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Der Friedhofs-Poet
Geoffrey Farnsworth nippte an seinem Tee. Mit halb geschlossenen Augen blickte er durch die langgezogenen Fenster des Souterrains. Nebel lag über den Straßen Londons und verschluckte das Klappern der Hufe, das Rumpeln der Räder. In einer Ecke des Frühstücksraumes bullerte ein Kachelofen. Das Scheppern von Geschirr in der Küche, die gedämpften Unterhaltungen, die Wärme, das leise Klirren der Tassen machten Geoffrey schläfrig, und er wünschte sich, er wäre noch etwas länger im Bett geblieben.
Johnson setzte sich zu ihm und Geoffrey schob sich die Morgenzeitung vor das Gesicht.
“Was macht die Wortkunst, Farnsworth?”
Geoffrey steckte seinen Kopf tiefer in das Blatt.
“Nicht sehr gesprächig, wie? Nebel müsste Sie doch dazu inspirieren.” Die Mundwinkel des Mannes zuckten, dann stand er auf und ließ sich an einem anderen Tisch nieder.
Dennis Johnson, ein Klatschreporter übelster Sorte, dessen Artikel einige Londoner zum Selbstmord getrieben hatten. Geoffrey fand, er sei gut beraten, diesem keinen Vorwand für eine Story zu liefern. Jeden Morgen trafen sie sich auf engem Raum, im Frühstückssaal der Albany Chambers am Piccadilly Circus, Residenz betuchter Junggesellen. Geoffrey war einer davon. Vor einem halben Jahr, am 24. Februar 1869, als er vierundzwanzig Jahre alt geworden war, hatte er seinen Ländereien den Rücken gekehrt. Schlank, hochgewachsen und dunkelhaarig, mit blassem Gesicht, melancholischem Blick, nachdenklich und grüblerisch, war er so gar nicht am rustikalen Leben auf dem Lande interessiert.
Er legte das Morgenblatt zur Seite, verließ das Haus und trat in den Nebel. Eine Pferdedroschke kam aus dem Dunst hervor und Geoffrey lief auf sie zu.
Athenaeum am Waterloo Place, Herrenclub, Bastion des Establishments, VIP-Lounge Viktorianischer Epoche. Ein Butler, Tische aus Teakholz, Zeitungen, ein großer Globus und Ledersessel. In einem ruhte Pommeroy.
“George, Port am frühen Morgen?”
“Lässt mich Nachrichten besser verdauen,” gab dieser zurück.
George Pommeroy, ein beleibter Hypochonder, dem der Portwein zu roter Nase und Tränensäcken verholfen hatte, machte sein Geld im Getreidehandel. Geoffrey setzte sich zu ihm. Nun, Hypochonder war auch er, waren sie wohl alle. Das neunzehnte Jahrhundert war aufregend, voller Umwälzungen, neuer Entdeckungen, Erkenntnisse und Widersprüche, von denen die Medizin nicht ausgenommen war.
“Diesem entsetzlichen Nebel werden meine Lungen nicht mehr lange standhalten.” Pommeroy hustete demonstrativ. “Und hier, seht her.” Er deutete auf die Überschrift der Times. “Liegt die Seele im Rückgrat? Frösche zuckten noch minutenlang, nachdem ihnen die Köpfe abgetrennt worden waren.”
Geoffrey zog indigniert die Augenbrauen hoch.
”Bedeutete dies, die Seele hielte das Rückgrat für einige Minuten mehr am Leben? Und was dann? Wäre das Rückgrat leblos, zuckte der geköpfte Frosch nicht mehr, müßte die Seele dann auch ohne Leben sein?”
Geoffrey lehnte sich in den Sessel zurück und starrte gegen die Decke.
“Die Seele ist unsterblich. Mehr als einmal habe ich das in meinen Gedichten ausgedrückt. Ich meine, wozu leben wir? Das hat doch nur dann Sinn, wenn ein Teil von uns nach dem Tod fortbestehen kann.”
Pommeroy richtete sich ächzend auf. Sein Doppelkinn wölbte sich über dem Vatermörder.
