Der Fremde
Er war hager und schmächtig, trug auf Wangen und Kinn schmutzige Schatten eines Stoppelbarts und schien uninteressiert an seiner Umgebung.
Der fremde Mann lief ziellos und wankend die Straße entlang, unwissend, wo er diese Nacht würde schlafen können.
An jenem Abend war die Luft so bitterkalt, dass er seine Finger schon seit Stunden nicht mehr spürte.
Und auch die abgenutzten Handschuhe boten keinen Schutz vor dieser erbarmungslosen Kälte.
Die Müdigkeit in seinen halb erfroreren Gliedern schmerzte und zwang ihn, seine Schritte zu verlangsamen.
Als er sich schon sicher war, diese Nacht nicht zu überleben, blendeten ihn plötzlich zwei grelle Scheinwerfer.
Das vorbeifahrende Auto wurde erst langsamer, dann drehte es auf der vereisten und spiegelglatten Straße um und hielt neben unserem Fremden.
Weiche Schneeflocken fielen gleichmäßig vom Himmel und legten sich wie eine Decke über Häuser und Autos.
"Ganz schön kalt heut Nacht, nicht wahr?"
Das Fenster des Wagens war nur wenige Zentimeter heruntergelassen, die Stimme aus dem Dunklen klang wie die eines gutherzigen Menschens.
"Ja, sehr.
Hätten Sie vielleicht etwas Geld mein Herr, nur so viel, dass ich heute Nacht nicht auf der Straße schlafen muss?
Das wäre mein sicherer Tod!"
Der Mann öffnete die Beifahrertür aus dem Inneren heraus und gab dem Bettler zu verstehen, einzusteigen.
Ohne zu zögern tat er dies.
Das ungute Gefühl schluckte er runter, zu groß die Sehnsucht nach Wärme und einem weichen Untergrund.
Etliche Nächte auf harten Parkbänken forderten ihren Tribut.
Schmerz war schon ewig sein treuerster Begleiter.
Wortlos setzte der Fahrer den schweren Geländewagen in Bewegung.
"Danke, wirklich,vielen Dank.
Ich heiße übrigens Emil, und Sie?"
Eine Antwort blieb aus.
"Verraten Sie mir, wohin wir fahren?"
Der Wagen bog in eine Seitenstraße und beschleunigte stark.
Emils Angst vor dem Ungewissen stahl ihm die Stimme, ließ kein weiteres Wort zu.
Hin und wieder schaute er unauffällig zu seinem stillen Mitfahrer herüber, doch der starrte geradezu apathisch nach vorn.
Die unebene Straße, auf der sie fuhren, wurde immer schmaler, sodass der schwere SUV die gesamte Fahrbahn auszufüllen schien.
"Warum sagen Sie mir nicht, wohin wir fahren?" presste er dann doch heraus.
Als Emil schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete, brach der unheimliche Mann mit einem mal sein Schweigen.
"Sie sagten, es wäre ihr sicherer Tod, sollten Sie auf der Straße schlafen müssen."
Emil nickte misstrauisch.
"Ja, das sagte ich."
"Welche Rolle spielt es dann, wohin wir fahren?"
Damit war das Gespräch beendet und der Fahrer hüllte sich wieder in Schweigen.
Sie fuhren noch eine Ewigkeit so weiter, doch Emils Finger blieben kalt, als käme die wärmende Luft der Heizung nicht an sie heran.
Als der Wagen endlich zum stehen kam, signalisierte er ihm, auszusteigen Vor ihnen stand ein verlassenes, vergessenes Haus, getarnt und umhüllt von riesigen Buchen.
"Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen wo Sie schlafen können."
Das Innere des Hauses spiegelte das Äußere auf genauste Weise wieder.
Kalt, feucht, dreckig.
Jede Parkbank wäre Emil zu diesem Zeitpunkt lieber gewesen, als auch nur eine Nacht in diesem Haus zu verbringen.
Doch nicht wegen des Gestanks oder den düsteren, vereinsamten Zlmmern.
Der Grund war einzig allein dieser Mann.
Er strahlte etwas Sonderbares aus.
Eine stumme, angsteinflößende Gestalt, die neben ihm stand und wortlos auf eines der vielen Zimmer zusteuerte.
"Hier."
Er deutete auf eine Tür am Ende des Ganges.
"Schlaf. Decken liegen in der großen Kommode am Bettende."
Daraufhin ging er langsamen Schrittes an Emil vorbei, wartete, bis dieser ins Zimmer getreten war und verließ kurz darauf das Haus.
Emil zwang sich, alle Hilfeschreie, die in seinem Kopf Alarm schlugen, auszublenden.
Ganz gleich wie es hier aussah, wonach es roch und wer vor ihm in diesem abgewetzten Bett geschlafen hatte.
Es war ein BETT!
Und auch die Decken befanden sich am versprochenen Platz.
Ein Bett und eine Decke, zwei Dinge, die für ihn sonst ferner waren als die Sterne am Himmel, standen nun vor ihm.
Da fragt man nicht wieso.
