließ eilig das Haus. Der Vater sah durchs Fenster wie er davonfuhr und löschte dann das Feuer im Kamin.
Die Sonne war noch schwach am Horizont zu vernehmen, als der Wagen ein andermal vor dem Haus hielt. Der Geiger ging wie gewöhnlich in die Küche, verstaute alles Verstaubare und kam anschließend zu seinem Vater ins Nebenzimmer. Er war gut gelaunt.
„Wie geht es dir Papa?“
„Recht gut Sohn, recht gut, aber Nicoles Mutter ist gestorben, sie musste abreisen, kommt aber morgen schon wieder.“
„Oh, das ist aber nicht so schön.“ sagte der Geiger und blickte, von der plötzlichen Nachricht in seine Freude getroffen, auf den Boden. Dann fuhr er fort: „Warum hast du das denn am Telefon nichts gesagt?“
„Ach, ich wollte dich nicht beunruhigen“ sagte der Alte gütig, „Ich weiß doch, wie viel Sorgen du dir immer machst und dann hättest du dich unnötig gestresst. Ich kam die drei Tage ganz gut allein zurecht.“
„In Ordnung, aber das nächste Mal möchte ich, dass du mich anrufst, dann kommt Bea vorbei, oder wir suchen Ersatz. Hörst du?“
„Ja doch, ja doch. Das machen wir so.“
Dann unterhielten sie sich über das noch schöne Wetter und der Geiger erzählte von den Kleinen und von Erfolgen im Beruf. Der Alte strahlte, als er seinen Sohn so freudig erzählen hörte und freute sich mit ihm. Nach einiger Zeit war es für den Sohn daran aufzubrechen. Diese Mal ging er wie selbstverständlich zu dem Schrank, holte seine alte Geige hervor, setze sie ans Kinn und begann legato. Der greise Mann schloss die Augen.
Als die ersten Töne aus der Geige stiegen nahmen sie Gestalt an. Der Vater sah seine Lotte wieder und sie tanzte durch den Raum. Freudig klatschte er zur Melodie und zu ihrem Tanze. Wie sie sich so drehte und drehte da verwandelte ihr wundervolles Kleid all die Musik in all die schönen Farben. Es war magisch. Das Kleid wandelte sich von Sekunde zu Sekunde und Lotte schwebte nur so durch den Raum. Dann kam sie zu ihm und hielt die Hand ihm hin, auf das er sie ergreife und mit ihr tanzte durch den Abend. Seine müden Beine flogen wie jugendlich durch die Lüfte und sie drehten sich frei von Schwindel in immer schnelleren Kreisen.
Dann verklang die Melodie. Lotte führte ihren Mann zu seinem Sessel und half ihm, sich zu setzen, da seine Beine nun wieder schwer waren. Sie küsste ihn auf die Stirn und stieg wieder in die Geige, bis sie das nächstes Mal geweckt würde.
Vater und Sohn verabschiedeten sich und der Greis sah seinem Sohn beim Davonfahren zu. Dann schüttelte er sich die vom Tanzen müden Knochen und ging zur Ruh.
Als ein anderes Mal der Sohn seinen Vater besuchte, da knallte er die Tür des Wagens, dann knallte er die Tür des Hauses und rumste mit den Einkäufen. Er war sichtbar verstimmt.
Als er sich beim Vater niederließ fragte dieser: „Was ist denn los mein Sohn? Was bedrückt dich?“
„Ach, es ist die Arbeit. Es ist zu viel, ich tu mein Menschenmöglichstes, aber niemand sieht das. Es muss immer mehr sein. Mehr und schneller. Nicht ein Wort der Anerkennung, nicht ein Lob.“
„Was sagen denn deine Frau und deine Kinder?“
„Was sollen die sagen, sie unterstützen mich nach Kräften.“
„Na also!“ strahlte der Vater.
„Also was?“ fragte der Geiger verblüfft.
„Du hast Menschen gefunden, die dich bedingungslos unterstützen. Was willst du denn mehr? Das ist was du bist, nicht deine Arbeit, mein Junge. Arbeit ist nur ein Mittel zum Zweck. Wenn es dir nicht gefällt, mach etwas anderes!“
„Das sagt sich so leicht, Papa.“
„Es ist so leicht, mein Sohn.“
Der Sohn schwieg, er lächelte ungläubig, wollte dem Vater aber nicht widersprechen.
„Ich muss jetzt gehen.“ sagte er schließlich.
„Aber erst, du weißt, ein Lied.“
„Mir ist nicht danach, bitte heute nicht.“
„Doch, es wird dir helfen.“ sagte der Vater und schloss seine Augen.
„Wenn es denn sei muss.“ gab sich der Geiger geschlagen.
So nahm er die Geige aus dem Schrank und begann zu spielen, er legte all seine Gefühle in die Melodie und die Töne explodierten aus der Geige. Sie stampften durchs Zimmer wie in ein Bösewicht in einem klassischen Cartoon. Sie warfen einen kleinen Tisch um, der neben dem Sessel des Vaters stand und nahmen alles was heil blieb und warfen es gegen die Wand. Eine Tasse Kaffee zerschellte in tausend Teile und hinterließ einen braunen Fleck, der sich wie Säure in die Wand brannte. Doch der Alte lächelte vergnügt und klatschte kindlich in die Hände, während er sah, wie die Töne sich vor Groll auf dem Boden wälzten und trommelten. Doch dann veränderte sich die Melodie, darauf hatte der Vater gewartet. Sie wurde ruhig, sie wurde gesammelt und ging schließlich zum ihm. Die Töne reichten dem alten Mann die Hand und verneigten sich.
Dann verstummte die Melodie. Der Klang ging demütig zurück in die Geige, um auf sein erneutes Erwachen zu warten.
Der Sohn verabschiedete sich wie immer vom Vater und dieser sah ihm aus dem Fenster zu, als er davonfuhr. Der alte Mann stieg über die Scherben und legte sich zur Ruh.
Es war das letzte Mal, dass der Geiger seinen Vater besucht hat. Es war das letzte Mal, dass der Vater seinem Sohn davonfahren sah. Denn in dieser Nacht nun starb der Alte. Doch ging er nicht einsam oder traurig aus dieser Welt. Er starb glücklich und vergnügt, denn er wusste, wenn der Geiger seine Geige nahm und zu spielen begann, dann würde er zurückkehren, dann würde er sich nochmals wohl fühlen, dann würde er noch einmal tanzen und er würde sich ärgern, er würde alles fühlen und dadurch würde er letzten Endes wieder lebendig sein.