“Sagen Sie, Geoffrey. Abgesehen davon, dass Sie ständig über den Friedhof wandern. Wo bekommen Sie Ihre Ideen sonst noch her? Machen Sie es wie Wilkinson?”
“Wilkinson?”
“Er schlief mit einer eisernen Kugel in der Hand. Wenn er im Traum eine Idee hatte, zuckte seine Hand, die Kugel fiel zu Boden und weckte ihn auf. Er notierte seinen Gedanken, hob die Eisenkugel auf und ging wieder schlafen.”
Geoffrey lachte, “Der Eisenbaron aus dem vorigen Jahrhundert? Der mit den Eisensärgen?”
“Genau der,” erwiderte Pommeroy.
Geoffrey sagte nichts, dachte an Wilkinson, der eiserne Särge hatte herstellen lassen, drei für sich, den Rest für seine Freunde. Eine eiserne Kirche ließ er bauen und bezahlte seine Arbeiter mit Eisengeld.
Träume.
“Wahr ist,” meinte er, “Gedanken, die man träumt sind flüchtig, und ich träume so oft, träume mit Sträuchern, Bäumen, Steinen und Toten. Sie sind es, die mich inspirieren, mir zu Höhenflügen verhelfen, mehr als das Leben um mich herum. Dort, wo erst der Tod seine wirkliche Kraft entfaltet.”
“Es macht mich nervös, wenn Sie so reden, Geoffrey.” Pommeroy verzog das Gesicht.
“Mit Steinen träumen, harrumph.” Er trank sein Glas aus und erhob sich. “Ich träume nur v o n Sträuchern, Bäumen, Steinen und Toten. Unter anderem. Da sind wir wohl unterschiedlicher Natur. Obwohl, wie ist es, Geoffrey,” unterbrach er sich. “Haben Sträucher, Bäume auch eine Seele?” Auf dem Weg zum Garderobenständer drehte Pommeroy sich noch einmal um.
“Wissen Sie übrigens, dass sie in Frankreich Fieberkurven an den Fußenden der Betten angebracht haben? In den Krankenhäusern meine ich. Auch Atmung und Puls werden dort aufgezeichnet. Warum machen sie bei uns so etwas nicht? Man könnte den Verlauf seines Leidens verfolgen. - Und noch eines. Wann bekommen wir endlich Ihre Gedichte zu lesen?” Dann winkte er ab. “Reden wir ein anderes Mal darüber. Ich muss ins Geschäft. Viel Spaß auf Highgate.” Pommeroy ließ sich in den Mantel helfen und verschwand durch die Tür.
Ins Geschäft? Geoffrey zog die Augenbrauen hoch. Oder zu Fanny? Pommeroy hatte diesen Namen mehrere Male erwähnt, als sie beide dem Port zugesprochen hatten, und es war nicht der Name seiner Frau.
Der Mann nutzte die Gunst der Stunde und führte billigen Weizen aus Nordamerika ein. Die englische Landwirtschaft hatte an Bedeutung verloren, nachdem die Aussenzölle abgeschafft wurden. Sie litt darüber hinaus unter der Flucht der Landarbeiter in die Städte. Somit war auch Geoffrey davon betroffen. Geoffrey hatte seine Pachtzinsen nicht erhöhen können. Die Mechanisierung der Landwirtschaft erforderte erhebliche Investitionen. Sein Pächter war gezwungen gewesen Dampfpflüge anzuschaffen, um die Böden trotz der Landflucht bearbeiten zu können. Unterdessen verwandelten sich die Städte Englands in Kloaken, Höhlen des Lasters und Brutstätten der Cholera.
Geoffrey blätterte in der Zeitung, in der die üblichen entsetzlichen Dinge standen. Der Bericht von Lyron Playfair, Mitglied des Komitees zur Untersuchung der Lebensbedingungen in den Städten Englands, zeigte deren katastrophalen Zustand. Zu zehn Personen in einem Bett. Menschen bis zu den Knöcheln in Unrat und Abwässern. Hungerlöhne, um sich greifende Kinderprostitution, Inzest, Familien in Lumpen usw. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Industriearbeiters bei zweiundzwanzig Jahren.