Er zog sich bis auf die Unterhose aus, schmiss seine Klamotten über die kaputte Heizung, nahm so viele Decken wie er tragen konnte und schlief in dieser Nacht einfach phantastisch.
Sogar Träume besuchten ihn und ließen ihn eine Weile das echte Leben vergessen.
Als er am Morgen erwachte, spürte er eine längst verloren geglaubte Energie in seinen Knochen.
Selbst seine Finger hatten wieder ihr gesundes grau angenommen.
Gerade als er im Begriff war sich anzuziehen und schnellstens zu verschwinden, hörte er von draußen Motorengeräusche.
Hastig zog er sich Hose und Pullover an, stieg in die zu kleinen Schuhe und warf sich die verdreckte Jacke über.
"Du willst schon gehen?"
Der Unbekannte stand im Türrahmen und blickte Emil finster an.
"Ja, es war wirklich freundlich von Ihnen, mir zu helfen, aber ich möchte Ihnen keine weiteren Umstände bereiten."
Er schluckte hart und spürte, wie sich ein dünner Schweissfilm auf seiner Stirn bildete, während er auf die Antwort des Hausherren wartete.
Nach einer Ewigkeit ohne Regung seines Gegenübers, schüttelte dieser plötzlich enttäuscht sein Haupt und trat einen Schritt in das Zimmer, aus dem Emil gerade hatte fliehen wollen.
"Ich rette dir dein Leben und das ist dein Dank?
So behandelst du einen Menschen, der dich vorm sicheren Tod bewahrt hat?"
Er begann stotternd einen Satz ohne ihn zu beenden und schaute verlegen auf den Boden, wie ein kleiner Junge, der böse war.
"Sie haben recht, es tut mir leid" lauteten die ersten klare Worte aus seinem Mund, ohne den Blick zu heben.
"Hör auf mich zu siezen, du warst Gast in meinem Haus, jetzt sind wir Freunde.
So läuft das bei mir.
Hast du Hunger?"
Emil verstand die Welt nicht mehr, nur war das nicht erst seit gestern so.
Und natürlich hatte er Hunger, vielleicht mehr als jeder andere in dieser Stadt,aber wollte er wirklich noch tiefer in der Schuld seines unverhofften Freundes stehen?
"Hier, nimm."
Aus seiner Tasche zog er ein in Papietücher eingewickeltes Toastbrot mit Schinken und Salami.
Emil griff danach, während sein Magen fürchterlich zu knurren begann.
"Ich hab noch etwas Wasser im Auto,warte hier, ich hol's."
Gierig aß er sein Frühstück und das herrliche Gefühl,etwas im Magen zu haben, drängte das Misstrauen und die Sorge in weite Ferne.
Das kühle Wasser spülte die Reste aus Zähnen und Zahnfleisch, eigentlich konnte es ihm nicht besser gehen.
Eigentlich.
"Ich weiß nicht, wie ich Ihnen gebührend danken kann.
Ich bin mittellos und werde auf ewig in Ihrer Schuld stehen.
Gott schütze Sie."
Der Schweigsame nickte zustimmend und verließ kurz darauf den Raum, als wäre das Gespräch beendet.
"Warten Sie."
Emil warf die leere Plastikflasche auf's fremde Bett und eilte ihm nach.
Als sein Helfer schon fast an der Haustür stand, drehte er sich unvermittelt um und starrte Emil an.
"Was?"
Seine Stimme klang tief und bedrohlich.
"Darf ich einfach gehen?"
Der starre Blick wich Verwunderung.
"Natürlich, oder fühlt es sich an als wärst du eingesperrt?"
Emil dachte nach.
"Nein, eigentlich nicht."
"Na siehst du, du kannst gehen wohin es dir beliebt.
Hast du denn einen Platz, an dem du zu Hause bist oder dich so fühlst als ob?"
Er schüttelte beschämt den Kopf.
"Bleib' solange du möchtest.
Freunde helfen einander, ist es nicht so?"
"Freunde?!" dachte Emil, ohne es tatsächlich auszusprechen.
Er sah aus dem Fenster, noch immer fielen dicke Eisflocken auf die Erde und machten es sich gemütlich.
Eigentlich wollte er nicht wieder raus, die letzte Nacht tat so unheimlich gut.
Die weiche Matratze unter, die wärmenden Decken über ihm, darauf ließ sich nur schwer verzichten.
Und auf einmal wandelten sich die dunklen Gedanken in helle.
"Vielleicht habe ich einfach Glück und ein Fremder hilft aus reiner Nächstenliebe?
Warum sollte ich dieses Geschenk nicht annehmen?
Darf mir nicht auch Gutes widerfahren?"
"Also, Emil, erweist du mir die Ehre und bist mein Gast, oder muss ich dich dazu zwingen?"
Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete der hünenhafte Mann die Haustür und trat nach draußen.
Am folgenden Tag tauchte er erneut auf, diesmal mit Bargeld.
"Kauf dir davon essen, neue Kleidung.
Geh zum Friseur, besorg dir Hygieneartikel, ich denke du weißt wie es weitergeht.
