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Der Frosch am See
„Mehr Spaß als wir kann absolut niemand auf diesem Erdball haben“, scherzte Finn und nahm einen tüchtigen Zug aus seiner Bierflasche.
Firestone Pale Ale – diese Sorte liebte er.
„Wartet, ich hab noch einen“, zog er die Flasche hastig von seinem Mund weg und spuckte dabei einige Tropfen Firestone über die hellen Holzdielen der Hütte.
„Was dreht sich im Kreis und schimmert grün?“
Emilie, Irina und ich zuckten mit den Schultern.
„Na, jetzt macht mich aber nicht schwach“, zog Finn die Spannung weiter hinaus. „Wirklich niemand von diesen hochgebildeten Menschen und Schauspielern in diesem Raum weiß die Antwort?“ Er lächelte schief.
„Jetzt spann uns doch nicht so lange auf die Folter“, erwiderte Irina genervt und verdrehte ihre Augen. „Dass euch das nicht auch auf den Zeiger geht“, machte sie sich weiter Luft und schaute hilfesuchend zu uns hinüber.
Ich blickte zu Emilie und sah, wie sie schmunzelte. Sie strich sich durch ihre dunkelbraunen langen Haare, die
wie ein Vorhang locker und glatt nach hinten über ihre Schultern fielen. Sie machte das immer, wenn sie verlegen war. Unsere Blicke trafen sich und auch ich musste nun schmunzeln. Ich wusste, dass sie mich nach acht Jahren Ehe genauso gut kannte wie ich sie.
Finn wollte gerade zu einem Satz ansetzen, als die Tür aufflog und zwei kleine Jungs hineinstürzten, deren Jeans und Sweatshirts mit Matsch verschmiert waren.
„Gibt es schon etwas zu essen?“ tröteten sie fast zeitgleich heraus.
Irina schlug die Hände zusammen. „Na, auf welchem Planeten hat man euch denn so mit Dreck bespritzt?“
„Wir waren umzingelt und mussten uns mit Matschbällen gegen außerirdische Mutanten zur Wehr setzen“, antwortete Jack, dessen Gesichtszüge denen von Emilie so unglaublich ähnlich waren. „Und dann haben wir es denen aber so richtig gezeigt“, antwortete der andere kleine Junge und stemmte bedeutungsvoll die Hände in seine Hüften.
„Dann haben wir ja Glück, dass ihr uns verteidigt habt“, spielte Irina mit. „Ansonsten hätten uns die außerirdischen Mutanten sicherlich die Würstchen vom Grill weggegessen.“ Beide Jungs nickten heftig. „Das schreit nach einer Belohnung ‚Händewaschen für alle Mutantenjäger‘.“
„Och menno“, schallte es im Chor.
„Keine Widerrede“, schaltete sich Finn ein und strich sich demonstrativ über den Bauch. „Sonst esse ich alle Würstchen alleine. Ich habe nämlich so richtig Hunger heute. Wie ein Riesenmutant.“
Fast zeitgleich polterten die Jungs in Richtung Badezimmer.
„Ich schaue mal nach den beiden“, kam Emilie auf mich zu und drückte mir einen Kuss auf die Wange.
„Seid doch so nett und werft mal einen Blick auf den Grill“, rief uns Irina zu. „Ich kümmere mich um den Salat“. Schon war sie in die Küche geeilt.
Wenig später standen Finn und ich mit unseren Firestone Pale Ale am Grill und blickten über den See, der friedlich vor der Holzhütte schlummerte. Wir kamen hier öfter am Wochenende her, um mit unseren Familien auszuspannen und genossen die Zeit in der Natur. Eine Libelle flog über die Wasseroberfläche, änderte zigfach die Richtung und verschwand dann wieder in den Gräsern am Uferrand.
„Wolltest du eben nicht noch erzählen, was sich im Kreis dreht und grün schimmert“, fragte ich Finn, während ich ein wenig Firestone über die Würstchen träufelte.
Er schaute mich an und grinste über beide Ohren. „Na ein Frosch auf einer Beatles-Schallplatte, die gerade läuft und läuft und läuft …“
+++
Ich denke an den Frosch auf der Beatles-Schallplatte, als ich hier alleine vor dem Spiegel sitze. Unsere Vorstellung ist schon lange vorbei, doch ich bin noch im Theater geblieben. Im Maskenraum. Ganz alleine. Im Spiegel sehe ich eine Maske aus Stein. Schroff, kalt und traurig. Wer ist dieser Mann vor mir mit den halblangen blonden Haaren, dem leeren Blick und den eingefallenen Schultern? Bin ich das? Oder ist es nur ein Schatten von mir?
Wo ist mein Elan, den ich in der Schauspielerschule vermittelt bekommen habe? Der mich in so vielen Rollen über mich hinauswachsen ließ? Wo ist meine Liebe für Emilie hin, die zum ersten Mal in mir aufflackerte, als ich sie hier im Theater kennenlernte? Jetzt war in mir nur noch ein dumpfes Gefühl, wenn ich an sie dachte. Als hätte jemand die Zuneigung zu ihr in eine dunkles Truhe eingeschlossen, für die ich keinen Schlüssel habe. Was geschieht mit mir?
Der Frosch … er könnte mich doch ein wenig erheitern, mir neuen Mut schenken. Doch ich bin es leid, immer wieder schöne Momente aus der Vergangenheit hervorzukramen, die mich beglücken sollen. Vor allem hält es nicht lange an. Nächste Woche sitze ich wieder hier und suche nach den schönen Momenten. Doch danach kommt die Traurigkeit noch stärker über mich und holt mich ein wie der Wind die Gräser und Halme am Weizenfeld.
Ich will nicht mehr den starken Familienvater vor Emilie und Jack mimen und mich verstellen. Mache ich das nicht schon jeden Tag auf der Bühne? Es kostet so viel Kraft und ich kann nicht mehr, will nicht mehr.
Vor mir liegt ein braunes Etui. Ich klappe es auf. Eine Spritze mit einer grünen Flüssigkeit liegt darin. Ich habe schon oft hier gesessen und mir die Spritze angeschaut. Doch benutzt habe ich sie noch nie. Erzähle den beiden doch einfach die Wahrheit und sie werden dich verstehen. Ja, vielleicht. Aber ich habe Angst davor. Mehr Angst als vor der durchsichtigen Flüssigkeit, die so harmlos aussieht und doch so grässlich zu mir sein wird. Sie werden es schon verstehen.
Wieder blicke ich in die leeren Augen, die eingefallenen Gesichtszüge. Ich würde gerne weinen, doch ich kann nicht. Ich denke an den Tag am See. Doch da ist kein Gefühl. Vermutlich habe ich niemals etwas für Emilie und Jack empfunden, sie gar nicht geliebt.
Ich greife nach der Spritze, wiege sie in meiner Hand. Sie fühlt sich leicht an. Dann strecke ich meinen Arm aus und suche nach einer Einstichstelle für die Nadel. Mir wird schwarz vor Augen, als die Nadel in meine Ader eindringt. Ich drücke die Spritze durch und die Flüssigkeit rauscht eisig in meinen Körper. Erst sehe ich nur ein Flackern, doch dann steigt ein schwarzer Nebel in mir auf und verschlingt mich. Dann sehe ich einen Sternenhimmel mit einem entfernten Planeten, der grün leuchtet.