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Der Gang nach Emmaus

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09.09.2017
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Der Gang nach Emmaus

Der Gang nach Emmaus

Weiß wie Papier sehe ich Sally Parks vor mir. Sechsunddreißig Jahre ist es her, dass ich sie sah - und tatsächlich sah Sally Parks aus, als wäre alle Farbe aus ihr gewichen: ihr schneeblondes Haar, ihr blasses Gesicht. Niemand hatte so hellblaue Augen, niemand so blutleere Lippen - und niemand war schöner als sie.
Ob Sally tot ist oder (ich weiß nicht, wo) lebt, kann ich nicht sagen. Niemand kann das nach so langer Zeit. Aber ich konnte es nie. Ich weiß nur, dass sie in meinem Leben präsent ist. Sally Parks ist die Frau, die ich liebe.

An den Wochenenden besuche ich Vater im Sankt-Lukas-Spital. Er ist dement. Man hat mir geraten, mit ihm über lang zurückliegende Ereignisse zu sprechen, weil er sich daran am besten erinnert. Letztes Mal erwähnte ich unsere Mieter im Untergeschoss. Verständnis los sah er mich an. Auch von Sally Parks wusste er nichts. Er ist der Letzte in meinem Leben, der Sally Parks kannte. Alle früheren Freunde, die ihre Existenz bezeugen könnten, habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen.

Deshalb habe ich mich entschlossen, meine Erinnerungen an Sally niederzuschreiben. Ich vergewissere mich, dass es sie gab. Für mich ist sie so real wie mein Atem und ich kann nicht glauben, dass niemand sonst von ihr weiß.
Einmal wird alles verlöschen wie der Geist meines Vaters, auch ich. Dann werden nur diese Seiten mein Gedächtnis an Sally bewahren.

Der Schnee bedeckte die Dächer, die Bäume und Straßen. Es schneite so stark, dass die Stadt wie unter einem riesigen, weißen Laken verschwand. Das Wetter hatte alles, auch die Menschen, verschlungen. Man konnte keine zehn Meter weit sehen. Vergeblich wartete ich auf den Bus. Der Verkehr war zusammengebrochen. Schließlich machte ich mich zu Fuß auf den Weg. Mit jedem Schritt sank ich in die Schneedecke ein. So würde ich eine Stunde brauchen und länger, bis ich daheim war. Das beunruhigte mich. Ich war knapp vierzehn, doch für mein Alter recht furchtsam.
Es war sehr still, als Sally herankam. Kein Motorengeräusch, keine Stimme, kein Hauch war zu hören. Nur der schweigende Schnee fiel vom Himmel. Sallys blasses Gesicht erschien im Gestöber der Flocken, es schien sich aus ihnen zusammenzufügen. Gleichzeitig löste es sich im Schneetreiben auf. „Hallo, Nico, wie geht´s?“, grüßte sie fröhlich, als scheine die Sonne auf sie. Ich grüßte zurück. Sally wohnte seit einigen Wochen bei uns, aber ich hatte mit ihr, der neuen Untermieterin, bisher nur wenig geredet. Sie war sechs Jahre älter als ich.
Sally und ich gingen gemeinsam nach Hause. Ich habe vergessen, wovon wir sprachen, nur eines weiß ich: Vor allem sprach sie. Dass sie bei mir war, nahm mir die Furcht vor dem sich türmenden Schnee. Mir war, als hätte der Winter sich in Sally verwandelt und damit seinen Schrecken verloren. Später wurde sie ein Bild des Frühjahrs und Sommers für mich. Sie blühte und leuchtete ein halbes Jahr in mein Leben. Dann verschwand sie im Herbst.

Bei meiner Geburt war mein Vater sehr jung. Meine Mutter kenne ich nicht. Sie verließ uns, als ich noch klein war. „Nicole war eine wunderbare Frau und eine sehr schlechte Mutter“, sagte mein Vater auf meine Frage nach ihr. Als Kind fürchtete ich, sie hätte uns meinetwegen verlassen. Aber Vaters Antwort beruhigte mich nicht. Vielleicht lag es an mir, wenn diese Nicole als Mutter versagte. Nur ihr Name ist mir geblieben.
Vater ist es nie gelungen, sein Leben in Ordnung zu halten. Zuhause herrschte ewiges Chaos; und er nahm die unterschiedlichsten Jobs an, um für mich zu sorgen. Hätte er nicht das Haus seines Vaters geerbt, wäre er völlig gescheitert.
Auch meine Großeltern kenne ich nicht. Meine Großmutter starb lange vor, mein Großvater bald nach meiner Geburt. Darauf kehrte mein Vater mit seiner Familie in das Haus seiner Kindheit zurück. Großvater hatte es in den Fünfzigerjahren gebaut. Er war das genaue Gegenteil meines Vaters, erklärte mir dieser: pedantisch und streng statt chaotisch und frei. Vater hasste ihn, aber sein Erbe schlug er nicht aus.
In Großvaters Haus lebten wir nah am Stadtrand an einem Hang. Vom Eingang gelangte man über den Flur in die Küche, neben der das Wohnzimmer lag. Im ersten Stock befanden sich das Schlaf- und zwei weitere Zimmer sowie ein geräumiges Bad. Im Souterrain war ein weiterer Wohnraum, durch den man eine Terrasse und dahinter den Rasen betrat. Auch vom Wohnzimmerbalkon führte eine Treppe in den Garten hinab. Von dort aus gesehen hatte das Haus eine Etage mehr als vorn an der Straße.
Erinnerungsfotos belegen, wie akkurat Großvater lebte. Alles hatte seinen Platz in bestimmten Schubladen, Regalen und Schränken. Nach seinem Tod und dem Einzug seines Sohnes, der arbeitslos war (oder arbeitsscheu, wie es Großvater ausgedrückt hatte), stapelte sich bald schmutziges Geschirr in der Küche. Bücher und Zeitschriften waren in alle Zimmer verstreut. Staub senkte sich nieder. Er wurde nie mehr beseitigt. So blieb es, bis ich als junger Mann auszog.
Nicole, meine Mutter, ertrug das Leben am Stadtrand nur schwer und bald ihren Lebensgefährten und dann das Baby nicht mehr. Sie zog in den Raum im Untergeschoss, der ursprünglich das Pflegezimmer meiner kranken Großmutter war. Wenig später verschwand Mutter für immer.
Da mein Vater keine Ausbildung hatte und Geld immer knapp war, begann er das Souterrain zu vermieten. Er richtete eine Küchennische mit zwei Herdplatten ein. Der Abstellraum war schon für meine Großmutter in ein WC mit Waschgelegenheit umgebaut worden. Dann hängte Vater Zettel an den Schwarzen Brettern der Hochschule aus. Einen Monat darauf zog der erste Student ein, es folgten noch viele. Die letzte Untermieterin sollte Anfang der Achtziger Sally Parks aus Manchester sein.

