Mitglied
- Beitritt
- 22.07.2019
- Beiträge
- 1
Der ganz normale Wahnsinn
Alle Uhren dieser Welt bleiben stehen!
Computer stürzen ab!
Stromausfälle auf der ganzen Welt!
Das Internet bricht zusammen!
Es schlägt die Stunde NULL!
Diese und ähnliche Schlagzeilen waren in Zeitungen auf dem gesamten Planeten zu lesen, als es auf die Jahrtausendwende zu ging. Als meine Freunde Thomas, Paul, Sandra, Lara und ich aber an Neujahr, um 00:00 Uhr am Rathaus unseres kleinen Ortes standen, die Raketen an uns vorbei in den Nachthimmel zischten und die Luft nach und nach verpesteten, wie ein neuer VW Passat, und auch die anderen Leute um uns herum nicht in Panik davonrannten, war mir klar, unserem Planeten geht es gut. Wir werden wohl doch nicht alle sterben.
Ok, außer man lässt vielleicht einen Böller in der Hand hochgehen. Wie mein leicht dämlicher, und zu dem Zeitpunkt, sehr alkoholisierter Kumpel Thomas. Er zündete einen Böller an und ließ die Zündschnur abbrennen. Als diese immer kürzer wurde sagte ich leicht nervös zu ihm, "Ähm, Thommy?", wie sein Spitzname bei uns war, "Willst du das Ding nicht langsam mal wegw..." In dem Moment knallte es, Thommy schrie auf, kippte um und lag bewusstlos auf dem Boden. Ich schaute auf Thommys rechte Hand und wurde den Eindruck nicht los, dass sein Daumen unnormal weit abstand von der Hand. Paul, Sandra, Lara und ich standen geschockt um Thommy herum. Lara, die einzige Person von uns die noch nüchtern war, schaltete erstaunlich schnell und rief die Notrufnummer an. "WOW!", dachte ich. "Wie kann man nur so auf zack sein?" Paul dachte in dem Moment übrigens genau das selbe, wie er und ich am nächsten Tag feststellten. Ok, Lara hatte schätzungsweise 1,8 Promille weniger als Paul und ich im Blut, was das schnelle Handeln vielleicht erklärte.
Rettungswagen und Notarzt trafen nur wenige Minuten später ein, verarzteten Thommy und nahmen ihn mit ins Krankenhaus.
Lara, die nicht nur nüchtern war, sondern auch noch im Besitz eines Führerscheins und PKW war und glücklicher Weise diese beiden Dinge vorausschauend mitgebracht hatte zu unserer Silvesterfeier, fuhr zusammen mit Sandra und mir in das Krankenhaus, in das Thommy gebracht wurde. Paul stapfte lieber, leicht schwankend nach hause. Er hatte es vom Rathaus nicht weit in sein Bett. Er wohnte ca. 300 Meter von dort entfernt. Seltsamer Weise kam er wohl erst nach einem zweistündigen Fußmarsch zu hause an, wie er mir am nächsten Tag erzählte. Bis heute weiß niemand welchen Weg er nach hause genommen hatte.
In der Zeit, als Paul seinen ganz persönlichen Pilgerweg ablief, kamen Lara, Sandra und ich im Krankenhaus an. Thommy wurde gerade noch notoperiert. Wir warteten und warteten. Nach mehr als einer Stunde, also genau zu dem Zeitpunkt als auch Paul endlich nach hause gekommen sein muss, fuhr Lara Sandra nach hause. Sie fragte auch mich, ob ich nicht endlich ins Bett wollte aber ich wollte bei meinem Kumpel sein, wenn er wach wird.
Als einige Stunden vergangen waren, ich inzwischen im Wartebereich mehrfach eingenickt und immer wieder mit dem Kopf auf meinem Nachbarsitz aufgeschlagen war, weckte mich die Schwester und sagte zu mir, "Dein Freund wurde erfolgreich operiert. Es ist alles gut verlaufen. Du kannst gleich zu ihm, wenn du magst?!". "Klar.", sagte ich und überlegte welche Worte ich ihm am Besten sagen könnte, um ihm Trost zu spenden.
Einige Minuten später durfte ich zu ihm. Thommy war noch immer etwas in einem dämmerigen Zustand von der Narkose.
