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Der Gefangenenchor
Die Welt ist zugedeckt mit einer dicken Decke aus Kristallen. Weiße Berge fließen weißen Tälern zu. Diese Stille. Nur das Knirschen ihrer Schritte auf dem vom Nachtfrost hart gewordenen Schnee ist laut vernehmbar. Die weichen Flocken der Vergänglichkeit sind in der Kälte der Nacht erfroren, pressen sich als Eiskristalle aneinander. Der Waldweg führt hinauf auf eine kleine Anhöhe. Sie atmet schwer. Der Weg war beschwerlich gewesen. Aber er lohnt sich, immer wieder. Hier kann sie alles überblicken. Von oben erkennt sie, wie sich alles ineinander fügt.
Sie beobachtet wie die Dunkelheit sich nach der langen Nacht endlich geschlagen gibt. Zögerlich, widerstrebend zieht sich die Finsternis zurück. Dieser Moment des Zulassens, wenn Dunkelheit und Licht nicht mehr um die Vormacht kämpfen, macht die wahre Erkenntnis des Augenblicks erst möglich. Dann berühren sie sich, verschmilzt Schwarz mit Weiß. Eine kurze Zeit in der sich die Kontraste auflösen. Die Dämmerung, wenn die Welt in dieses blaue Licht eintaucht und verzaubert scheint.
Ein herrlicher Morgen. Das Funkeln der Sterne ist bereits schwach geworden, aber noch sind sie in einer unüberschaubaren Menge erkennbar. Es wird ein wunderbarer, sonniger Tag werden. Sie will sich gerade vom Anblick des Firmaments abwenden, ihren Weg zurück suchen in den eigenen Spuren. Da vernimmt sie eine Stimme.
„Scheisse, es ist einfach alles Dreck, Morrast, Unrat. Drohende, vom Himmel ausgespiehene Gewitterwolken bauen schon ein Labyrinth des Schreckens. Sie werden auseinanderbrechen und der schwarze Regen wird niederprasseln auf die Menschheit. Wir sind schlecht, hassenswert. Wir alle. Ich, ich bin der Verdammenswerteste.“ Sie sucht den Boden ab, blickt über die Kante. Irgendwo zu ihren Füßen ist diese Stimme vernehmbar. Da entdeckt sie links von sich, in der Felswand eine tief liegende dunkle Nische. Darin verborgen, steht, in diesem frühen Dämmerlicht kaum ausnehmbar, ein Mensch. „Was ist mit dir? Brauchst du Hilfe?“ fragt sie. Da erkennt sie den Mann, gerade, als er sich einen Moment vorwagt um zu ihr nach oben zu blicken.
Er hat sich also wieder verkrochen. Diesmal hat er sich in eine ziemlich ausweglose Lage gebracht. Weder nach oben Klettern, noch die Trittfestigkeit nach unten scheint ein sicheres Unterfangen. „Hast du dich, in deinem Drang dich in Winkel zurückzuziehen verschätzt was? Kriechst wie Untier in diesem Felsspalt herum, versteckst dich und haderst mit dem Dasein. Statt dem Leben erhobenen Hauptes ins Gesicht zu schauen, blickst du ihm ständig nur in die Genitalien und wunderst dich, dass es dort mitunter übel riecht.“
„Geh weg, scheisse, du verstehst nicht. Oder nein, bleib da. Begreifst du nicht? Du mit deinen Fragen! Immer stellst du alles in Frage. Alles musst du interpretieren. Weißt alles immer besser, scheisse. Dem Leben ins Gesicht schauen! Ich bitte dich, gute Freundin! Ins Gesicht spucken, das ja. Schleimigen, rußenden Auswurf. Der die Menschen lavagleich ins Verderben reißt. Schreiende und wimmernde, verreckende Seelen, hineingezogen in einen Strudel aus verkohltem Geäst, aufbrechender Erde. Siehst du nicht wie die da draußen sind, wie das Schwarz sie mit sich reisst? Wie sie sich abschlachten und sich die Gedärme rausreißen, ihre eigenen Exkremente verzehren. Hörst du nicht, was sie dir in den Nachrichten erzählen, Tag täglich? Vom Sumpf, in dem sie Tiere verrecken lassen, sie ersticken lassen im eigenen Kot? Wo Wahnsinnige dasitzen und mit diesem verdammten, roten Knopf spielen.
Das Rot der Bedrohung, das Rot, das mich um all meine, in unglaublicher Mühe zusammengetragene Schwärze, bringen will. Ein ganzes Leben habe ich diesen triefenden, ranzigen, schwarzen Schweiß hervorgeholt aus meinen Poren. Zusammengetragen von überall her, heraufgebracht auf den Berg. Er ist mein wahrer Freund, mein geliebter Vertrauter. Ich selbst bin Tod und Verderbnis."
Wie ein Besessener geht er in der kleinen Nische zwei Meter hin, zwei Meter zurück. Der Löwe, gefangen in der Verstrickung seiner eigenen Gedankenwelt. "Die wahre, verhassenswerte Fäulnis dringt aus meiner eigenen verkommenen Seele hervor" predigt er. "Anfangs kroch nur ein einziger, ein winzig kleiner, schwarzer Salamander heraus aus meinen Eingeweiden. Jetzt sind es Hunderte, Tausende. Sie wachsen sich aus zu Echsen gigantischem Ausmaßes. Eine unüberschaubare Dichte von schwarzen, glatten Leibern die meinem verwesenden Körper entgleiten.“
Seine Worte sind eindringlich, mahnend, werden kaum jemals von einer Körpergeste unterstützt. Das braucht er nicht. Aber seine Wortgewalt ist ihr vertraut, kann sie nicht erschüttern. Sie lehnt sich entspannt an einen Baum und beobachtet einen Raubvogel, wie er immer höhere Kreise zieht.