Das erste Anzeichen für Vaters Demenz war die Wäsche. Bei einem Besuch klagte er über das Wetter. Es sei so schwül, dass die Wäsche nicht trockne. Er schimpfte, die Wäsche bleibe nass, egal was er mache. Auch die im Schrank sei ganz klamm. Aber die Kleidung war trocken, als ich sie überprüfte. Darauf angesprochen begann Vater zu streiten. Er warf ein paar Pullis und Hosen aufs Bett und schlug mit den Händen darauf. „Patschnass“, fuhr er mich an. Ich konnte ihn nicht überzeugen, dass er sich irrte.
Seine Demenz machte Vater schnell lebensuntüchtig. Unlängst habe ich das Haus, in dem ich aufwuchs, verkauft. Mit dem Geld ist Vaters Pflege auf Jahre gesichert.

Aber ich wollte von Sally Parks und nicht von Vater erzählen.
Nach unserem ersten Gespräch auf dem Weg durch den Schnee war Sally für einige Wochen verschwunden. Dann, bei Tauwetter, begegneten wir uns an der Bushaltestelle. Wir fuhren gemeinsam nach Hause und sie erzählte mir, dass sie eine Ausbildung an einer Hotelfachschule in Manchester mache. Sie hatte sich zu einem Praktikum in Deutschland entschlossen, weil ihre Großmutter aus Heidelberg war, und arbeitete seit November an der Rezeption des Bahnhofshotels. Sie habe erst in der Jugendherberge geschlafen und dann ein paar Nächte auf dem Sofa einer Bekannten. In einer Kneipe war sie meinem Vater begegnet, der ihr anbot, zur Untermiete bei ihm zu wohnen.
So kam Sally zu uns. Ihr steifer Akzent war mir ein Beweis ihrer Aufrichtigkeit.

Ich habe wenig mit Sally geredet. Aber ich erinnere mich, dass sie mich manchmal nach deutschen Formulierungen fragte: „Wie heißt das, wenn…?“, oder: „Wie sagt man?“ Die Einzelheiten weiß ich nicht mehr, nur eine ist mir im Gedächtnis geblieben: Sally hatte auf dem Weg zur Arbeit blaue Blumen auf einer Wiese gesehen. Sie wollte ihren Namen wissen, weil sie die Farbe so schön fand. Da ich ihn nicht kannte und mein Vater ebenfalls nicht, recherchierte ich ihn in einem botanischen Lexikon aus der Schulbücherei. Es waren Wegwarten, die bei uns wuchsen, vor allem vor dem Wald und am See.
Sally bedankte sich für meine Mühe. Später ist sie manchmal in einem hellblauen Kleid ausgegangen. Vielleicht hat die Farbe der Blüten sie bei ihrem Kauf inspiriert. Wenn ich ihr begegnete, hob sie den Zeigefinger und sagte entschieden: „Wegwarten!“, als hätte sie den Namen gerade gelernt. Ich nickte zur Bestätigung - das war eine Art Gag zwischen uns; und ich weiß noch, wie sie erklärte: „Wenn ich wieder daheim bin, werde ich überall Wegwarten pflanzen.“
Sonst redeten wir nicht viel miteinander, vielleicht wegen meiner Verschlossenheit oder weil der Altersunterschied, wenn man jung ist, eine Menge bedeutet. Einmal ging ich im Sommer zur Wiese und pflückte ein Wegwartensträußchen. Dann schämte ich mich dafür, es Sally zu geben. Es vertrocknete bei mir im Regal.

Einen zweiten Gesprächsanlass gab es dann auch noch: Sally hatte sich eine Single gekauft, aber keinen Plattenspieler auf ihrem Zimmer. Als mein Vater nicht da war, fragte sie mich, ob wir die Musik im Wohnzimmer anhören könnten. Natürlich sagte ich Ja. Ich schaltete die Anlage ein. Sally zog die Scheibe aus ihrer nachtschwarzen Hülle. Es war „Love will tear us apart“ von Joy Division. Stumm hörten wir zu. Sally schaute so bedeutungsvoll drein, als wäre sie in den Sänger verliebt. Wir saßen auf dem Teppich. Sally sah in sich hinein und ich sah auf Sally. Sie hielt ihre Arme fest um die Beine geschlungen.
Wir hörten den Song mindestens zehnmal. Sally war begeistert, ich schloss mich ihrer Begeisterung an. „Es ist meine Lieblingsband“, versicherte sie. Sie kannte Joy Division aus ihrer Heimat. Ian Curtis, der Sänger, habe vor einigen Wochen Selbstmord begangen. Während seine düstere Stimme aus dem Lautsprecher dröhnte, erklärte sie mir, wie genial Curtis war. Ich fragte, wieso er sich umgebracht habe, und Sally antwortete nach kurzem Zögern: „Für ein Genie ist das der einzige Weg.“ Ich verstand nicht, wieso, aber ich nickte. Sally ergänzte: „Außerdem war er krank. Epileptic, you know.“
Dann wollte ich wissen, was der Titel bedeutet. „Man bleibt doch zusammen, wenn man sich liebt.“ Zugleich dachte ich an meine Eltern und wurde skeptisch. Sally übersetzte mir einige Teile des Texts und schlussfolgerte: „Für Liebende ist es unmöglich, im Alltag zu leben.“
„Meine Mutter ging fort, als ich noch klein war“, murmelte ich. Das war das einzige Mal, dass ich mich vor Sally öffnete. „Wahrscheinlich mochte sie auch keinen Alltag.“
Sally sah mich an. Sie erriet meine Gedanken und meinte: „Sei nicht traurig. Wir sind alle allein.“ Dann küsste sie mich auf die Wange. Ich wurde schlagartig rot.
Schweigend hörten wir wieder das Lied an. Ich wunderte mich, dass Sally von Einsamkeit sprach und von diesem traurigen Song so fasziniert war. Sie kam mir gar nicht allein vor, im Gegenteil, und kein bisschen traurig. Sie hatte fast jeden Tag gute Laune. Aber niemand kann in einen Menschen hineinsehen.
Später behauptete Sally: „Wenn ich wieder daheim bin, werde ich zu Ians Grab gehen.“ Ich nickte erneut. Nicken war offenbar das Einzige, was mir jemals einfiel.