Er öffnete die Augen und fragte mich noch leicht schläfrig, "Und?". Ich dachte mir nur, "Und? Was und? Soll ich dir jetzt einen Orden verleihen für die dümmste Aktion des neuen Jahrtausends?". Antwortete allerdings mit den einfühlsamen Worten, "Und? Nix und! Du bist ein Vollidiot! Ist dir eigentlich klar, dass du fast einen Finger verloren hättest? Wieso schmeißt du diesen verdammten Böller denn nicht weg?". Thommys Erklärung war so simple wie dämlich, "Als ich dir vor drei Wochen, bei Sandras Geburtstagsparty, gesagt habe, dass ich auf Lara stehe, sagtest du, dass du denkst, dass Lara eher auf harte Typen steht." Entsetzt entgegnete ich, "Und deswegen sprengst du dich in die Luft? Da sind ja die Gründe von Salafisten einleuchtender als deiner. Was, wenn ich gesagt hätte, sie steht auf selbstständige Typen? Hättest du dir dann einen Arm abgeschnitten, in Knoblauchmarinade eingelegt und bei 160 Grad im Ofen gegart um ihr zuzeigen, dass du dich selbst mit Nahrung versorgen kannst?" Thommy grübelte. Vermutlich merkte er jetzt auch, dass diese Aktion schnell ein böses Ende hätte nehmen können und er die Sprengkraft von so einem Böller unterschätzt hatte. "Junge!", sagte ich. "Du bist doch kein Teene mehr. Glaubst du wirklich, dass so eine Aktion irgendeine Frau beeindruckt? Keine Ahnung, ob sie auf harte Typen steht. Auf welchen Typen sie aber garantiert nicht steht ist der, der seine Körperteile über den Boden verteilt."
Wir quatschten noch eine Weile ehe ich mich von Thommy verabschiedete und das Krankenhaus verließ. Aber ich war stolz auf mich. Dafür, dass ich noch lange nicht nüchtern war, kamen da doch ganz passable Sätze aus meinem Mund.
Draußen wurde es inzwischen schon deutlich heller über unserem Planeten, der nach wie vor nicht im Chaos versunken war.
Ich rief mir ein Taxi. Während der Fahrt bemerkte ich, dass sich die diversen alkoholischen Getränke, Spirituosen und die eine Pizza, die ich vor Thommys Idiotenaktion zu mir genommen hatte, gut in meinem Magen vermischt hatten. Ich war mir sicher, früher oder später wollten diese Nahrungs- und Genußmittel wieder raus und zwar dort raus, wo sie hineinkamen. Eine halbe Stunde später war meine Haustür endlich in Sichtweite. Ich stieg aus dem Auto, warf dem Taxifahrer die 16,88 DM auf den Beifahrersitz, natürlich inkl. 3,12 DM Trinkgeld und taumelte zur Haustür. Als ich es endlich geschafft hatte die Türe zu öffnen und meinen Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, stand es fest. Die Nahrungs- und Genußmittel wollten definitiv deutlich früher raus als gehofft. Es gibt leichtere Aufgaben als mit diesem Wissen und Restalkohol im Blut in den dritten Stock zu sprinten. Auch wenn die Aussicht es rechtzeitig ins Bad zu schaffen äußerst gering war, war mein Siegeswille ungebrochen.
Ich sprintete also los! In einem Affenzahn schoß ich die Stufen hoch! Ach, was rede ich? Das muss Lichtgeschwindigkeit gewesen sein.
Meine Gedanken schoßen jedenfalls mit mir die Treppen hoch:
Treppe 1 - "Geschafft!"
Treppe 2 - "Tempo ist gut!"
Treppe 3 - "Tempo lässt nach, geht aber!"
Treppe 4 - "Oh fuck! Ich werde langsamer!"
Treppe 5 - "Nein, ich schaffe das! Ich schaffe das!"
Treppe 6 - "Verdammt! Verdammt! Verdammt!"
Treppe 7 - "Ach du Scheiße! Das muss ich jetzt alles wegwischen?!"
Der Kampf gegen meinen Magen war aber noch nicht komplett verloren. Den Rest würde ich in die Toilette befördern. Ich ging breitbeinig, an meinem Erbrochenem vorbei, die letzten Stufen hoch. Schloss meine Wohnungstür auf und brachte einen weiteren beeindruckenden Strahl in meinen Flur hinein. "Ok!", dachte ich, "2:0 für meinen Magen aber da ist noch was!" Die Toilettentür fest im Blick ging ich schnellen Schrittes, breitbeinig über den Flur, an meiner Spur vorbei Richtung Badezimmer. Öffnete die Tür und haue den nächsten weltklasse Strahl direkt VOR die Toilette. "Fuck! 3 zu 0?", schießt es mir durch den Kopf. "Komm schon! Wenigstens noch den Ehrentreffer!", denke ich mir und öffnete den Klodeckel. Beugte mich über die Toilette und... NICHTS!