Benommen legte Geoffrey das Blatt zur Seite. Wenn er nach Highgate auf den Friedhof fuhr, ließ er die Kutsche einen großen Bogen um diese Gebiete machen. Obwohl, das wusste auch er, dort spielte sich das normale Leben ab, das Leben des gemeinen Volkes. Im Geiste hörte er das Geschrei, spürte den Gestank, den Staub, sah die Armut von Arbeiterfamilien, lose Frauen, Betrunkene, das Gewimmel von Händlern und Trägern auf Fisch- und Gemüsemärkten. Geoffrey ahnte, dort würden Inspirationen ihn in neue Höhen tragen. War er zu empfindsam? Er zog die Abgeschiedenheit des Friedhofes vor und blieb sich treu. Er mied den Höllenpfuhl.
Der Portier ließ eine Droschke kommen, die Geoffrey nach Highgate brachte. Dort, auf einer Anhöhe, fernab von Gestank, Staub und Lärm, lag der Friedhof. Grabsteine, Mausoleen, Katakomben, Zeugen einer anderen Welt, Empfangshallen des Todes. Sie schienen Geoffrey wie Freunde. Gemessenen Schrittes durchmaß er von Gräbern umsäumte Wege, deren Grabsteine der Nebel nur widerwillig dem Auge preisgab. Vorbei an ihm unbekannten Toten näherte er sich dem Grab Elizabeth Siddals, um ihrer zu gedenken, dachte an das Gedicht, das ihr Christina Rossetti zum Abschied gewidmet hatte.
Pardon the fault in me
For the love of years ago
Good bye
I must drift across the sea
I must sink into the snow
I must die
Verzeih den Fehler in mir
die Liebe vor vielen Jahren
adieu
Ich muss über das Meer treiben
Ich muss in den Schnee versinken
Ich muss sterben
Geräusche von Schaufeln unterbrachen seine Gedanken, dann, als er näher kam, hörte er Gemurmel, und er sah eine kleine Gruppe dunkelgekleideter Personen, spukhaft vom Nebel umhüllt. Sie standen um das Grab der Siddal herum. Geoffrey erkannte Dante Rossetti, den Mann Elizabeths, dann William Grey, ein weiteres Mitglied der Bruderschaft der Pre Raphaeliten. Einer Gruppe von Malern und Poeten. Grey wandte sich um und ging auf Geoffrey zu.
“Du hast nichts gesehen,” raunte er. “Die Exhumierung Elizabeth ist genehmigt, doch sollte sie nicht publik werden.”
“Ihr habt Glück, dass ich nicht Dennis Johnson bin. Wozu das alles?”, wunderte sich Geoffrey.
“Es geht um die Poesie, die ihr Mann vor sieben Jahren mit in den Sarg gelegt hatte. Er hat seine dichterische Ader verloren und sein Literaturagent riet ihm, sich die Gedichte zurückzuholen.”
Geoffrey wunderte sich über die Monstruosität, die Ruhe der Frau zu stören. Er hätte nicht gedacht, das ein Poet wie Rossetti dazu fähig sei. Ihn überfiel der ängstliche Gedanke, sein Berufsstand sei mit einem gefährlichen Erreger kontaminiert, und er beschleunigte seine Schritte. Kein Wunder, dachte er, dass Elisabeth aus dem Leben geschieden war. Obwohl die Zeitungen seinerzeit schrieben, die Überdosis Laudanum sei ein fataler Irrtum gewesen.
Die kleine Putzmachergehilfin. Ihre sinnlichen Lippen, ihr verhangener Blick, ihr kastanienbraunes Haar, das ihr bis zur Taille reichte. Als Jüngling hatte er sie gesehen und verehrt. Geoffrey erschauderte, als er daran dachte, wie die Pre Raphaeliten sie als Modell ausgenutzt hatten. Später wurde sie Malerin und Poetin, doch ihr Gesundsheitzustand blieb prekär. John Everett Millais, wie hasste er diesen Mann! Für ihn und sein Bild Ophelia hatte sie tagelang im Wasser gelegen, das in seinem Treibhausstudio nur von einigen Kerzen erwärmt worden war. Danach machten ihr Tuberkulose und deren Folgen den Rest ihres kurzen Lebens zu schaffen.