Für einen Teenager sind peinliche Situationen das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Um ihnen auszuweichen, benimmt man sich unzugänglich und hält sich für cool. Man erkennt nicht, dass auch das peinlich ist.
Einmal lud mein Vater Sally zum Abendessen ein. Er wollte gute Laune verbreiten und erzählte einen Witz nach dem anderen. Ich saß stumm dabei und schämte mich für ihn. Ich dachte, er flirte mit Sally. Meiner Wahrnehmung nach war er mindestens hundertmal älter als sie.
Mein Vater hätte alles für mich getan. Wenn ich krank im Bett lag, pflegte er mich. Er ging zu allen Elternabenden, obwohl ihn das nervte; und er nahm jeden Job an, damit wir nie Geldsorgen hatten. Außerdem konnte ich immer tun, was ich will. Kein Vater ließ seinem Sohn so viel Freiheit. Manchmal hätte ich mir sogar mehr Strenge gewünscht - als Zeichen von Aufmerksamkeit. Aber dies war Vaters Art, mir sein Vertrauen zu zeigen. Er wollte auf keinen Fall spießig erscheinen.
Trotzdem schämte ich mich als Jugendlicher für meinen Vater. Seine Scherze kamen mir nicht witzig, sondern gespreizt vor. Auch dass er unfähig war, Ordnung zu halten, regte mich auf. Ständig suchte er einen Schlüssel oder ein Buch; und er zog sich an wie ein Clown - zumindest schien mir das so. Damals fing ich an, mich dunkler zu kleiden.
Da saßen wir also: die bezaubernde Sally, mein plappernder Vater und ich, in künstlicher Coolness versunken.

Wenn Sally nicht viel mit mir sprach, lag das wahrscheinlich an mir. Was soll man mit einem Fisch auch groß reden? Außerdem war Sally sechs Jahre älter als ich - ich noch ein Teenie und sie schon erwachsen. Natürlich schenkte sie mir nicht die Beachtung, die ich mir wünschte.
Dass ich immer öfter an Sally dachte, meine Gefühle für sie erwachten und ich nachts von ihr träumte, begann, als ihre Dusche kaputtging. Der Schaden lag hinter den Fliesen, ein Rohr war gebrochen und Vater musste den Zulauf abdrehen. Um Geld zu sparen, brach er selbst die Wand auf und legte das undichte Teil frei. Sally durfte inzwischen unser Bad im oberen Stockwerk benutzen. Dann stockte die Arbeit, wie immer bei Vater: Plötzlich musste er etwas anderes erledigen oder hatte keine Lust mehr weiterzumachen. Sally wurde zum Dauergast in unserem Bad. Sie beschwerte sich nicht, weil es oben geräumiger war als bei ihr im Keller. Ich musste nun jeden Morgen warten, bis sie sich geduscht und für die Arbeit hübsch gemacht hatte. Sie ging früher ins Hotel als ich in die Schule.
Von Ordnung hielt Sally genauso wenig wie Vater. Der Boden vor der Dusche war nass, wenn ich endlich ins Bad kam. Daneben lag das Handtuch, mit dem sie sich abtrocknete, und bald umlagerten ihre Kosmetika das Waschbecken: Wimperntusche, Lidschatten, Lippenstift und Kajal, außerdem verschiedene Döschen, deren Zweck ich nicht kannte. Haare hingen in ihrem Kamm. Ihre Zahnbürste lag neben meiner.
Ich weiß nicht genau, was der Auslöser war, wahrscheinlich waren es die gesammelten Zeichen weiblicher Anwesenheit, die mich zu erregen begannen. Jedenfalls hatte ich eine Erektion, wenn ich nach Sally ins Bad ging. Sie war mit einem schnellen „Good morning“ an mir vorbei und die Treppe hinuntergeeilt. Vielleicht war es auch Sallys Geruch, der eine Fantasie ihrer nackten Haut in mir weckte. Frisch und feucht drängte sie an mir vorbei, der dumm an der Tür stand. Ihr Gesicht und ihr Haar waren so nah, dass es mich drängte, Sally zu küssen. - Dann stand ich allein vor dem Spiegel und sah ihren Kamm und die Hilfsmittel, mit denen sie ihre Lippen und Wimpern, ihre Lider und Brauen bemalte. Sie hatten das Vorrecht, ihr Gesicht zu berühren, während mit nichts anderes blieb, als Sally nachzusehen und von ihr zu träumen. Wenn ich ihr Handtuch aufhob, um es zum Trocknen neben das Fenster zu hängen, begann meine Erektion vor Verlangen zu schmerzen. Ich stellte mir vor, wie sie sich die Brüste und zwischen den Beinen abrieb, und wenn ich mein Gesicht (erst nach langem Zögern wagte ich es) in Sallys Handtuch verbarg, drohte ich zu explodieren - nicht mit einem Knall, sondern sanft, wie der Wind Blätter davonträgt.
So fing ich an, Sally zu lieben: als Abwesende; und weil sie abwesend war, fand ich sie in jedem Ding. Wenn ich sie sah, wagte ich nicht, ihr in die Augen zu schauen. Ich schämte mich für meine Gedanken und für mein Verhalten im Bad. Aber wenn Sally nicht da war, blickte sie mich aus jedem Gegenstand an, aus dem Hausrat, jedem Baum, jeder Wiese. Die Wolken am Himmel bekamen Gesichter, ich sah Sally in ihnen, ich war süchtig danach, sie und alles zu sehen. Die Wegwarten kleideten Sally, die unsichtbar war, und der See war ihr Schoß, der mich tagträumend aufnahm.