Mein Magen hatte mich klar und deutlich besiegt.
Erschöpft und traurig über den nicht erzielten Ehrentreffer taumelte ich breitbeinig an meinen Spuren in Bad und Flur vorbei, in Richtung Treppenhaus zurück. Auf der Türschwelle stehend schaute ich abwechselnd in meinen Flur und auf die Treppe des Grauens und überlegte, was wohl die größere Priorität haben könnte jetzt beseitigt zu werden?! Denn eines war klar. Ich hatte jetzt keines Falls mehr die Kraft hier einen ungeplanten und viel zu frühen Frühjahrsputz vorzunehmen.
Dennoch konnte ich das ja jetzt auch nicht alles so liegen lassen. "Ok,", überlegte ich, "wo besteht die größte Gefahr, dass dort jemand hineinlatscht?" Wenigstens einen Abschnitt wollte ich jetzt noch säubern.
Ich schaute mir die Treppe genau an. Meine Nachbarin, die Polizistin war, musste wohlmöglich in ein paar Minuten an dieser Spur vorbei zu ihrem Dienst. "Das wäre schon verdammt unangenehm, wenn ausgerechnet eine Polizistin in meine Kotze rennt und im schlimmsten Fall auch noch ausrutscht." Dann drehte ich mich um und sah mir meinen Flur an. Wie ich jetzt erst feststellte, lag die Spur genau vor meiner Schlafzimmertür. Die Gefahr war also groß, dass ich in ein paar Stunden, nach dem ich meinen Rausch ausgeschlafen hätte, die Tür öffne, in meine Kotze drehte, ausrutsche und mit Pech selbst im Krankenhaus lande. Also stellte sich eigentlich nur die Frage, "Opfere ich mein Leben oder das einer Gesetzeshüterin?" Nach dem ich die Pro und Kontras für beide Bereiche in meinem Kopf durchgegangen war, stand es fest. Die Treppe hatte das Rennen gemacht. Schließlich könnte meine Nachbarin den Sturz überleben und mich dann aus Rache mit ihrer Dienstwaffe kaltmachen. Dieses Risiko wollte ich auf keinen Fall eingehen. Klar, ich hätte ein paar Stunden später gut erholt, ohne Bedenken aus meinem Schlafzimmer auf spiegelndes Parkett treten können aber was nützte das, wenn man eventuell am selben Tag noch von einer rachsüchtigen Polizistin durchlöchert wird?
Ich schnappte mir also einen Eimer, ließ Wasser hineinlaufen, klemmte mir das Putzmittel und Schwamm unter den Arm, ging auf die Treppe und fing an zu putzen.
Als ich endlich fast fertig war, kam tatsächlich meine Nachbarin aus ihrer Wohnung. In Uniform! "Guten Morgen, Frau Schleif. Frohes Neues!", sagte ich leicht lallend aber freundlich zu ihr. Frau Schleif war mitte 40, hatte kurze schwarze Haare mit dem einen oder anderen grauen Häärchen, alleinstehend, kräftig gebaut, hatte zwei Töchter und war eigentlich immer gut gelaunt. "Einen schönen guten Morgen, Herr Ziegler. Ihnen auch ein frohes neues Jahr. So früh schon dabei die Treppe zu putzen? Sie waren doch letzten Monat erst dran." Mit einem leicht verschmitzten Lächeln antwortete ich, "Jaja, das stimmt. Gute Vorsätze sollte man halt dennoch am Besten sofort angehen." Eine Antwort die im Nachhinein keinen wirklichen Sinn ergab aber in dem Moment dachte ich mir, "Puh, gut geantwortet Lukas." "Na dann...", sagte Frau Schleif, wünschte mir noch einen schönen Tag und ging weiter die Treppe hinunter. Ich kann es nicht belegen aber ich glaube bis heute, dass Frau Schleif direkt wusste was passiert war. Die ganze Zeit stand nämlich meine Wohnungstür offen, inkl. traumhaften Ausblick auf meine Kotzspur im Flur und zudem noch ein exzellenter Alkoholgeruch im Treppenhaus. Vielleicht rede ich mir das aber auch nur ein.
Die Treppe war jedenfalls wieder blitzsauber. Ich räumte mein Putzzeug zusammen, ging breitbeinig an meinen beiden übriggebliebenen Kotzspuren vorbei in mein Badezimmer, schmiss die Sachen in die Badewanne und machte mich hundemüde auf den Weg ins Bett.
Als ich wieder aufwachte lag ich zwar in einem Bett aber nicht in meinem. Ich drehte mich nach links und blickte Thommy, noch leicht schläfrig, in die Augen.