Geoffrey schritt weiter aus. Immer, wenn er auf die Gräber schaute, auf Grabsteine unbekannter und berühmter Menschen, wurde er melancholisch ob der Vergänglichkeit des Lebens, und er hoffte nur, er habe Recht, wenn er behauptete, dass ihre Seelen weiter existierten. Ihm schien, er sehe sie, winzige Punkte, die sich nur im Nebel, der auf dem Friedhof lag, manifestierten und sonst den Augen von Sterblichen verborgen blieben.
Er musste seine Eindrücke zu Papier bringen. Procrastination is a thief of time, Aufschub ist ein Dieb der Zeit. Ein Satz von Edward Young, der ein Jahrhundert zuvor über die gleichen Wege gewandert war. Ein Satz aus seinem Zehntausendzeilen-Gedicht ‘The Complaint, or Night Thoughts on Life, Death, and Immortality’. Geoffrey hingegen hatte noch kein einziges Gedicht veröffentlicht. Procrastination is a thief of time. Er sollte es nicht mehr auf die lange Bank schieben.
Geoffrey legte seinen Kopf zurück und sah an einer Eiche hoch, die sich vor ihm in den Himmel reckte. Weiße Schwaden wanden sich wie Zuckerwatte um ihre Krone. Aus dem dichten Nebel kam ihm eine Frau entgegen. Geoffrey erblickte sie erst, als sie mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen vor ihm stand. Ihre Hände betasteten seinen Kopf. Sanft strich sie hinter sein linkes Ohr. Er war wie gelähmt. Ihr Mantel roch nach feuchten Blättern. Hatte sie den ganzen Vormittag auf dem Friedhof zugebracht? Sie trat einen Schritt zurück. Ein langer dunkler Rock unter dem Mantel bedeckte die Knöchel. Ihre Augen öffneten sich. Einen flüchtigen Moment verharrte ihr Blick auf seinem Gesicht.
“Nein, du bist es nicht,” hörte er, bevor sie sich von ihm abwandte, den Weg entlang ging, den er gekommen war. Geoffrey war verwirrt. Die Frau, ihr blasses, von roten Haaren umsäumtes Gesicht, ihre intensiven grünen Augen, sie schien nicht von dieser Welt. Er wandte sich um, sah ihr nach. Ihm war, als schwebte sie. Wie leichtfüßig schritt sie den Pfad entlang! Dann trat eine massige, dunkle Gestalt aus dem Nebel hervor. Geoffreys Atem stockte. Was machte Dennis Johnson hier? War er ihm gefolgt? Geoffrey sah, wie die Frau vor Johnson stehen blieb, ihre Arme ausstreckte und mit einer Hand über dessen Kopf fuhr, damit Johnson die Sicht auf Geoffrey versperrte. Der drehte sich um und lief davon, dann hielt er einen Augenblick inne um zu verschnaufen und ging schnellen Schrittes zum nächsten Ausgang.
Als er am nächsten Vormittag ins Athenaeum fuhr, drängte es ihn, Pommeroy von der Begegnung zu erzählen. Der wedelte mit einer Zeitung.
“In fünfzehn Tagen, mein Lieber. Was für eine Leistung.” Pommeroy deutete auf die Überschrift der Times.
“Was?” fragte Geoffrey und streckte seine Hand nach der Zeitung aus. “Am Donnerstag erreichte der Dampfer Britannia den Bostoner Hafen. Die Überfahrt von Europa dauerte fünfzehn Tage. – In der Tat, George, in was für einer hektischen Zeit leben wir doch.”
“Die meisten Passagiere kamen aus Irland.” Pommeroy nippte an seinem Portwein. “Schlimme Sache, die Kartoffelfäule. Und was hinzu kommt, sie haben keine Industrie.”
Geoffrey schenkte sich Tee ein. “Eigenartige Begegnung gestern in Highgate.”
Pommeroy sah Geoffrey fragend an.
“In der Nähe von Faradays Grab kam eine Frau auf mich zu, betastete meinen Kopf, vornehmlich hinter dem linken Ohr und sagte dann: ‘Du bist es nicht.’ Dann ging sie davon und machte das Gleiche mit Johnson, dem Klatschreporter, der mir anscheinend gefolgt war.” Geoffrey lachte verlegen. “Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.”