Er tritt nahe an den schmalen Spalt der Nische heran. Unverständnis ist in seinem Blick. Er streckt die Hand aus und zeigt anklagend auf sie, welche oben auf dem Felsen sitzt und ihm jetzt in die Augen sieht. „Und nun? Du kommst einfach so, ohne jede Furcht hier herauf, auf meinen Berg. Hier wo Unrat sich ausbreitet, du überall in noch warmen, stinkenden Kuhmist treten könntest und erzählst mir, dass dieses, mein verinnerlichtes Schwarz nicht die einzige Farbe ist? Sie mir nur schon so vertraut ist, dass ich all die anderen Farben nicht mehr sehen kann, nicht sehen will?" Er schüttelt fassungslos den Kopf, schließt die Augen und grenzt sich so noch weiter ab vom Außen. "Du verstehst nichts wie? Nichts. Doch du weißt es. Scheiss drauf Mann. Du sagst mir einfach, sieh hindurch durch dieses Schwarz. Was dahinter ist. Dort ist nichts. Wirklich, nichts. Verdammte Scheisse.“
Wieder kommt er an den Rand der Nische heran, riskiert einen kurzen, vorsichtigen Blick nach draußen. Ein sanftes Dämmerlicht legt sich fast zärtlich auf sein angstvoll verzerrtes Gesicht. Seine Stimme verändert sich, wird weicher, wärmer. „Manchmal sehe ich es ja auch, am Grund der verderbten, verloschenen schwarzen Seele. Dieses kurze Aufblitzen. Fast wie ...“ Ein Moment der Ahnung, dann weicht er entschieden zurück. Verbirgt sich ganz tief in den Felsspalt. „Nein alles falsch. Auflehnung, Niedergang und Verdammnis, die Feuer brennen schon. Riechst du das verkohlte Fleisch, das Grauen zieht bereits seine Bahnen, holt sich seine ersten Opfer. Wir sind mitten drin, gestalten es mit, ein Untergangsszenario das seinesgleichen sucht. Und immer ist er dabei, der Tod, die Vernichtung. Es ist so, hörst du, genau so ist es. Scheisse, glaub es mir doch. Bitte glaub mir.“
Sie sitzt gelassen auf einem der Felsbrocken und blickt ruhig zu ihm hinunter. Sie weiß, dass er wie geschaffen scheint von diesem Schwarz zu trinken bis er darin ersäuft. Aber sie hat auch das Glitzern gesehen, am Grunde seines Seelenbrunnens. Ein Schatz den er selbst bergen muss, ganz allein. Der ihn aus der Abhängigkeit entlässt, seinen eigenen Wert hinter allem erkennbar macht. Dann erst wird er, er selbst sein können, frei sein. Kein Mensch auf Erden kann ihm dies abnehmen. Aber er hat ja ein Leben lang Zeit dazu. Es eilt nicht.
Ihre besondere Freundschaft wird Bestand haben, vieles überdauern. Ihr weißer Schnee wird immer wieder mal in seine Dunkelheit fallen. Manchmal wird er sich an ein ahnungsvolles Licht erinnern. Vergraben, verborgen unter Missverständnissen eines Menschenlebens. Dieses aufgesogene Schwarz, die ersten gierigen Schlucke hat er bereits in der Kindheit getrunken. Überall sucht er danach. Überall wo er hingeht trägt er es mit sich, dieses Schwarz, entkommt ihm nicht. Und er lässt sich dieses Verderbnis bestätigen von jenen, die sich in der gleichen Finsternis verirrt haben. Dann übergießen sie sich gegenseitig mit diesem tranigen, schweren Öl, dass sie aus der Erde saugen. Und restaurieren damit jeden kleinen Flecken Lebensfreude, jeden Hauch von Zuversicht und verspachteln wieder sehnsuchtsvoll die Mauern mit dem Teer, versichern sich ihrer Verzweiflung.
„Nun, wenn du es sagst – dann ist es so.“ lässt sie ihn gewähren, maßt sich kein Urteil an. Sie steht auf, klopft den Schnee von ihrem Mantel und lächelt liebevoll hinunter auf den Einsamen in seiner Nische, der seine Existenz dem Niedergang, dem Verzehren verschreiben will, um jeden Preis. Hier an der Nordseite hat er gar nicht bemerkt, dass es im Tal längst hell geworden ist. Der weiße Schnee, beschienen von der wärmenden Sonne, wird bald schmelzen. Unter dem Schutz der Dunkelheit wird neues Leben hervorbrechen. Unaufhaltsam.
„Ich komme bald wieder zu dir herauf, in der Dämmerung. Dann erzählst du mir wieder davon, wie es ist, wenn man so verloren ist und im Dunkel lebt. Du bist ja nicht allein, es leiden ja viele mit dir. Hör genau hin, der Berghang ist voll von Nischen, gleich deiner. Hörst du, die Klagelieder? Es ist bereits ein richtiger Chor. Schön klingen eure Lieder, nicht? Jaaaa. In unergründliche Tiefen fließend sind sie und die Seele aufreißend. Ja, genau. Hör sie dir gut an, die Stimmen vom Berg. Hier, mein Freund, hier heroben ist das eigentliche Jammertal.“
Sie formt einen kleinen Schneeball und wirft ihn, ganz vorsichtig, ohne jeglichen Kraftaufwand, leise die Melodie einer Verdi-Oper summend, gegen die Felswand der dunklen Nische. Dann stapft sie davon, hinunter, dem Licht entgegen.