Den Sommer verbrachten meine Klassenkameraden und ich am See hinterm Stadtrand. Ich erinnere mich an das Rauschen des Winds in den Bäumen und an das Zittern der Schatten im Gras. Wir hatten unsere Handtücher zu einem Lager gebreitet, in das die Sorgen der Jugend nicht eindringen sollten. Hier gab es ein paar Meter Freiheit, wo wir unserem Hobby nachhingen: dem Nichtstun. Tatsächlich kann Nichtstun eine Beschäftigung sein. Comiclesen, Musikhören und Kartenspielen waren Nichtigkeiten, die ausschließlich dem Zeitvertreib dienten und gerade deshalb so angenehm waren. Die verstreichende Zeit zeigte sich in den näher rückenden Kanten der Sonne, vor der wir unsere Tücher Stück für Stück über den Rasen bewegten. Wurde uns zu heiß, liefen wir zum Wasser, in dem wir unsere Füße und Beine abkühlten. Wir tauchten hinein und planschten und schwammen. Dann standen wir wieder am Ufer, mit einem Blick auf den Horizont, der weit weg und gleichzeitig nah war.
Noch im Jahr zuvor hatten wir an einem Felsen gekämpft, kein Fels eigentlich, sondern nur ein größerer Stein, der sich unserer Jungenfantasie als Ziel von Eroberungskriegen anbot. Wer auf ihm saß, musste heruntergestürzt werden, wer sich im Wasser tummelte, sich ringend aufwerfen, der neue - und immer neue und kurze - Herrscher des Felsens zu werden. Obwohl mir die Rohheit dieses Spiels nicht gefiel, kämpfte ich mit und trug blaue Flecken nach Hause, um vor meinen Freunden nicht als Schwächling zu gelten. - Aber nun war der Fels wieder zu einem Stein eingeschrumpft, dessen Einsamkeit das Ende der Kindheit bezeugte. Wie sinnlos erschien es uns plötzlich, verrückte Spiele zu spielen, und wie leer war der Horizont, nach dem wir uns sehnten. Aus Verlegenheit begannen ein paar Freunde, einander zurück ins Wasser zu ziehen. Unser Geschrei vertrieb den Moment unruhigen Schweigens. Es gönnte der sich wandelnden Zeit einen Aufschub.
Es gab keine Mädchen in unserer Gruppe. Andere Lager, die der Älteren, waren gemischt. Ich beobachtete ihre Gespräche, ohne sie aus der Entfernung verstehen zu können, und sah ihre beiläufigen Berührungen, die noch vorsichtig waren. Meine Freunde und ich waren unseren Schulkameradinnen zu jung und zu unreif und außer kurz angebundenen Grüßen entstand kein Kontakt. Die Mädchen hatten ihre eigenen Plätze, wo sie, ich weiß nicht was, taten. Ein paar meiner Freunde warfen ab und zu heimliche Blicke hinüber. In ihre stummen Gedanken fiel erster Samen der Liebe.
Meine Aufmerksamkeit wurde sofort von Sally gefesselt, wenn sie manchmal zum See kam. Sie streifte ihr Sommerkleid ab und zupfte, als könne niemand sie sehen, ihren Bikini zurecht. Dann rieb sie sich sorgsam mit Lichtschutzcreme ein, legte sich faul in die Sonne und strafte alles und jeden, auch mich, mit Desinteresse. Bestenfalls hob sie, falls sie mich bemerkte, ihre Hand zu einem temperamentlosen Gruß. Eine riesige Sonnenbrille verbarg ihre Augenpartie, als trüge sie einen dieser Zensurbalken, wie man ihn früher in Zeitungen sah. Meine Fantasie zensierte er nicht.
Kein Wunder, dass Sally bald nicht mehr allein war. Als sie zusammen mit einem Unbekannten die Wiese herabkam, begriff ich, was Eifersucht heißt. Die beiden breiteten ihre Decken aus und der Mann, vielleicht Mitte zwanzig, half Sally aus ihrem Kleid. Dann begann er ihre Schultern einzucremen und, nachdem sie sich auf den Bauch gelegt hatte, auch ihren Rücken. Mir war klar, dass es ihm nicht um Sonnenschutz ging. Ich hätte aufspringen und einem meiner Freunde ins Gesicht treten wollen - und als Sally und ihr Freund ins Wasser gingen, wollte ich ihnen hinterherlaufen, um sie zu ertränken. Sie benahmen sich, als wären sie allein auf der Welt, und ich wollte sie dafür bestrafen. Aber ich rührte mich nicht, natürlich nicht, im Gegenteil blieb ich minutenlang reglos - fast, als ob es mich nicht mehr gab.
Sally und ihr Liebhaber wurden zur Folter für mich. Wenn sie sich küssten, hielt es mich nicht auf dem Handtuch. Ich ging zum Kiosk, als wollte ich irgendwas kaufen - in Wahrheit aber, um besser sehen zu können, was Sally mit ihrem Freund trieb. Ihre Umarmungen versetzten mir einen Stich. Trotzdem lief ich zigmal an den beiden vorbei, um mein Unglück noch schlimmer zu machen. Am schlimmsten war es, Sally glücklich zu sehen. „Hallo, Nico“, rief sie, wenn ich ihr auffiel, so fröhlich, als wollte sie ihr Glück mit mir teilen. Es war nicht lang her, dass sie nur träge herumlag; und ich begegnete ihrem Enthusiasmus mit demonstrativer Ungerührtheit.
Aber auf wahrer Gleichgültigkeit beruhte Sallys Verhalten. Denn schon bald wechselte sie ihren Liebhaber aus. Hatte dieser eben noch ihre Hüften gestreichelt, küsste nun ein anderer ihren Mund und den Hals. Erst war ich entsetzt, dann erleichtert, dann wieder entsetzt und schließlich beides zugleich. Sally schien jede Zärtlichkeit zu genießen, egal, wer sie ihr schenkte. Ihr Körper erblühte, wenn jemand ihre nackte Haut streichelte, aber der Urheber dieser Wonne bedeutete nichts. Im Lauf des Sommers brachte Sally vier oder fünf Freunde mit an den See; und jeder ihrer Küsse und jede Umarmung rammten mich in den Boden. Doch meinen Blick von Sally abwenden konnte ich nicht. Im Nachhinein wundert es mich, dass sie nicht und niemand meinen Voyeurismus bemerkte. Ständiges Vorhandensein kann offenbar unsichtbar machen.

Auch vor Sallys Souterrain erschien ich nun öfter. Ich hatte meinem Vater angeboten, mich um den Garten zu kümmern. Der Vorwand war, dass ich mehr Taschengeld wollte, aber in Wirklichkeit wollte ich Sally sehen können. Nie war der Rasen so kurz wie in diesem Sommer, nie jeder Halm so perfekt auf Gleichmaß getrimmt. Wo früher Unkraut wucherte und Löwenzahn wuchs, wo das Chaos meines Vaters regierte, wurde die gestutzte Natur zum Paradox meiner Triebe. Während ich mit der Gartenschere die Pflanzen traktierte, suchte ich in Sallys Zimmer verstohlenen Blicks nach ihrer Anwesenheit. Wenn ich sie sah, sah ich weg, von schlechtem Gewissen geplagt - und wenn sie mich sah, winkte ich mit der fröhlichen Gleichgültigkeit, die ich ihr abgeschaut hatte. Zugleich spürte ich meinen Penis pulsieren. Jede Nacht fantasierte ich, ich wäre der Gärtner und Sallys Körper mein Garten. Pollutionen verschmierten mein Laken, wenn ich erwachte. Die Träume, in denen ich Sally liebte, verfolgten mich. So lernte ich zu onanieren.
Dass ich nach Sally verrückt war und das keine Liebe ist, trifft zu und trifft nicht zu. Irgendwann liebte ich Sally so sehr, dass sie mich völlig beherrschte. Mein Appetit schwand, meine Noten verschlechterten sich. Das gefiel mir und ängstigte mich. Es war die Herrschaft ungezügelter Gleichgültigkeit über mein Teenagerleben. Sally ahnte von meiner Hingabe nichts, zu sehr richtete sich meine Sehnsucht nach innen. In einer Beziehung mit ihr wäre ich ratlos gewesen, wie ich sie befriedigen sollte. Ich wusste nichts von ihren Begierden, eigentlich wusste ich überhaupt nichts von ihr. Wie Sallys Achtlosigkeit meine Liebe hochschießen ließ, so strafte ich sie, indem ich sie zu einem Gefäß degradierte, in das ich meine Gefühle hineingoss. Ein Blick in ihr leeres Zimmer genügte dafür; die ich liebte, war in mir verschwunden. Nachts schlich ich in den Garten und sah auf die geschlossenen Vorhänge, hinter denen ich Sally annahm. Ich genoss es, gespalten zu sein, hier im Garten und bei Sally im Zimmer zu sein, wo ich über sie wachte. Seitdem wacht sie in mir. Sally ist in mir gefangen, mein Körper hat ihr nie verziehen.
Heute weiß ich, was Liebe bedeutet: ihr nichts zu vergeben, auch nicht ihrer Unschuld. So liebe ich Sally bis heute.