“Phrenologie, mein Lieber. Phrenologie. Sie macht die Leute verrückt.” Pommeroy lachte. “Ich verstehe nur nicht, warum sie auf dem Friedhof nach Liebhabern sucht.”
“Liebhaber?”
“Nicht im Bilde, was? Hat jemand einen Höcker hinter dem linken Ohr, heißt es, er sei ein großartiger Liebhaber.” Einen Augenblick sahen sie sich schweigend an.
“Vielleicht war die Frau zu bekannt, um an anderen Orten nach Liebhabern zu suchen.” Pommeroy runzelte die Stirn. “Oder sie hatte die Neigung, sich auf einem Friedhof der Liebe hinzugeben.” Er schüttelte den Kopf. “Kenne sich einer mit Frauen aus.”
Geoffrey betastete mit seiner Hand die Stelle hinter dem linken Ohr. “Da ist nichts,” meinte er resigniert, dann hellte sich sein Gesicht auf. “Hat es nicht auch seine Vorteile? Sie wird weiter suchen. Vielleicht sehe ich sie morgen wieder. George, Ihre grünen Augen, feuerroten Haare, ihr bleiches Gesicht wirkten so ätherisch, als habe sie eine Reise aus dem Jenseits zu uns unternommen.” Dann verdüsterte sich Geoffreys Gesicht. “Vielleicht hatte sie bei Johnson mehr Glück. Was machte der auf dem Friedhof?”
Pommeroy ging nicht darauf ein. Er blickte gelangweilt in seine Zeitung, dann sah er genauer hin.
“Interessante Zahlen dies. In London gibt es rund dreihunderttausend Häuser.”
Pommeroy stieß mit seinem dicken Zeigefinger auf den Artikel :” ’Etwa 100.000 Räderpaare und eine beträchtlich größere Anzahl von mit Eisen beschlagenen Pferdehufen, dazu zwei bis zehn Karren Pferdekot pro Straßenmeile plus den Ruß aus etwa 500.000 Schornsteinen.’
Dann schreiben sie: ‘Der dumpfe Stallgeruch von London, der Dreck an unseren Händen, in unserer Wäsche, an den Tapeten unserer Zimmer und in unserer Lunge legen ein beredtes Zeugnis über die Verschmutzung der Umwelt ab.’”
Pommeroy schüttelte seinen Kopf. “Das kann nicht gut für unsere Gesundheit sein. Und hier sitzen wir und unterhalten uns über Höcker auf dem Kopf.”
“Liegt wohl daran,” meinte Geoffrey, “weil wir nicht unmittelbar davon betroffen sind. Zumindest ich nicht. Auf Highgate duftet es nach Azaleen.”
Das Wartezimmer war überfüllt. Doktor Burns hatte nur am Vormittag Sprechstunde. Geoffrey quetschte sich zwischen einen Mann, der nach Schweiß roch und sein Gesicht fortwährend mit einem Taschentuch betupfte und eine Frau, die unablässig auf ihren anderen Nachbarn einredete. Dann sah er Dennis Johnson, der aus dem Sprechzimmer kam und durch den Ausgang verschwand.
Der Raum, in dem der Phrenologe praktizierte, war karg eingerichtet. Ein kleines Bücherregal mit den neuesten Werken von Gall, Spurzheim, Combe und Lundie. An der Wand hing eine Karte, auf der ein menschlicher Schädel mit seinen zerebralen Organen zu sehen war. Es gab einen Stuhl für den Patienten, einen Schreibtisch, auf dem ein paar Instrumente lagen, ein Foto stand und einen weiteren Stuhl, auf dem der Phrenologe saß. Er schien erregt, blätterte nervös in den Unterlagen, während Geoffrey Platz nahm.
Burns trug einen weißen Kittel, der sich über seinen Bauch spannte. Eine Nickelbrille klebte auf seinem teigigen Gesicht. Woher hatte er seinen Doktortitel? War er Arzt? Wenn nicht, was dann? Was hatte er vorher gemacht, bevor er in diese lukrative Nische gesprungen war? Astrologie? Wunderheilungen?
