Der Frosch mit dem Helm
Der Frosch Mit Dem Helm
Das einzige was man nicht tun durfte, wenn man sich nachts irgendwo in einer Underground Station in London aufhielt, war sich leicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Ab Mitternacht begann meist die Freakshow. Hilflose Obdachlose, hilflose Säufer, hilflose Ausgestoßene. Alles verlorene Seelen, die ziellos in der Gegend herumirrten. Kein Zuhause, kein Ort an dem sie sein konnten oder sein wollten.
Man durfte sich keine Angst von ihnen machen lassen. Von ihren tiefen, aschfarbenen Augenringen, von ihren Kapuzen, die sie sich bis über das halbe Gesicht zogen, nicht davon, dass sie einfach anders waren als ‚wir‘, als diejenigen, die auch bei Tageslicht einen Menschen darstellten, der nicht aussah, als wäre er direkt aus der Hölle ausgekotzt worden; Erbrochenes des Ortes, an dem sonst alles andere Erbrochene landete.
Sie stand neben mir. Wohl einen Schritt zu weit weg als dass man eindeutig davon ausgehen hätte können, dass wir gemeinsam unterwegs waren; dass sie zu mir gehörte. Nur zu mir. Meine Liebe, meine Königin, der Wind in meinen Segeln, die Luft, die ich zum Atmen brauchte, die Sonne, die mich leben ließ.
Ein Geschöpf näherte sich uns. Ein hilfloses. Es war ein Mann. Irgendwann mal.
„Hey Misses.“, lallte das Erbrochene, das wankte und sich kaum auf den Beinen halten konnte. Hätte es diese Beine nicht gehabt, dann wäre es wirklich nicht mehr gewesen als ein Haufen Erbrochenes und genau danach roch es auch und genau danach sah es auch aus.
„Hey… hey Misses.“, quoll es erneut aus seinem Rachen. Sie reagierte nicht, sondern sah ihn nur angewidert an. Meine Königin. Sie verstand die Freakshow nicht so wie ich. Sie ekelte sich vor ihr. Mir war sie nicht gerade angenehm, natürlich nicht, aber ich kam mit ihr zurecht. Ich kannte sie.
„Du … du siehst mir aus wie eine… so ne richtige… du weißt schon.“ Seine Stimme war tief, sein Gesicht irgendwie nicht ganz gerade. Er gehörte anscheinend zu der schlimmeren Sorte. Schlimm in der Hinsicht, dass er zu viel erlebt hatte, zu viel gesehen hatte, zu viel Geschichte mit sich herum trug. Er war Teil der Oberschicht. Er war Teil der Elite.
Unter anderen Umständen hätte ich ihm zugehört. Glaube ich. ‚Wie endet man so?', hätte ich gefragt. 'So in der Underground?' 'Und wieso zum Teufel tragen Sie einen Helm?‘ Das hätte ich ihn gefragt. Ich hätte ihn gefragt, wieso er einen Stahlhelm trug. Welchen Zweck hatte er? Ich beobachtete ihn kurz, wollte wissen, wie meine Königin auf ihn reagierte. Sie verzog nur das Gesicht. Eine Mischung aus Widerwärtigkeit und Hohn und das hatte der alte Mann auch verdient. Er war widerwärtig und er verdiente es verhöhnt zu werden.
„Willst du…“, fuhr er fort, während er nach wie vor Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten, „…willst du… was macht eigentlich eine Lady wie du um diese gottverlassene Zeit hier ganz alleine? Willst du, dass…“ er hustete, krächzte und Spuckte eine zähflüssige Masse aus seinem Mund, die so grün war, wie die Kruste, die seine Lippen und die Dellen über seinem Auge bedeckte. Es wirkte als ob sich dieser Schleimbatzen am Boden eher abrollte, als dass er dort wie ein Tropfen landete.