Siehst du den Mond über diesen Zeilen aufgehen? Siehst du die Blätter fallen, da die Herbstzeit beginnt? Auf ihnen schreibe ich weiter.
Immer öfter stand ich vor Sallys Terrasse, immer weniger sah ich von ihr. Dann war sie verschwunden. Wenn es Nacht wurde, war ihr Zimmer noch leer. Wieder und wieder kehrte ich in den Garten zurück, als würde ich etwas vermissen. Wie nebenbei sah ich durch das Fenster: Der Vorhang stand offen, keine Sally war hier. Bis nach Mitternacht schlich ich nach draußen. Haus und Garten lagen im Dunkeln. Ob Sally heimgekehrt war und hinter der finsteren Scheibe im Bett lag, ließ sich nicht sagen. Verwirrt kehrte ich in mein Zimmer zurück, legte mich hin und konnte nicht schlafen.
Auch an den nächsten Tagen tauchte Sally nicht auf. Ich berichtete Vater davon, der meine Sorgen nicht ernst nahm. Vielleicht sei sie in Urlaub gefahren. Sally sei uns keine Rechenschaft schuldig. Erst als die Bezahlung der nächsten Miete ausblieb - Sally zahlte monatlich bar -, ging Vater nach unten und klopfte bei ihr. Es öffnete niemand. Vater hängte einen Zettel an die Tür mit der Bitte, Sally solle sich melden, wenn sie zurückkommt. Ein paar Tage vergingen, doch Sally erschien nicht.
Ich überzeugte Vater, die Polizei anzurufen. Nichts fiel ihm schwerer als das. Für ihn waren Polizisten nur Bullen. Aber ich fürchtete, Sally sei ein Unglück passiert. Also meldete Vater sie als vermisst. Auf der Polizeistation berichtete er, dass unsere Untermieterin seit langem nicht heimgekehrt war, woher sie stammte, wo sie arbeitete… Viel ließ sich über sie nicht berichten. Eigentlich hatten wir keine Ahnung von ihr.
Dies bestätigte sich, als die Polizei bei uns anrief. Man hatte im Bahnhofshotel nach Sally gefragt. Dort kannte sie niemand; und in Manchester war nie eine Sally Parks gemeldet gewesen (eine Heidelberger Großmutter gab es ebenfalls nicht). Sally war verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Vater und ich hatten alles geglaubt, was sie uns erzählte. Warum hätten wir auch misstrauisch sein sollen? Bisher hatte es mit keinem Mieter Probleme gegeben.
Die Polizei kam zu uns nach Hause und besah sich das Untergeschoss. Ich durfte nicht dabei sein und beobachtete vom Garten aus, wie Vater mit den Beamten in Sallys Zimmer herumging. Sie öffneten Schubladen, durchsuchten den Schrank, sie redeten (ich hörte nicht, was) und sahen zu mir in den Garten. Die Polizisten kamen heraus, stellten mir ein paar Fragen, auf die ich nicht zu antworten wusste. Ergebnislos zogen sie ab.
Nachts weinte ich manchmal. Tagsüber benahm ich mich, als wäre ich gefasst und vertraute darauf, dass alles gut würde. Aber gleichzeitig brannten gewaltige Sorgen in mir: Jemand hätte Sally vergewaltigen und umbringen können. Immer wieder musste ich an ihre verschiedenen Liebhaber denken. Sally pflegte arglosen Umgang mit Leuten, die sie kaum kannte. Zumindest schien es mir so.
Außerdem fehlte mir Sally. Das leere Zimmer im Keller spiegelte meine innere Leere. Oft saß ich im Garten und sah auf das Fenster, hinter dem sich nichts rührte. Ich sehnte mich, Sally wiederzusehen, stellte mir vor, wie sie plötzlich die Tür öffnete und das Zimmer betrat, wie sie zur Terrassentür ging, um mir zu winken: „Hallo, Nico, ich bin wieder da.“ - Nichts dergleichen geschah.
Einmal schlich ich mich in Sallys Zimmer und wiederholte die polizeiliche Durchsuchung. Ich sah mich um, um ein Zeichen, eine Erklärung zu finden und öffnete den Schrank, der fast nichts enthielt: etwas Unterwäsche, löchrige Socken, ein einsames Kleid… - Ich hätte es herunterreißen und anzünden wollen. Wie konnte mir Sally das antun? Ich wurde wütend auf sie und schlug die Schranktüre zu. Oben, im Bad, sammelte ich ihre Kosmetika ein und warf sie in den Papierkorb. Sally hatte mich einfach verlassen. Wenn jemand sie getötet hatte, geschah ihr das recht.

