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Der Geburtstagsmann
Die alte Tante Lydia wohnte eine Etage über ihnen und Ben ging sie oft besuchen. Dann kochte sie Kakao und spielte mit ihm Mensch-ärgere-dich-nicht oder Memory. Eigentlich war sie ganz nett, aber auch ein bisschen eigenartig.
Sie kannte seltsame und ziemlich ungemütliche Gestalten.
Da war zum Beispiel der Sandmann, der Kindern abends Schlafsand in die Augen streute. Ben gefiel der Gedanke gar nicht, dass ein fremder Mann mit einem Sack voll Sand an seinem Bett auftauchen sollte.
Gern sprach Tante Lydia auch von der Ordnungshexe, die böse wurde, wenn Bens Zimmer nicht aufgeräumt war, und ihn zur Strafe verhexte. Dann passierte jedes Mal etwas Unangenehmes. Zum Beispiel bekam er Streit mit seinem besten Freund, oder er verlor etwas wie neulich seinen Haustürschlüssel oder er fiel hin und tat sich ordentlich weh.
Wenn es nur die Ordnungshexe gäbe, das wäre ja nicht so schlimm! Aber da war noch die Benimmhexe, die auf gute Manieren Wert legte, die Esshexe, die darauf achtete, dass Ben nicht zu viel naschte, die Gehorsamkeitshexe, die aufpasste, dass Ben tat, was seine Eltern und Tante Lydia wollten, und so weiter, und so fort.
Allerdings kannte Tante Lydia auch ein paar Gestalten, die Ben ausgesprochen gern hatte: den Osterhasen oder auch den Pfingstochsen, der ihm am Pfingstsonntag immer eine Menge Schokoladenkäfer brachte. Ben fragte sich manchmal, was die Esshexe wohl über die beiden dachte.
Am liebsten aber mochte Ben den Geburtstagsmann. Der wohnte nicht am Nordpol wie der Weihnachtsmann, sondern am Südpol, und er brachte Kindern, die das ganze Jahr über brav gewesen waren, die allerschönsten Geburtstagsgeschenke.
Seine Freunde lachten ihn aus. „Den Geburtstagsmann gibt es doch gar nicht!“
„Wieso?“, widersprach Ben. „Den Weihnachtsmann gibt es doch auch.“
Er glaubte fest an den Geburtstagsmann. Schließlich kreuzte der jedes Jahr in der Nacht vor seinem Geburtstag bei Tante Lydia auf und ließ Geschenke für ihn da.
Am Vorabend bereitete Ben zusammen mit ihr ein Schinkenbrot zu. „Schinkenbrote mag er am liebsten“, behauptete sie. Ein Glas Apfelsaft stellten sie ihm ebenfalls hin. „Sicher hat er Durst nach der langen Reise“, meinte sie. „Das heißt: falls er überhaupt kommt.“
Das war immer die große Frage: War Ben brav genug gewesen?
Auch dieses Jahr wiegte Tante Lydia wieder zweifelnd den Kopf. „Ich weiß nicht“, überlegte sie. „Ich erinnere mich da an so einiges, was dem Geburtstagsmann sicher nicht gefallen hat.“
Ben legte eine Scheibe Schinken auf das Brot. „Was meinst du?“, fragte er.
Tante Lydia goss Apfelsaft in ein Glas. „Neulich zum Beispiel habe ich dich gebeten, mir ein paar Brötchen zu holen. Aber du hast behauptet, du hättest keine Zeit.“
„Hatte ich auch nicht“, begehrte Ben auf, obwohl es eine Ausrede war. In Wirklichkeit wollte er mit seinem Freund auf den Spielplatz gehen.
Tante Lydia reichte ihm den Teller mit dem Schinkenbrot. „Von deiner Mutter habe ich gehört, dass du in letzter Zeit oft frech warst.“
Ben hatte auf einmal ein ganz merkwürdiges Gefühl. In seinen Augen begann es zu brennen.
„Die Ordnungshexe hat dem Geburtstagsmann sicher auch einiges zu erzählen“, fuhrt Tante Lydia fort. „In deinem Zimmer sieht es oft aus wie Kraut und Rüben.“
Als Ben den Teller auf dem Wohnzimmertisch abstellte, klirrte es laut.
„Außerdem naschst du zu viel“, fuhr Tante Lydia fort.
Das enge Gefühl in Bens Brust wurde stärker. Er wollte etwas sagen, aber es ging nicht. Stattdessen griff er blitzschnell nach dem Schinkenbrot und biss hinein.
Tante Lydia riss die Augen auf.
„Weißt du was?“, begann er mit vollem Mund.
„Denk an die Benimmhexe“, mahnte sie.
Ben würgte den Bissen hinunter. „Weißt du was?“, wiederholte er. Er geriet richtig in Fahrt. „All diese Hexen, die können mich mal!“
„Ben!“ Entsetzt starrte Tante Lydia ihn an.
„Und der Geburtstagsmann ...“ Ben nahm noch einen Bissen und kaute mit vollen Backen. „Wenn er denkt, ich würde mich schlecht benehmen, kann er meinetwegen all seine Geschenke behalten."
„Aber ... aber ...“, stotterte Tante Lydia.
„Ich hab nämlich keine Lust, die ganze Zeit immer nur zu tun, was der Geburtstagsmann will“, setzte Ben hinzu. „Tschüss, Tante Lydia.“
Kurz darauf knallte die Wohnungstür.
Am nächsten Tag klingelte es. Vor der Tür stand Tante Lydia mit einem großen Paket. „Herzlichen Glückwunsch“, sagte sie. „Das hat der Geburtstagsmann für dich abgegeben.“
Ben riss das Papier ab. Fassungslos blickte er sie an. Das war ja das Piratenschiff, das er sich schon so lange gewünscht hatte!
Tante Lydia lächelte. „Ich soll dir übrigens was vom Geburtstagsmann ausrichten“, erzählte sie. „Er ist auch der Meinung, dass du kein Engel zu sein brauchst.“
Ben freute sich riesig. Nur eins tat ihm wirklich leid. „Ich wünschte, ich hätte dem lieben Geburtstagsmann nicht sein Schinkenbrot weggegessen“, sagte er. „Nächstes Jahr stelle ich ihm dafür zwei hin.“