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Der geheimnisvolle Schmetterling
„Aus dem Weg, du Kröte!“ Stefan rempelt Evi zur Seite und stürmt die Treppe hinauf. Unter seinem Pullover wölbt sich irgendetwas.
Evi verliert das Gleichgewicht und taumelt gegen die Wand. Dabei stößt sie sich ihren Kopf.
„Pass doch auf!“, ruft sie ihrem Bruder nach. Aber der ist längst in seinem Zimmer verschwunden.
Evi streicht über die Stelle am Kopf. Das wird bestimmt eine Beule. Tränen kullern ihr über die Backe. Evi wischt sie schnell weg. Wenn Stefan sieht, dass sie weint, dann lacht er sie wieder aus und nennt sie Heulsuse oder Weichei. Das möchte Evi nicht.
Sie zieht die Nase hoch und lugt zur Treppe. Was hat Stefan da unter seinem Pulli versteckt? Evi schleicht die Stufen hinauf.
An Stefans Zimmertür hängt das große Schild: „Zutritt für kleine Schwestern verboten, sonst passiert was!“ Das hat Stefan geschrieben, weil Evi immer in sein Zimmer gekommen ist und mit ihm spielen wollte. Seitdem das Schild aber an der Tür hängt, traut Evi sich nicht mehr hinein. Sie lauscht ins Zimmer. Totenstille. Plötzlich reißt Stefan die Tür auf. „Ha, ich hab ja gewusst, dass du mir nachspionierst. Kannst du nicht lesen, du kleines Baby?“ Stefan pflanzt sich vor seine Schwester. Dann liest er die Zeilen ganz langsam und laut vor. Evi versucht einen Blick in sein Zimmer zu werfen, aber sie kann an ihrem großen Bruder nicht vorbeisehen.
„Hast du das jetzt endlich verstanden, du Knirps?“ Stephan schubst Evi von der Tür weg. „Kein Zutritt für Babys! Klar?“
Doch gerade als Stefan die Tür schließen will, erhascht Evi doch einen Blick in sein Zimmer. Da war irgendetwas am Schreibtisch. Etwas Wunderschönes. Es hat geglitzert, gefunkelt und lila geleuchtet.
Abends kann Evi lange nicht einschlafen. Was hat Stefan da Wunderbares in seinem Zimmer versteckt? Evi muss es wissen. Sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen und wickelt sich aus ihrer Bettdecke. Auf Zehenspitzen schleicht sie zu Stefans Zimmer.
Es ist stockdunkel und unheimlich. Evis Herz klopft ganz schnell und ihre Hände zittern ein bisschen.
Die Türklinge von Stefans Zimmer knarrt beim Runterdrücken. Evi zuckt bei dem Geräusch zusammen.
Sie huscht in Stefans Zimmer und - da ist es! Evi bleibt die Luft weg.
Auf Stefans Schreibtisch steht ein Gurkenglas und es leuchtet lila.
Sie hört ihren Bruder schnarchen. Hoffentlich wacht er nicht auf!
In dem Glas flattert etwas herum. Es sieht aus wie ein Schmetterling. Ja, ein wunderschöner lila Schmetterling.
Evi bekommt eine Wut im Bauch. Wie kann ihr Bruder nur sowas Fabelhaftes einsperren. Sie klemmt sich das Glas unter den Arm und geht auf leisen Sohlen Richtung Tür. Plötzlich wälzt sich Stefan in seinem Bett. „Nein, ich will keine Hausaufgaben machen, Mama, nein!“, brabbelt er im Schlaf. Puh, Glück gehabt, fast hätte Evi gedacht er erwischt sie.
Endlich in Sicherheit. Evi macht ihre Zimmertür leise zu. Sie trippelt zu ihrem Fenster und öffnet es. Der Mond hängt silbern am Himmel und es weht ein kühler Nachtwind. Evi betrachtet noch einmal den außergewöhnlichen Schmetterling. So einen hat sie noch nie gesehen.
„Flieg nach Hause du schöner Schmetterling!“ Evi öffnet das Glas. Hastig flattert der Schmetterling ins Freie, aber er fliegt nicht weg, sondern lässt sich auf dem Fensterbrett nieder. Evi gähnt. Bald werden ihr die Augen zufallen.
„Ich muss schon sehr bitten“
„Was? Wer hat das gesagt?“ Plötzlich ist Evi wieder hell wach.
„Na, ich. Wer denn sonst!“
Evi schaut auf das Fensterbrett. Vor ihr steht eine kleine Gestalt mit goldenen Locken und einem violetten Kleidchen. Sie hat lila schillernde Haut, eine spitze Nase und glänzende Flügelchen am Rücken.
„Wer bist du?“, flüstert Evi.
„Ich heiße Lina und bin eine Fee. Ist das nicht offensichtlich?“ Die Fee stemmt ihre dünnen Arme in die Hüften.
„Aber ich hab geglaubt du bist ein Schmetterling“, stammelt Evi.
„Pfff, die Menschen. Wir Feen werden oft mit Schmetterlingen oder Libellen verwechselt. Und dieser grässliche, dumme Junge hat mich einfach von meiner Blume gefangen und in dieses gläserne Gefängnis gesteckt.“
„Das war mein Bruder. Tut mir sehr leid.“
„Nun, es ist ja nichts passiert.“ Die Fee streicht sich die goldenen Haare aus dem Gesicht und zupft ihr Kleid zurecht. „So, kleines Menschenmädchen nun muss ich zurück zu meinem Feenvolk.“ Lina beginnt mit ihren Flügeln zu schlagen, dann stockt sie: „Ach, wie töricht von mir. Das hätte ich beinahe vergessen. Ich danke dir natürlich für meine Rettung. Zur Belohnung hast du einen Wunsch frei.“
„Einen Wunsch?“, fragt Evi.
„Jaja, einen Wunsch! Aber bitte schnell. Ich hab nicht ewig Zeit.“ Ungeduldig tippt Lina mit ihrem kleinen Fuß hin und her.
„Ich wünsch mir…“, flüstert Evi. Doch gerade in diesem Moment schwingt die Tür ihres Zimmers auf und Stefan kommt herein. Sein Gesicht ist radischenrot angelaufen vor lauter Wut. Evi schreckt zusammen „Ich, ich äh…“, stammelt sie.
„Was machst du da mit meinem Schmetterling“, donnert Stefan ihr entgegen.
Lina flattert über Evis Kopf. „Dein Wunsch ist erfüllt, kleines Menschenmädchen“, sagt die Fee und schwirrt in Windeseile davon.
„Aber ich hab doch noch gar nichts gesagt!“, ruft Evi.
„Brauchst du auch nicht. Lebe wohl!“ Lina winkt zum Abschied und verschmilzt dann mit dem Mondlicht.
Vorsichtig dreht Evi sich zu ihrem Bruder um. Jetzt gibt es bestimmt Schimpfe!
Doch Stefan steht mit offenem Mund im Zimmer und starrt aus dem Fenster. Dann legt er den Arm um Evis Schulter. „Gut, dass du den Schmetterling freigelassen hast, Schwesterchen! Komm ich leg dich noch Schlafen.“
Evi klettert in ihr Bett. Stefan zieht ihr die Decke bis zur Nase, gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und flüstert: „Gute Nacht meine Kleine. Ich hab dich lieb.“
So schnell gehen Feenwünsche also in Erfüllung, denkt Evi noch bevor ihr die Augen zufallen und sie ins Land der Träume reist.