Um die Wahrheit zu sagen… - So beginnen Geschichten. Diese war meine:
Um die Wahrheit zu sagen, habe ich Sally gehasst. Um die Wahrheit zu sagen, wünschte ich ihr den Tod. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich sie getötet.
Ich stand im Garten und sah Sally nackt auf dem Boden. Sie masturbierte. Sie sah zu mir herüber und befriedigte sich. Sie tat es für mich. Sie tat es, um mich zu quälen. Ihre Botschaft war: Ich brauche dich nicht. Regungslos stand ich im Garten. Meine Erektion ekelte mich.
Als Sally fertig war, verschwand sie aufs Klo. Mir war, als grinste das Fenster mich an. Ich trat an die Tür und öffnete sie. Die Gartenschere in meiner Hand registrierte ich nicht. Sally kam ins Zimmer zurück. Sie war immer noch nackt. „Was gibt´s, Nico?“, fragte sie mich.
Ich schwieg. Ich wollte sprechen und schwieg. Was sollte ich sagen? Ich wusste es nicht. Sally lachte und meinte: „Komm, setz dich zu mir.“ Sie setzte sich aufs Bett und streckte den Arm aus, wie um nach mir zu greifen. Ich rührte mich nicht.
„Hast du Angst, Nico?“, fragte sie. Sie lachte erneut. „Ich tu´ dir nichts. Don´t be afraid.“ Ich ging einen Schritt auf sie zu und starrte sie an. Dann starrte ich auf den Boden. Sally legte ironisch den Kopf schief. „Willst du mich anfassen? Komm, setz dich her. - Willst du mit mir schlafen?“
Ich stand direkt vor ihr. Sallys Schamlippen ängstigten mich. Ich beobachtete, wie Sally sie rieb. Sie ließ sich theatralisch zurückfallen und atmete schwer. Dann schloss sie die Augen und geduldete sich. Die Stille im Raum verspottete mich. Schließlich richtete Sally sich auf und lächelte schief. Ich stand immer noch vor ihr und starrte und starrte. Ich konnte nicht vor und zurück. „Komm, geh zu Mama“, murmelte Sally und drehte sich weg. Da stach ich zu.
Ich stieß die Schere in sie. Zwei- und dreimal durchbohrte ich ihren Magen. Blut quoll hervor und verschmierte das Laken. Jetzt war es Sally, die starrte. Sie würgte vor Schreck. Ob sie geschrien hat, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur meine Wut und ihr Blut; und als sie tot war, liebte ich sie wie noch nie. Ich küsste das Blut, das ihr ins Gesicht gespritzt war. Es tropfte ihr von den Händen und verklebte ihr Haar. Wunderbar weiß lag sie da, weiß wie der Tod und so rot.
Danach liegt alles im Dunkeln. Ich weiß nicht, wo ich war. Als könnte die Nacht nicht zu dämmern beginnen. Erst nach Tagen fand ich mich wieder - im Wald hinterm See. Vater kniete bei mir und hielt meine Hand. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht“, sagte er, als ich die Augen aufschlug, „wo bist du gewesen?“ Ich setzte mich auf und konnte nicht sprechen. Vater half mir hoch und brachte mich heim.
Dort war alles wie immer. Ich hatte mich gefürchtet, verhaftet zu werden. Doch niemand holte mich ab. Ich frühstückte schweigend. Besorgt und erleichtert sah Vater mir zu. Mit keiner Silbe erwähnte er Sally, als hätte ich sie nicht ermordet - oder als hätte sie nie existiert. Als ich in den Garten ging und den Baum vor mir im Sonnenlicht sah, hatte ich Angst, in Sallys Zimmer zu sehen. Ich zwang mich dazu, auf das Schlimmste gefasst - und das Schlimmste trat ein: Nichts erinnerte an mein Verbrechen. Glatt und rein war das Laken auf die Matratze gespannt, als hätte nie jemand auf ihr gelegen. Nirgends gab es ein Zeichen von Sally oder von ihrem Tod. Ich rannte hinein und riss den Schrank und die Schubladen auf. Alles war leer. Wie besessen begann ich das Haus zu durchsuchen, um einen Hinweis auf Sally zu finden. Vater kam hinter mir her. „Was machst du denn, Nico?“, fragte er mich. Ich wollte ihn anschreien: „Ich habe Sally getötet“, aber mein Schrei fiel nach innen, wo sich sein Echo verlor.
- Dann fiel es mir ein. Ich rannte die Treppe hinunter, wie konnte ich es übersehen? Im Keller war das Bad repariert. Weiß glänzten die Fliesen an der Wand und am Boden. So gründlich arbeitete Vater sonst nie. Aufstöhnend brach ich zusammen und trommelte mir ins Gesicht.
So kam ich in die Klinik. Man beobachtete und behandelte mich. Ich fing an von Sally zu reden, aber man glaubte mir nicht. Vater stritt ab, eine Sally zu kennen. Man diagnostizierte Schuldwahn bei mir. Neuroleptika sollten mir helfen.

Ich weiß, dass das alles nicht wahr ist. Es ist eine Geschichte, die ich mir ausgedacht habe, nachdem Sally weg war. Sie sollte mir helfen, mich von ihr zu lösen. Sie sollte mich von meinem Kummer befreien. Vielleicht ist diese Geschichte aber auch ein Beweis meiner Liebe. Denn ich klammerte mich an sie wie vorher an Sally. Sie wurde zur Wahrheit für mich. Ich schrieb sie auf, wie ein Geständnis, das ich niemandem zeigte. Wichtig war nur, dass ich selbst daran glaubte. So fühlte ich mich der Verschwundenen nah.
Damals war diese Geschichte mein größtes Geheimnis, heute finde ich sie nicht mehr. Als ich von zuhause auszog, gab ich sie in ein Kuvert und dann in die Kiste zu den anderen Sachen. Ich holte sie nicht mehr hervor. Sie wurde mit den Jahren weniger wichtig für mich. Jetzt, als ich sie für meine Erinnerung abschreiben wollte, ging ich in den Keller, um sie zu holen. Aber sie war nicht da. Ich überlegte, wo sie geblieben sein konnte. Wann hatte ich sie zuletzt gelesen? Das ist so lange her. Habe ich sie weggeworfen, um mich von meinen Erinnerungen an Sally zu distanzieren? Das glaube ich nicht, aber um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht mehr.
Obwohl so viele Jahre vergangen sind, war es nicht schwer, die Geschichte noch einmal zu schreiben. Früher hätte ich sie auswendig aufsagen können; und jetzt fiel mir jedes Detail wieder ein, als wäre doch alles wahr. Wenn sie erfunden ist, dann nicht mehr als der Rest. So kommt es mir vor, weil ich Sally noch liebe. Liebe verhindert, Erfindung von Wahrheit zu trennen.

Gerade habe ich meinen Text durchgelesen. Ein Außenstehender dürfte ihn nicht verstehen. Doch um meine Gefühle für Sally begreiflich zu machen, müsste ich mich wiederholen. Ich müsste erneut Sallys Augen beschreiben, ihre hellblauen Augen, ihr Haar, das so beispiellos blond war, und wie der Schnee müssten meine Worte auf Sally herabfallen und wie das Sommerlicht meine Sätze ihren Körper berühren. Ich müsste auf Sallys Haut schreiben können, die ebenso weiß ist wie blankes Papier - und das Papier müsste Sally gleichsehen, die mich ebenso gleichgültig ansah. Wieder und wieder müsste ich neu und von neuem beginnen, wie die Liebe nicht aufhört. Wieder und wieder müsste es heißen: Weiß wie Papier sehe ich Sally Parks vor mir, weil ihre Gegenwart eine ewige ist - zumindest in mir.
Und man müsste Sally Parks töten, um zu begreifen, was hinter ihr liegt. Als ob man Papier gegen Licht hält, um darin Adern zu sehen. Man verstünde, dass Sally mehr ist als Sally, dass sie eine andere ist, die man nicht festhalten kann. Man müsste Sally Parks abstechen wollen, um sie nie zu verlieren.