Als er fortfuhr begann er zu flüstern, „… dass ich dich beschütze? Du braucht Schutz hier unten“, er senkte seinen Kopf und starrte paranoid nach links und nach rechts, „vor den Dämonen und dem Abschaum der Gesellschaft. Das hier ist der Zirkus, der Zirkus der Unbarmherzigen und ich beschütze dich vor seinen Mitgliedern … dass er dich nicht verschluckt, nicht einsaugt und deine Seele rein bleibt. Du…“
Ich beschloss, es Zeit werden zu lassen und in die Sache einzugreifen. Zu lange sah ich meine Königin schon leiden. Zu lange funkelten ihre Augen schon nicht mehr. Jede Sekunde, die ihre Augen nicht funkelten, war eine verschwendete Sekunde… Gott, diese Augen. Diese Augen, die sie immer für mich strahlen ließ. Nur für mich. Sonst für niemanden.
„Passen Sie auf…“ sagte ich und er starrte mich an, als wäre ich komplett aus dem Nichts aufgetaucht, als wäre ich nie da gewesen und nun, da ich einen Ton von mir gab, schreckte er zusammen und starrte mich an.
„Was? Woher..?“, stammelte er. Ich unterbrach ihn…
„Passen Sie auf… Sie wird Ihnen keine Aufmerksamkeit schenken. Sie sind ein Nichts. Nicht einmal eine Frau, die auch so eine schleimige, triefende, grüne Froschfresse hätte, wie Sie eine haben, würde sich von Ihnen beschützen lassen wollen. Vielleicht eine Frau, die auch einen Helm tragen würde und damit so schräg aussehen würde, wie Sie… die vielleicht, ja. Aber alle anderen nicht. Gehen Sie bitte weg. Verschwinden Sie!“
Er sah mich grimmig an. Er wurde wütend, aber irgendwie auch traurig und ich sah, dass unter seinen braun-grünen abgestorbenen Hautfetzen seine wirkliche Haut einen roten Schimmer bekam. Es wäre eigentlich schwierig zu sehen gewesen, doch die Halogenlampen hier, tief unter der Erde, machten es deutlich sichtbar. Er begann zu schnaufen. Immer schneller und immer tiefer.
„Sehen Sie sie an!“, sagte ich etwas lauter, als er nicht verschwinden wollte. Er sah sie an. Er war verwirrt.
„Sehen…Sie…sie…an!“ Er sah kurz mich an, dann wieder sie. Er kniff seine runzligen, triefenden Augen zusammen.
„Sagen Sie es!“ befahl ich ihm.
„W… Was sagen?“ stammelte er nach einigen Sekunden.
„Sagen Sie, dass Sie ein erbärmlicher Froschmensch sind, bei dem es schon viel zu lange her ist, dass er von seiner scheiß Froschmutter aus ihrer scheiß Kloake geschissen wurde, und dass Sie zu erbärmlich sind, um sich eine Frau wie diese auch nur als Wichsvorlage vorstellen zu dürfen.“
Er blieb still, sagte nichts und trat einen kleinen Schritt zurück. Ich ging auf ihn zu, Packte ihn an seiner zerschlissenen roten Krawatte, die ihm mehr um sein zerschlissenes gelb-grünes Hemd schlaff runterhing, als dass sie einen ordentlichen Knoten und ordentlichen Halt aufweisen konnte. Ich zog sein Gesicht so nah an mein Gesicht, dass sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten. Er roch nach vergammeltem Fisch und zwischen seinen braunen, gammligen Zähnen hingen dünne Fäden, die an die Beine von Kakerlaken erinnerten.
„Sagen Sie es!“
Er sagte nichts. Ich riss ihn von mir weg, packte ihn immer noch an seiner Krawatte und hielt ihn so, dass er meine Königin ansehen musste, die die ganze Situation desinteressiert mit verschränkten Armen beobachtete.
„Sehen Sie sie sich an. Ihre wunderschönen, großen blauen Augen, diese Figur, die langen Beine, zum dahinschmelzen, nicht? Und wissen was? Ihre Haare riechen nach Rosen, ihre Küsse schmecken nach frischen Erdbeeren und ihre Schenkel sind so weich wie die Wolke auf der Gott gerade sitzt und Kreaturen wie dir ordentlich ins Leben scheißt. Und jetzt … und jetzt bitte ich Sie zu gehen. Sein Sie woanders widerlich. Und nehmen Sie den Helm ab. Das sieht albern aus.“
Den letzten Teil versuchte ich so höflich wie möglich auszusprechen. Ich richtete ihm seinen Kragen und versuchte aus seinem Krawattengewirr etwas zu machen, was einem normalen Knoten am ähnlichsten kam, dann nickte und lächelte ihm zu.
