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Der Garten war alles
Der Garten war komplett verwachsen. Seit Jahren schon war hier niemand mehr gewesen um sich um die Blumen zu kümmern. Jetzt hatten sich die Pflanzen selbständig ausgebreitet und den Garten überwuchert. Efeu berankte das alte Backsteinhaus. Die Pflanze klammerte sich an den Mauern fest und an vielen Stellen war der Putz abgeblättert. Es war kaum vorstellbar, dass hier ein Mensch gelebt hatte. Eine Frau, die nur die Liebe zu ihrem Garten kannte. Von der Familie verstoßen, ohne Freunde, schließlich ohne Arbeitsstelle. Eine noch recht junge Frau, die eines Tages tot in ihrem Garten gefunden wurde, mit blutigen Fingern, zerzausten Haaren und verdreckten Jeans. Eine Frau, die ihr Leben geopfert hatte, weil sie dachte, die Liebe für sich entdeckt zu haben.
Wie sehr hatte sie sich getäuscht.
Eigentlich war Karina ein typisches Stadtkind gewesen, aufgewachsen in einer Wohnung mit den Eltern und zwei großen Brüdern. Selten verließen sie ihre vier Wände, um draußen zu spielen. Karinas Zimmer war nach Westen ausgerichtet und in der untergehenden Nachmittagssonne saß sie als kleines Mädchen oft am Fenster und beobachtete die anderen Kinder, die auf dem Hof zwischen Mehrfamilienhäusern spielten. Sie träumte, auch dort unten sein zu können, die kühle Luft auf der Haut zu fühlen und das Streifen der Äste, während sie zwischen Sträuchern und Gebüsch herumkletterte. Mit den Jahren verloren sich die Träume.
Als ihr Schulabschluss kurz bevor stand, traten die Eltern in ihr Zimmer um mit ihr über ihre Zukunft zu sprechen.
„Wir wissen, du bist ein introvertiertes Mädchen, aber dennoch wollen wir, dass du den Weg fortführst, den wir gegangen sind. Du sollst wie wir Jura studieren und eine angesehene Anwältin werden. Glaub uns, nur so wirst du einen Mann finden und glücklich werden.“
Karina hatte nichts erwidert. Doch nach ihrem Abschluss war sie ihren eigenen Weg gegangen. Den Weg, der sie schließlich zu ihrem Haus mit dem riesigen Garten führte.
Karina fütterte ihre Blumen täglich mit Zuneigung und Liebe. Jeden Morgen ging sie noch vor dem Frühstück in den Garten, um mit ihren Geliebten den Tag zu beginnen. Sie jätete sorgfältig das Unkraut, säuberte die Erde und befreite die kleinen Pflänzchen von kranken Blättern. Die schlechten Stellen konnte man bei Menschen nicht einfach abschneiden. Den ganzen Nachmittag saß Karina in ihrem Garten. Wenn es keine Arbeit gab, stellte sie einen hölzernen Sessel zwischen die Beete, legte die Beine hoch und döste zwischen ihren blühenden Freunden. Manchmal gab es Eindringlinge, doch sie verstand sich darauf, allerlei Schnecken und Würmer zu vertreiben, welche den Blumen Schaden zufügen könnten.
Karina hatte ihren Platz gefunden. Sie war nicht einsam ohne menschliche Gesellschaft. Sogar sehnte sie sich nach den Blumen, wenn sie das Haus zum Einkaufen verlassen musste. Menschen verstand sie nicht, der Kontakt mit ihnen brachte ihr keine Freude. Freude verspürte sie nur in Gegenwart ihr Pflanzen.
Was ist denn das? Ihr Blick, auf den Boden des Gehweges gerichtet, traf auf ein Pflänzchen, welches sich mit letzter Kraft durch die Furchen zwischen den Gehsteinen zwängte. Es hatte fünf gelbe Blütenblätter und einen frischen zarten Stängel. Daneben lagen die Überreste Anderer, seiner Geschwister und Freunde. Karina bückte sich ganz dicht herab, ließ die schlanken Finger sanft in die Erde gleiten und befreite die zarten gebrechlichen Wurzeln. Behutsam nahm sie die Pflanze in die Hände und eilte nachhause. Dort angekommen setzte sie ihren neuen Freund zwischen Tulpen und Hyazinthen in den Boden und gab ihm Wasser. Schon nach wenigen Tagen hatte das Blümlein seine Wurzeln in der Erde verankert und stärkte sich an den Nährstoffen. Es schoss in die Höhe und ihm wuchsen weitere Blüten. Es strahlte, gelb wie die Frühlingssonne und strotzte vor Gesundheit. Der Anblick war überwältigend.
Karina, jeden Morgen den Fuß in den Garten setzend, lief nun immer zuerst zu diesem Pflänzchen, ihrem neu ergatterten Schatz. Die Blume faszinierte sie, fing allzu häufig ihren Blick ein. Nach einigen Wochen breitete sie sich im Beet aus, ließ weitere Pflanzen ihrer Schönheit entstehen. Es musste bis in den Himmel strahlen, dachte Karina. Immerfort saß die Verliebte neben ihrer Kostbarkeit und verfolgte das Wachsen und Gedeihen und die Schönheit schien mit jeder Minute anzuschwellen.
Karina wurde blind für alles andere. Für die Anderen und für sich selbst. Ihr Blick verschwamm und sie schaffte es gerade einmal, von der Wassertonne Nahrung für ihren Schatz zu holen. An anderen Seiten der Beete schrien die Blumen erst, dann wimmerten sie, ehe sie ganz verstummten und vor sich hin welkten, ohne die Grundlagen für kommendes Leben zu schaffen. Unkraut machte sich breit und hungrige Mörder in Form von Schnecken und Maulwurfsgrillen überfielen den Garten. Die Blumen legten ihre Kleider ab und verabschiedeten sich von der Sonne.
Die Königin aller, die sonnig gelbe Schönheit, breitete ihre Flügel immer weiter über die Beete. Auch über Karina, die geblendet war, ausgezerrt von ihrer Besessenheit. Sie verlor die Kraft für eigenes Leben.
Karina hatte nie gelernt, andere Menschen zu lieben. Sie starb in dem Glauben, die Liebe gefunden zu haben, in Form der blühenden Schönheit, der Perle ihres ganzen Besitzes.
Die Liebe hatte sie so sehr besetzt, umschlossen und ihr die Luft abgeschnürt, schlimmer als jede menschliche Zuneigung es je tun könnte und sie am Ende das Leben gekostet. Ihr wurde nichts erwidert, keine Liebe, wie sie ihr ganzes Leben illusioniert hatte. Keine Zuneigung, Hingabe, Pflege. Sie war zu Futter geworden, ein menschlicher Körper ohne Fortbestand in der Erinnerung eines Geliebten.
So lag sie zwischen ihren eigens herangezüchteten, gehegten und gepflegten Kindern. Leblos. Und über ihr stand die sonnengelbe Königin und es war, als hätte sich ein stilles Lächeln auf ihre Blüte geschlichen.