“Farnsworth, sagten Sie? Geoffrey Farnsworth?” Burns nahm ein leeres Blatt Papier und schrieb den Namen darauf, dann griff er nach einer geschwungenen Zange. Er kam um den Schreibtisch herum und setzte sie an Geoffreys Schädel.
“Ein Kraniometer. Jeder Schädel hat kaum wahrnehmbar knöchrige Erhebungen, die sich während der Entwicklung des Gehirns herangebildet haben. Je prominenter die Erhebung, desto ausgeprägter das zerebrale Organ, von denen der Mensch siebenundzwanzig besitzt.”
“Es kommen die seltsamsten Leute,” meinte er und fuhr fort, die Areale auf Geoffreys Schädel zu messen und die Ergebnisse auf das Blatt zu übertragen. “Die meisten von ihnen wollen wissen, wie es mit ihrem Zeugungstrieb bestellt sei, wo doch andere Eigenschaften gleichermaßen wichtig sind.”
“Zeugungstrieb. Ist das ein Knubbel hinter dem linken Ohr?” fragte Geoffrey. “So ist es,” erwiderte Burns und legte das Instrument zur Seite. Er nahm das Blatt, setzte sich an den Schreibtisch und übertrug die Resultate in ein dickes Buch.
“Wie sieht es aus?”, fragte Geoffrey.
“Sehen Sie,” meinte der Mann und gab Geoffrey das Papier. “Sinn für Geheimhaltung, Kinderliebe, Zahlensinn, Sinn für Gott und Religion, Beständigkeit, das sind Ihre herausragenden Eigenschaften. Zum Glück kein Mordinstinkt, aber auch kein ausgeprägter Zeugungstrieb.”
Das war nicht, was Geoffrey hören wollte. Er fragte zaghaft: “Ich weiß, er ist hinter dem linken Ohr, aber könnten Sie mir genau zeigen, wo der zu finden wäre?”
“Auf dem Mastoid-Areal.” Burns tippte mit einem Finger auf die Stelle.
“Und das Organ für Dichtergeist?”
“Nichts vorhanden, damit fangen Sie besser gar nicht erst an,” riet der Mann. “Setzen Sie auf Ihren Zahlensinn. Bei unserer hektischen Industrialisierung haben Buchhalter einen hohen Stellenwert.”
Geoffrey zahlte und ging zur Tür, dann wandte er sich noch einmal um.
“Ist Dennis Johnson auch einer Ihrer Patienten? Was für herausragende Eigenschaften haben Sie an dem entdeckt?”
Das Gesicht des Phrenologen verdüsterte sich, und er fing an, nervös in seinen Unterlagen zu blättern.
“Mr. Farnsworth. Das unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht. Auf Wiedersehen.”
Ihm stand nicht der Sinn nach Eingebungen und Inspirationen, nicht in diesen Tagen. Noch immer hing Nebel über dem Friedhof. Geoffrey dachte nicht an die Verstorbenen, an die Vergänglichkeit der Natur, den Transit der Seelen ins Jenseits. Seine Gedanken kreisten um die Frau mit den roten Haaren. Er durchstreifte den Friedhof, vermutete sie hinter jedem Baum, jedem Mausoleum, jedem Grabstein, doch er sah sie nicht. Auch Johnson hatte er nicht mehr auf Highgate gesehen, hatte ihn nur im Frühstücksraum der Albany Chambers zu Gesicht bekommen, wo er wiederholt mit seiner Hand hinter das rechte Ohr fuhr, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Wieso, fragte sich Geoffrey, hatte er sich nicht die Karte eingeprägt, die beim Phrenologen an der Wand hing?
Mehrere Tage hatte er aus der Deckung seiner Zeitung heraus beobachtet, wie Johnsons Umgänglichkeit einer nervösen Distanziertheit gewichen war.