Einmal hörte ich Sally Parks weinen. Ich hatte die Joy-Division-Single für sie überspielt und war in den Keller gegangen, um ihr die Kassette zu bringen. Als ich an der Tür stand, brauchte ich einen Moment, bevor ich anklopfen wollte. Sally zu begegnen machte mich so nervös, dass meine Finger zu zittern begannen. Indem ich tief durchatmete, versuchte ich mich zu beruhigen. Erst jetzt, als wäre ich zu mir gekommen, registrierte ich, dass Sally weinte.
Ratlos stand ich auf dem Flur. Ich wusste nicht weiter. Sollte ich Sally stören oder nach oben zurückgehen? Vorsichtig hielt ich mein Ohr an die Tür. Sally schluchzte so, dass sie fast atemlos war. Wie hatte ich das erst nicht wahrnehmen können? Kam es nicht aus einem ganz anderen Raum? Mich erfasste etwas, was mich zurückweichen ließ. Ich stünde, schien mir, im Garten, ohne Sally in ihrem Zimmer zu sehen. Es war, als gäbe es für sie keine Außenwand mehr.
Ich legte die Kassette vor die Tür auf den Boden und schlich mich davon. Oben angekommen ließ ich das Kellerlicht an, damit die Dunkelheit nicht überhandnahm. Natürlich war das nur ein Trost für mich und keiner für Sally. Was wäre wohl geschehen, wenn ich an ihre Tür geklopft hätte? Ich habe nie erfahren, warum Sally so weinte.

Drei Männer folgen einem Weg am Rand eines Waldes. Die Bäume sind robust und gesund, sie spenden erfrischenden Schatten. Das dichte Laub ist vom Frühsommer staubig und grün. Durch eine Bresche wirft die Sonne ihr freundliches Licht. Es ist ein heißer Tag, aber im Wald ist es kühl.
Die drei Männer unterhalten sich lebhaft, sie nehmen die Landschaft kaum wahr. Nur beiläufig spüren sie den Wechsel von Sonne und Schatten. Die Bäume am Wegrand sind ihrer Beachtung nicht wert. Doch diese beugen sich ihnen entgegen, als lauschten sie und wollten den Wortwechsel besser verstehen.
Gerade hat der Mann in der Mitte das Wort. Mit seiner Rechten zeigt er zum Himmel, mit der Linken hält er den weißen Umhang, den er trägt, vor die Brust. Es ist eine halb offene, halb geschlossene Geste, wie ein Übergang, wie die Richtung, die die Wanderer nehmen.
Die beiden Zuhörer, in Schwarz und in Rot, wenden sich dem Redner neugierig zu, erwartungsvoll, was er verkündet. Einen Blick für den Weg vor sich haben sie nicht - und keine Angst, etwas ließe sie stolpern. Ihre ganze Haltung strahlt Zuversicht aus. Sie sind in ihrem Gespräch, wie im Grünen, geborgen.
Das Ziel ihrer Reise zeichnet sich verschwommen am Horizont ab. In einer Waldlücke ahnt man die Ankunft: eine Ortschaft mit steinernen Türmen. Noch ahnen die Männer in Schwarz und in Rot nicht, welches Glück sie erwartet: In Emmaus werden sie in ihrem Begleiter den Heiland erkennen. Alle Einsamkeit wird von ihnen abfallen.
Das Bild hängt im Haus Sankt Lukas im Sekretariat der Pflegedienstleitung. Ich war zu einem Infogespräch über den Zustand meines Vaters gekommen und musste mich etwas gedulden: Man führte ein wichtiges Telefonat. „Der Gang nach Emmaus“ berührte mich sehr. Die zwei Jünger hatten einen geliebten Menschen verloren und keine Hoffnung, ihn wiederzusehen. Es war sogar schlimmer. Denn mit dem Verlust dieses Menschen verlor das Leben der beiden auch seinen Sinn. Sie wurden aus ihrer eigenen Mitte gerissen, verzweifelten und wurden mit Blindheit geschlagen, wie es im Evangelium heißt. Das klingt seltsam in unseren Ohren. Heute würden wir vielleicht von einer Depression sprechen, die ihr Leben verfinstert.
- Dann passiert das Unglaubliche: Der verloren Geglaubte ist wieder - oder immer noch - da. Das ist unmöglich - und doch spüren wir: Es ist wahr - und es war immer schon wahr. Dieses Erwachen aus der Trauer prägt die Haltung der Jünger in diesem Bild. Sie sind zugewandt, sie öffnen sich dem Leben aufs Neue - und das Leben öffnet sich ihnen. In der Ferne vor Emmaus zeichnet sich ihre Erleichterung ab: Das Leben erhält seine Tiefe zurück, es ist überhaupt wieder Leben; es ist so tief, dass in ihm nichts verloren gehen kann. Diese Gewissheit erwacht in den Jüngern.
Die Stimmung, die das Bild ausstrahlt, steckt auch mich manchmal an. Es lässt mich träumen, dass in einer anderen Welt Vater noch jung ist. Es ist nicht die Welt von gestern, die ist vergangen, sondern es ist eine Welt, in der die Zeit nicht vergeht. Diese Welt zeigt sich vor Emmaus, wo die Bäume sich neigen, um ein stummes Gespräch zu verstehen. Wir sehen nicht die Bewegung, wir hören nicht das erlösende Wort, aber wir spüren: Unsere Sehnsucht wird wahr.
Ich stelle mir vor, mit Sally durch den Wald nach Emmaus zu gehen, auch wenn Emmaus nur der See meiner Jugendzeit ist. Nie sind Sally und ich gemeinsam dorthin gegangen. Aber den Ort, den ich meine, gibt es auch nicht. Es ist nicht der See hinterm Stadtrand, sondern der Ort, der mich mit Sally verbindet. Er existiert nur in mir, trotzdem weiß ich: Er ist immer hier.

