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Der geheime Schatz im Kleiderschrank
1.September 1939
„Komm, Amelie, der Dackel muss raus, wir gehen ein Stück spazieren!“, rief Mutter nach dem Mittagessen und setzte einen ihrer zahlreichen Hüte auf.
Ich war sechs Jahre alt und lebte mit meinen Eltern, mit meiner älteren Schwester Carola, dem Dackel und unserem Dienstmädchen in Nürnberg. Wir wohnten nahe der Pegnitz, wo wir oft spazieren gingen.
Auf schmalen Fußspuren wanderten wir, nahe am Ufer des Flusses, durch den Wiesengrund, warfen dem Dackel Stöckchen zu und beobachteten Jungens, die auf der Wiese Drachen steigen ließen. Die langen bunten Schwänze der Windvögel tanzten am Himmel. Es war ein schöner, friedlicher Tag. Über den Krieg, der heute ausgebrochen war, sprachen wir nicht, doch war meine Mutter etwas stiller und nachdenklicher als sonst.
Auf dem Heimweg fiel meiner Mutter ein, dass sie noch etwas besorgen wollte. Im Krämerladen unserer Straße kaufte sie 10 Tafeln Schokolade.
„Mutti, warum kaufst du so viel Schokolade?“, fragte ich erstaunt.
„Man weiß nicht, was noch kommt“, antwortete Mutter und als wir wieder zu Hause waren, versteckte sie die Tafeln zwischen ihren Nachthemden im Kleiderschrank.
Nur wenige Tage später kam mein Vater mit einem Paket nach Hause, das er rasch und unauffällig ins Herrenzimmer trug. Auf Zehenspitzen schlich ich ihm nach und spähte durchs Schlüsselloch. Aus dem Paket zog Vater etliche Zigarrenkisten, die er in dem großen Bücherschrank verschwinden ließ. Ob es bald keine Zigarren mehr gab?
Als ich kurze Zeit später in unser Kinderzimmer kam, überraschte ich meine Schwester beim Zählen ihres Taschengeldes. „Carola, was machst du da?“
„Das siehst du doch“, antwortete sie gereizt und schob die blanken Münzen über die Tischplatte hin und her.
„Wie viel ist das?“, wollte ich wissen.
„Fünfzehn Mark“, war die knappe Antwort.
„So viel Geld! Was willst du dir kaufen?“, fragte ich neugierig.
Erst schickte sie mich weg, „Geht dich nichts an.“ Doch vor dem Schlafengehen verriet sie mir ein Geheimnis. „Schuhe werde ich kaufen, solche mit hohen Absätzen.“
Ich lachte sie aus. „Gibt es doch gar nicht für Kinder.“
„Du bist eben dumm, ich kaufe sie mir für später. Wenn Krieg ist, gibt es keine Schuhe mehr.“
Das klang ernst. Ich war besorgt. Erst Mutters Schokolade, dann Vater mit Zigarren und jetzt Carola, die sich Schuhe mit Absätzen kaufen wollte. Und ich ? Meine Geldbörse fühlte sich leicht an. Da ich noch nicht zur Schule ging, fiel mir das Zählen schwer. Ich schüttete den Inhalt des Beutels auf die Bettdecke. Dann lief ich zu meiner Mutter.
„Mutti, komm mal schnell. Bitte!“
Meine Mutter fragte nicht lange, mein Anliegen schien dringend.
„Mutti, wie viel Geld ist das?“
Mutter hatte die Geldstücke schnell gezählt. „Das sind vier Mark achtzig.“
„Wie viel kann man dafür kaufen?“
„Oh, ganz viel“, antwortete Mutter, „davon kann eine Familie einen ganzen lang Tag leben.“
Was könnte ich mir kaufen? Es sollte etwas sein, was mir wichtig war und das es bald nicht mehr geben würde. Ich hatte eine Idee.
Jetzt musste ich nur noch auf eine Gelegenheit warten, um mich heimlich davon stehlen zu können. Es dauerte auch gar nicht lange und Mutter ging, wie jede Woche, zum Friseur. Ich war mit Toni, unserem Dienstmädchen, alleine. Es klapperte, Toni stieg mit der Kohlenkanne in der Hand in den Keller. Ich wusste, sie musste drei Mal mit den schweren Kannen laufen. Geschwind huschte ich davon.
Am Ende der Straße, vor dem Schaufenster des Milchgeschäftes, blieb ich stehen. Käse! Da lagen sie, die schönen runden Span-Schachteln mit den bunten Bildern darauf. Camembert Käse, wie gern ich den aß, viel lieber als Süßigkeiten. Entschlossen betrat ich das Geschäft, die Türe setzte eine Glocke in Bewegung.
„Was möchtest du?“, fragte die rotbackige Geschäftsfrau und lächelte.
„Zehn Schachteln Käse, bitte.“
„Zehn? Bist du sicher, dass deine Mutter zehn Schachteln gesagt hat?“
„Ja, zehn. Was kosten die?“
„So was. Habt ihr Besuch?“, die dicke Frau schaute mich ungläubig an, schüttelte den Kopf, drehte sich um und füllte eine braune Tüte mit den Schachteln. „Zwei Mark fünfzig.“
Ich legte mein ganzes Geld auf die Theke, die Frau schob mir den Rest zurück.
„Auf Wiedersehen!“
Auf dem Heimweg hüpfte ich vor Freude, der Käse rumpelte in der Tüte. Ein sicherer Ort für meine Schätze fiel mir schnell ein. Wenn ich auf einen Stuhl steigen würde, könnte ich den Käse ganz hinten in unserem Kleiderschrank zwischen den Badetüchern verstecken. Das gelang mir auch ohne Mühe. Beim Mittagessen grinste ich still in mich hinein.
„Was gibt es, Amelie, du bist ja so fröhlich?“
„Nichts, Mama, nichts Besonderes.“ Doch ich wusste es besser.
„Hier riecht es so komisch“, bemerkte Mutter, als sie wenige Tage später in unser Kinderzimmer kam, um aufzuräumen. Mit einem Ruck riss sie das Fenster auf, dann schaute sie Carola und mich fragend an.
„Ich rieche nichts“, versicherte ich.
Mutter kniete sich auf den Teppich und kontrollierte den Boden unter den Betten, sie schnüffelte. „Seltsam!“
Mutter stand wieder auf den Beinen, stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf. Sie näherte sich dem Kleiderschrank und öffnete die Tür. „Himmel!“
Mein Herz drohte still zu stehen. Eine schwere Duftwolke schlug uns entgegen.
„Gütiger Gott!“ Mit einem einzigen Griff beförderte Mutti meinen geheimen Schatz ans Licht.
Ein Schreckensschrei entlarvte mich als Täterin. Mutter war entsetzt, als sie den laufenden Käse betrachtete. Ich fing zu heulen an.
„Warst du das, Amelie?“
„Aber Mutti, wenn es doch bald keinen Käse mehr gibt“, schluchzte ich.
„Dummerchen“, Mutter drückte mich ein wenig. „Doch nicht zwischen die Wäsche!“
Schnell eilte sie mit dem Käse davon. Als sie zurückkam riss sie erneut das Fenster auf, öffnete die Schranktür weit und vertrieb uns für lange Zeit aus unserem Kinderzimmer.