Geoffrey wechselte von der Westseite zur Ostseite des Friedhofes. Von Büschen und Sträuchern umsäumte Wege, hinter denen Buchen, Zedern, Ahornbäume und Linden die Sicht zum Himmel versperrten, ein mit Grabsteinen besprenkelter Wald. Eine schwarze Katze ruhte sich auf einem Engel aus. Das Grau der steinernen, verwitterten Skulptur verschmolz mit dem Nebel. Geoffrey trat näher an das Tier heran, das keine Anstalten machte, sich von der Figur zu entfernen und - dann sah er die Frau mit den roten Haaren. Sie lag auf dem Boden, rot auch ihr Hals, von dem Blut, dass ihr aus der Kehle gelaufen war. Geoffrey stand mit bleichem Gesicht vor ihrem Leichnam. Ein Schnitt von Ohr zu Ohr. Das Blut war verkrustet. Wie lange hatte sie schon dort gelegen? Geoffrey machte sich auf den Weg zur nächsten Polizeiwache. Ihm schien, als habe er Blei in den Schuhen.
Pommeroy hielt ihm die Zeitung entgegen.
“Brutaler Mord auf Highgate. Haben Sie davon etwas mitbekommen?”
“Ich habe die Leiche gesehen. Es war die Frau, von der ich Ihnen erzählte.”
Geoffrey schenkte sich Tee ein. “Was sagt die Phrenologie zu einer Erhebung hinter dem rechten Ohr?”
“Mordlust und Würgesinn, so weit ich es in Erinnerung habe.”
Geoffrey überlegte einen Moment, dann fragte er: “George, würden Sie mir helfen?”
Ein paar Stunden später hatten sie sich in der Praxis des Phrenologen mit einem Nachschlüssel Einlass verschafft. Sie sagten kein Wort, als sie das Sprechzimmer betraten. Geoffrey ging um den Schreibtisch herum und griff nach dem dicken Buch mit den Eintragungen. Dann sah er das Foto auf dem Tisch und sagte: “Das ist die Frau von Highgate.”
Johnson hatte nach einigen Tagen seine Umgänglichkeit zurückgewonnen. Leutselig grüßte er jeden, wenn er den Frühstücksraum betrat und verschonte auch Geoffrey nicht, der diesmal seine Zeitung weg legte, als sich Johnson zu ihm setzte.
“Guten Morgen, Johnson. Was halten Sie von dem Mord auf Highgate?”
“Schlimme Sache. Farnsworth, kannten Sie die Frau?”
“Nein. Und so weit ich gehört habe, weiß niemand, wer sie war.”
Geoffrey beugte sich vor und raunte: “Ich habe auf Highgate jemanden getroffen, der den Mörder gesehen hat.”
“Wie?” Johnsons Gesicht wurde rot, dann wechselte seine Farbe in eine ungesunde Blässe. “Und die Person hat nichts über den Mörder erzählt?”
“Nein,” meinte Geoffrey. “Aber wenn es Sie interessiert, mache ich Sie mit ihr bekannt. Wäre das nicht eine Story für Sie?”
“Ich verstehe nicht. Wieso ist die Person nicht zur Polizei gegangen?”
“Sie war so verstört, wollte das Erlebnis verdrängen. Es hat mehrere Tage gedauert, bevor sie mir sagte, sie kenne den Mörder.”
Geoffrey sah ins Leere, als er sagte: “Johnson, seien Sie in zwei Tagen um drei Uhr Nachmittag am Grab Thomas Sayers. Dort wird eine Frau auf Sie warten.”
Der Platz war gut gewählt. Geoffrey hatte jedoch Mühe, den beleibten Pommeroy auf das Dach des benachbarten Mausoleums zu hieven. Von dort aus hatten sie eine gute Sicht auf das Grab Thomas Sayers, dem Teufelskerl von Faustkämpfer. Der letzte seiner Art, der seine Matches ohne Boxhandschuhe bestritten hatte. Vor seinem Grabstein war Lion in Stein verewigt. Lion, sein Hund, der tagelang dort getrauert hatte, wo er begraben lag.
Eine Frau näherte sich dem Ort.
“Fanny,” murmelte Pommeroy. “Ich muss nach unten. Von hier aus kann ich sie nicht beschützen.”
Sie trug einen dunklen Umhang über geblümtem Kleid, schien so jung und Geoffrey fragte sich, was Fanny und Pommeroy zusammen gebracht hatte.