Er drehte sich um und lief, beziehungsweise humpelte, weg. Sehr langsam. Über seinem zerschlissenen Hemd trug er einen schäbigen grünen Parka, der schmutzig und ihm viel zu groß war. Man sah lediglich seine dreckigen, mageren Fingerspitzen aus den Ärmeln hängen, während er mit baumelnden Armen davonlief.
Nach einigen Schritten blieb er stehen. Er hob zwar seinen Fuß, aber der alte Lederstiefel berührte den Boden nicht. Auf dem anderen Bein drehte er sich erneut zu uns um.
„Wissen Sie…“, stammelte er, „… wollen Sie wissen wieso ich diesen Helm trage?“
Während er das sagte, öffnete er den Helmverschluss am Kinn und nahm sich den Helm mit beiden Händen langsam vom Kopf. Ich wurde neugierig und auch meine Göttin hob den Kopf und sah zu ihm rüber. Auf seinem Schädel waren nur noch vereinzelte, lange Haarsträhnen zu sehen, die ihm am Kopf klebten und seine Kopfhaut war noch schuppiger und krustiger als sein Gesicht. Hier und da waren einige Flecken, die aussahen, wie offene Wunden, aus denen statt Blut irgendein grün-braunes Sekret tropfte.
„Ich trage diesen Helm, weil ich…“, sagte er während sich seine Stimme leicht veränderte. Sie wurde tiefer und undeutlicher und sein linker Mundwinkel begann nach unten zu rutschen, „… weil ich sonst den Menschen von da oben…“, er zeigte mit seinem Finger in Richtung Decke und sein linkes Augenlid begann ebenfalls langsam nach unten zu rutschen, als würde sein Kopf nur von einer teigigen Masse zusammengehalten werden und nicht von Haut, Muskeln, Sehnen und Knochen. Grüne Flüssigkeit triefte aus seinem Mundwinkel und zwischen Auge und Mund bildete sich ein waagerechter Riss, der keinen Schädel zu erkennen gab, sondern nur etwas Gehirnmasse, die sich von seiner Schädeldecke in Richtung Wangenknochen nach unten gearbeitet hatte, „… keine Angst mache. Ich will doch niemanden erschrecken und der Helm… tja, der Helm hält meinen Kopf zus- … ach, Sie sehen es ja selbst.“
Bei den letzten Worten war seine Stimme kaum mehr verständlich und verwandelte sich zu einem tiefen, dunklen Gurgeln und während er die letzten Töne von sich gab, trennte sich seine linke Gesichtshälfte vollends vom restlichen Kopf und klatschte auf dem Boden auf, wie ein sämiger Haufen Erbrochenes und einige Tropfen flogen fast bis vor unsere Füßen. Es hörte sich an als würde ein Eimer toter Fische auf den Boden geschüttet werden. Es platschte und alles verfloss im Echo der Underground Station. Sein restlicher Körper fiel erst auf die Knie, verharrte so eine oder zwei Sekunden und kippte dann nach vorn. Aus dem Loch, das entstand, nachdem ihm die linke Gesichtshälfte vom Schädel gerutscht war, quoll die restliche Hirnmasse. Eine Mischung aus grünem und rotem Matsch, kein festes Gewebe mehr, nur noch zähflüssiger Matsch, der sich über dem Boden verteilte und unter seinem Kopf und seinem Körper eine große Pfütze bildete.
Wir betrachteten das Spektakel in Ruhe.
„Hm…“ gab meine Königin von sich „… das war jetzt unnötig.“
Wir lachten, sie gab mir einen Kuss auf die Wange und wir stiegen in den Zug ein, der gerade mit der Lautstärke eines tosenden Applauses, den die Vorführung des Frosches mit Helm verdient gehabt hätte, einfuhr.