Die Pflegeleitung teilte mir mit, dass Vaters Demenz sich verschlimmert. Das sei zu erwarten gewesen. Gleichwohl bedauere man es. Für das Personal sei Vaters Verhalten in zunehmendem Maß problematisch, weil er aggressiv reagiert, wenn man ihm widerspricht. So eine Entwicklung gebe es öfter, aber in Vaters Fall kämen Halluzinationen hinzu. Ich berichtete von Vaters Einbildung, nach dem Waschen werde die Wäsche nicht trocken, aber die Pflegeleitung wusste das schon. Wir sprachen über die Möglichkeit einer medikamentösen Abschwächung von Vaters Zustand: Gegen seine Wutausbrüche könnten Neuroleptika helfen. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich darüber erschrak, hatte ich das Medikament doch erst vor wenigen Tagen in meiner Geschichte erwähnt. Einen Moment lang kam es mir vor, als würde die Zeit ihre Richtung umdrehen und, was eben geschah, Einfluss nehmen auf frühere Gedanken in mir. Es war eine Art Déjà-vu.
Später besuchte ich Vater auf seinem Zimmer. Er schlief. Ein Pfleger, den ich kannte und der eben vorbeikam, begrüßte mich und schilderte mir Vaters Verhalten. Erst heute Morgen habe er im Bad beim Anblick der Fliesen geschrien, sie seien verdreckt. Er begann sie, obwohl sie sauber waren, mit dem Handtuch zu putzen. Als der Pfleger ihn davon abhalten wollte, begann Vater nach ihm zu treten. Ich verzog das Gesicht und sagte: „Das tut mir leid.“ Es fiel mir nicht leicht, ruhig zu bleiben. Um mich abzulenken, erzählte ich, dass Vater früher überhaupt nicht ordentlich war - und sehr friedlich. Was der Pfleger antwortete, erfasste ich nicht. Ich war mit meinen Gedanken beschäftigt.
Jetzt, da ich das aufschreibe, kommt mir die Szene unwirklich vor - als hätte ich sie erfunden. Ich blätterte eben zurück und las die Passage noch einmal, in der ich Sally Parks töte. Ein Teil von mir versteht sie sofort, ein anderer nicht im Geringsten. Es fällt mir schwer, Erfindung und Wahrheit zu trennen. Ich bezeuge vor mir, auch wenn ich den Text nicht mehr finde: Als Jugendlicher hatte ich diese Mordfantasie. Ob ich damals überhaupt das Wort Neuroleptikum kannte? Das Déjà-vu kehrt zurück; ich denke an Sally und an meine Schuld: Sally Parks, meine Liebe. Dann sage ich mir, dass ich unschuldig bin.

Im Internet habe ich mir Ian Curtis´ Grab angesehen. Auf einigen Fotos sieht man blaue Kerzen und Blumen. Ich stelle mir vor, dass Sally sie hingestellt hat.
- Das ist wohl verrückt und die Farbe nur Zufall.
Aber nie vergesse ich - niemals, solange ich lebe: Auch Sallys Augen waren sehr blau.

 

Hallo Anselmi,

hier mal eine Rückmeldung. Ach herrje, das ist nicht leicht. Ich sag zusammenfassend mal so:
Es gab einen ersten Teil, wo ich dachte, interessant, aber die Zeitsprünge nerven jetzt schon ein bisschen beim Lesen. Das ist mir zu ruckelig. Außerdem handelt die Geschichte von Sally, das mit der Demenz und den Großeltern könnte man vieleicht später filigran einbauen. Denn wie gesagt, es geht ja um Sally (oder sagen wir: So versteh ich das).
Dann gab es den zweiten Teil, wo ich dachte: Was für ein Kawenzmann. Eine Geschichte mit Kaliber, ich war wirklich begeistert!
Dann folgte der dritte Teil (du weißt ganz genau, wo der anfängt), wo ich nur dachte: Häh??? Why the face? Von da an hat's mich komplett rausgehauen. Die Begeisterung war schlagartig verpufft, weshalb ich das hier jetzt ganz nüchtern kommentiere. Aber zunächst, was ich beim Lesen mitkommentiert habe:

(ich weiß nicht, wo)

Das müsste da m.E. nicht stehen. Zumindest nicht am Anfang gleich eine Klammer einbauen.

Verständnis los

"Verständnislos"

mein Gedächtnis

Vorschlag: Gedenken oder Erinnerung.

Aber ich wollte von Sally Parks und nicht von Vater erzählen.

Damit bringst du es ehrlich gesagt auf den Punkt. Hier endet für mich der erste Teil. Wie gesagt, ich würde gleich mit Sally schwerpunktmäßig anfangen und die übrigen Sachen irgenwo später einbauen.

Einmal ging ich im Sommer zur Wiese und pflückte ein Wegwartensträußchen. Dann schämte ich mich dafür, es Sally zu geben. Es vertrocknete bei mir im Regal.

Das machst du sehr gut. So ausdefinierte psychologische Sachen. Ehrlich. Sorgt für Tiefgang. Ich merke, du hast hier richtig viel Mühe reingesteckt. Hervorheben will ich auch die ganzen kleinen interessanten Details in diesem Text. Gefällt mir wirklich gut, besonders die zitierte Stelle.

Sally sah mich an. Sie erriet meine Gedanken und meinte: „Sei nicht traurig. Wir sind alle allein.“ Dann küsste sie mich auf die Wange. Ich wurde schlagartig rot.

Mag ich. Keine Frage. Sehr schön:).

Sie hatten das Vorrecht, ihr Gesicht zu berühren, während mit nichts anderes blieb,

"mir".

gelten. - Aber nun

Nope.

Heute weiß ich, was Liebe bedeutet: ihr nichts

"ihr" groß, würd ich sagen.

Um die Wahrheit zu sagen… - So beginnen Geschichten. Diese war meine:
Um die Wahrheit zu sagen, habe ich Sally gehasst. Um die Wahrheit zu sagen, wünschte ich ihr den Tod. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich sie getötet.

Ja, und hier kriegen wir ein Problem. Hier endet für mich der zweite wirklich sehr gute Teil und ich raff gar nichts mehr. Sprachlich ist alles wie beim ersten und zweiten Teil, keine Beanstandungen von mir. Aber ich glaube, nicht nur bei mir, sondern allgemein mutest du da dem Leser schon sehr sehr viel zu. So ein großer Bruch...Oder ich sag mal so: Der Leser, der wegen dem ersten Teil gekommen ist und wegen dem zweiten Teil bei der Geschichte geblieben ist, wird bei der Geschichte vermutlich wegen dem dritten Teil aussteigen oder nur höflich zu Ende lesen.

Ratlose Grüße. Aber irgendwie auch lustig, das Ganze:D.

 

Danke für deine Tipps, ich freu´ mich über jede interessante Rückmeldung.
Und: "Ratlose Grüße" find´ ich gut. Eine Geschichte soll ja auch, wie ich finde, kein Ratgeber sein. Also mach dir nichts draus, wenn du nicht alles verstehst. Ich versteh´ auch nicht alles - und der Ich-Erzähler schon gar nicht.
(PS: Vielleicht ist die Frage ja doof, aber: Verstehst du eigentlich das Leben?
- Was ich damit meine: Ich mag Geschichten, die ihr Geheimnis bewahren.)

 

Verstehst du eigentlich das Leben?

Ich komm zurecht:). Trotzdem empfand ich es als gute Geschichte Anselmi, mit genannten Abstrichen.

 

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