“Bleiben Sie da,” raunte er. “Dafür ist es jetzt zu spät. Ich klettere hinab und verstecke mich.”
Geoffrey ließ sich auf der Rückseite des Mausoleums nach unten gleiten. Als er vorsichtig zum Grab sah, erkannte er Johnson, der aus dem Nebel hervorkam und an die Frau herantrat.
Geoffrey stand der Schweiß auf der Stirn. Wenn Johnson der Mörder war, dann musste er jetzt handeln. Doch irgend etwas hielt ihn zurück. Er sah, wie die Frau und Johnson aufeinander einredeten. Johnson ergriff ihren Arm, wollte sie wegzerren. Hinter ihnen tauchte eine Gestalt aus dem Nebel auf. Das Gesicht war durch eine Kapuze verdeckt. Sie hielt ein Messer in ihrer Hand. Geoffrey erstarrte, wollte rufen. Er bekam kein Wort heraus. Er hörte nur einen dumpfen Laut, als der Mörder unter dem massigen Körper Pommeroys begraben wurde. Er gab kein Lebenszeichen von sich. Fanny beugte sich schluchzend zu dem stöhnenden Pommeroy hinab. Stockend kamen die Worte aus seinem Mund. “Ich konnte nicht anders, Fanny. Du bist mir mehr wert als aller Weizen auf der Welt.”
Poesie hält Einzug in die seltsamsten Tempel, dachte Geoffrey gerührt.
“Fanny, laufen Sie! Rufen Sie die Polizei und Ambulanz!”
Geoffrey und Johnson drehten Pommeroy auf den Rücken. Johnson nahm der vermummten Gestalt das Messer aus der Hand und zog ihr die Kapuze vom Kopf.
“Der Phrenologe!,” ächzte Geoffrey. “Ich hätte es mir denken sollen!”
“Wie konnte ich nur!”, murmelte Johnson. “War ich es doch, der Burns von der Frau mit den roten Haaren erzählt hatte. Ich war ihm so dankbar; denn nachdem sie mit der Hand die Stelle hinter meinem linken Ohr betastet hatte, zerrte sie mich ins nächste Mausoleum.”
“Das war meine Frau,” stöhnte der Phrenologe. “Warum haben Sie sie bei Ihrem ausgeprägten Mord- und Würgesinn nicht umgebracht?”
“Der Mann glaubt an das, was er praktiziert.” Johnson hielt Burns am Boden, sah Geoffrey an und schüttelte den Kopf. “Und dann habe ich dem Menschen von diesem Treffen erzählt.”
Geoffrey sah, wie Pommeroy sich aufzurichten versuchte und wieder auf den Boden zurückfiel. Ein Teufelskerl, dachte Geoffrey. Sich vom Dach des Mausoleums auf Burns fallen zu lassen. In dem Moment musste er seine Ängste verdrängt haben. Das hatte Geoffrey ihm nicht zugetraut. Und der Reporter?
“Johnson. Eine Zeitlang glaubte ich, Sie seien der Mörder, Sie seien von dem überzeugt gewesen, was Burns Ihnen gesagt hatte und wollten es in die Tat umsetzen.”
Polizisten und Sanitäter kamen aus dem Nebel hervor.
“Doch nachdem wir das Foto der ermordeten Frau auf Burns Schreibtisch gesehen hatten, war ich mir nicht mehr so sicher.”
Einige Tage darauf ging Geoffrey wieder über den Friedhof. Der Nebel war verschwunden. Rauch und Gestank hing über London.
Pommeroy war wieder auf den Beinen. Im Club hatte er Geoffrey erzählt, dass er sich von seiner Frau scheiden lassen würde. In dem schrecklichen Moment im Park war ihm klar geworden, wie sehr er Fanny liebte.
“Ist es nicht wunderschön hier?”, zirpte eine junge Frauenstimme. Grüne Augen strahlten Geoffrey an. Die roten Haare der Frau fielen in Locken auf den dunklen Mantel. Ein langer Rock ließ die Zartheit ihrer Fesseln erahnen.
Hoffentlich streicht sie mir nicht über den Kopf, dachte Geoffrey, lud sie zu einem Spaziergang ein und trug ihr eines seiner Gedichte vor.