"Was machst du denn in meiner Wohnung?", fragte ich Thommy. "Du bist nicht in deiner Wohnung. Du bist im Krankenhaus.", antwortete er. "Ok?!", wunderte ich mich. "Ich habe etwas Kopfschmerzen aber wegen so einem Kater braucht ihr mich doch nicht gleich einliefern lassen." Die Schwester, die mich vor über einer Stunde noch zu Thommy ins Zimmer gebracht hatte, kam hinein und erzählte mir was passiert war.
Als ich meine Putzutensilien in die Badewanne geworfen hatte und mich auf den Weg ins Bett machen wollte, rutschte ich vor der Toilette in meiner eigenen Kotze aus, schlug mit dem Kopf auf die Klobrille und wurde ohnmächtig.
Und wer hatte mich gefunden und den Notruf verständigt? Genau! Frau Schleif!
"Na toll!", schoss es mir durch den Kopf. "Natürlich wird mir die vermeintlich kleinste Gefahr zum Verhängnis."
Zwei Tage später wurden Thommy und ich entlassen. Wir teilten uns ein Taxi und fuhren nach Hause. Doch zuhause angekommen erwartete mich eine Überraschung. Flur und Bad waren blitzeblank geputzt.
Alle möglichen Gedanken flogen mir durch den Kopf.
"War Frau Schleif etwa so nett gewesen?"
"Wollte Lara mich besuchen und hat dann die Sauerei gesehen und für mich weggemacht?" "Steht sie etwa auf mich?" "Sie hat aber keinen Schlüssel!" "So eine Sauerei macht man doch nur weg, wenn es wahre Liebe ist." "Oder war es vielleicht Sandra?" "Steht sie etwa auf mich?" "Aber auch sie hat keinen Schlüssel!" "Oh Gott!" "Frau Schleif steht auf mich!" Na klar. Es konnte nur sie gewesen sein. Es passte einfach alles. Sie konnte in meine Wohnung, ist Single und grüßte mich schon immer viel zu freundlich für eine einfache Nachbarin. Sie war aber leider so gar nicht mein Typ und viel älter als ich. Außerdem hätten ihre Töchter meine Geschwister sein können und, was viel schlimmer war, erinnerte sie mich an meine Mutter.
Ich wusste nicht, wie ich Frau Schleif in Zukunft begegnen sollte. Ich musste wegziehen. Eine andere Lösung gab es nicht. Was gibt es gefährlicheres als einer Polizistin das Herz zu brechen. Hier war die Wahrscheinlichkeit aus Rache durchlöchert zu werden doch viel viel höher, als wenn sie in meiner Kotze ausgerutscht wäre. Der Entschluss stand fest. Ich musste umziehen. Nur so konnte ich mein Leben retten. Plötzlich schalte ein bestimmendes, "Na mein lieber?!", aus meiner Küche. Ich drehte mich um und erblickte eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren und kräftiger Statur. "Oh nein!", dachte ich erschrocken. "Mama! Was machst du denn hier?", fragte ich sie kurz und bündig, mit hoch rotem Kopf. Hätte man mich in dem Moment in ein Tomatenbeet gelegt, hätte man mich garantiert nicht gefunden. Ich hatte total vergessen, dass meine Eltern einen Schlüssel von meiner Wohnung haben.
"Ach, ich wollte dir nur ein schönes neues Jahr wünschen und hören, wie so dein Silvesterabend verlaufen ist?!" "N...N... Nett!", kam das Wort etwas stotternd aus meinem Mund.
"Schön. Das freut mich." Doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass die Freude nicht von Herzen kam. "Papa und ich haben bei Stefan und Anne gefeiert.", fuhr meine Mutter fort. Stefan und Anne sind die besten Freunde meiner Eltern und kennen mich schon von klein auf. "Ach, sch... schön. Und wie wars?" "N... N... Nett.", veräppelte sie mich, drückte mir mein Handy in die Hand und ging in Richtung Ausgang mit den Worten, "Lag vor dem Klo. Hoffe es geht noch. Musste es sauber machen." "Oh, d... d... danke." Ich brachte nicht viel aus meinem Mund und war froh als meine Mutter die Wohnungstür hinter sich schloss. Plötzlich ging die Tür aber nochmal auf und meine Mutter sagte zu mir, "Ach, ganz vergessen. Papa hat dich heute zum Abendessen eingeladen. Sei bitte gegen 18:00 Uhr bei uns.", und machte die Tür wieder zu. Ab jetzt war klar, dass mein größtes Problem keine rachsüchtige Polizistin sein würde.