Richte dich hier ein, sofern du vorhast zu Bleiben."
"Ich weiß nicht wie ich Ihnen..."
"Danken kann, ja ich weiß, vergiss das endlich.
Nutze es als neue Chance."
Emil fehlten wieder die Worte.
Diese unheimliche, sonderbare Gestalt entpuppte sich als eine Art Engel, die ihm anscheinend tatsächlich helfen wollte.
Aber woher zum Teufel kam dieses Gefühl,hier schnellstens verschwinden zu müssen?
Dieser Besuch sollte sein letzter für lange Zeit gewesen sein.
In den anschließenden Tagen tat Emil wie ihm befahl.
Er kleidete sich neu ein, ließ sich die langen, verkletteten Haare schneiden und begann, sich in dem fremden Haus einzurichten.
Wohlzufühlen.
Ein längst vergessenes Empfinden.
Sein Leben hatte eine so plötzliche und unverhoffte Wendung genommen, dass er sich nicht sicher war, ob das alles wirklich passierte.
So vergingen Monate im Ungewissen, schöne Monate, in denen sich der Fremde nur hin und wieder blicken ließ, um die Bargeldreserven aufzufrischen.
Doch all das nahm ein jähes Ende, als der Schweigsame eines Tages plötzlich blieb.
Er kam ohne Geld und erklärte Emil,sie hätten sich zu unterhalten.
"Wie viel schuldest du mir?"
Emil war nicht überrascht, ganz und gar nicht, es wäre nur zu schön gewesen um wahr zu sein.
Deshalb war er enttäuscht, aber nicht überrascht.
"Ich schulde Ihnen mehr als ich in meinem ganzen Leben besessen habe und ich fürchte es niemals zurückzahlen zu können."
"Ich spreche nicht von Geld" erwiderte der Schweigsame.
"Wovon denn dann?"
Nun war er doch überrascht.
"Wie viel schuldest du mir insgesamt, deiner Meinung nach?"
Emil verstand kein Wort.
Der Hausherr bemerkte dies und wurde präziser.
"Ich spreche von einem Gefallen."
Emil trat einen unbewussten Schritt zurück.
"Gefallen?"
Der Schweigsame nickte und stellte die alte Distanz zwischen ihnen wieder her.
"Genau, mein lieber Freund, einen Gefallen."
Das Bedrohliche in seinen Augen wuchs sekündlich, diesem Mann war alles zuzutrauen.
"Der Gefallen ist groß,dessen bin ich mir bewusst.
Ich möchte,dass du mir dabei hilfst einen Mord zu begehen."
Seine Worte ließen Emil nicht einmal zucken,er rechnete schon lange damit,dass etwas Schlimmes passieren würde.
Nun war es soweit.
"Ich weiß, dass das viel verlangt ist,aber es steckt weniger dahinter als man zunächst annehmen würde.
Ich persönlich, und das werde ich auch jedem sagen, SOLLTEN wir beziehungsweise ich erwischt werden, bin dafür verantwortlich und du wusstest nur von einem Sack, den wir von A nach B transportieren.
Das ist alles.
Und mehr wirst du, mein lieber Freund, auch gar nicht tun."
Emils Gedanken zerfetzten in hunderte Teile, eine Antwort darauf zu geben schien unmöglich.
"Emil, du weißt nicht wer ich bin, somit wird es noch schwerer sein uns beide in Verbindung zu bringen.
Zwei Fahrten.
Den Rest erledige ich.
Du kannst doch fahren, oder?"
Emil nickte kaum merklich.
"Ist das ein Ja?
Ich nämlich nicht.
Na dann hilf mir dabei und danach kannst du das Haus behalten, und ich gebe dir weiter Geld, bis du deine schlimme Lage, aus der ich dich befreit habe, hinter dir lassen kannst.
Ist das ein so unfaires Angebot?"
Emil wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen.
"Ich habe dein Leben gerettet, jetzt rette du meins.
Ich könnte dir plausible Gründe nennen, aber umso weniger du weißt, desto besser."
"Nenn mir die Gründe, dann entscheide ich."
Der Fremde nickte zufrieden.
"Also hilfst du mir?"
"Was für Gründe?"
"Meine Frau hat mich betrogen, mehrmals, so oft, dass ich wünschte, ich hätte schon eher den Mut gehabt das zu tun.
Sie hat nicht einmal versucht es vor mir geheim zu halten, weil sie wusste, wie sehr ich sie liebe.
Und das tat ich.
Und ich hab viel verziehen, aber das ist vorbei."
Er räusperte sich lange.
"Also, hilfst du mir?"
Emil stellte sich so aufrecht hin wie möglich.
"Und was ist, wenn ich Nein sage?"
"Dann geh und ich werde es alleine versuchen,wie, ist eine andere Frage.
Bei dir kann ich mir sicher sein, dass du schweigen wirst.
Du schuldest mir wirklich etwas."
Damit hatte er recht, es stimmte, dass er ihm viel zu verdanken hatte.
Aber soviel?
Wenige Stunden später saß Emil hinter dem Steuer einer dunklen Limousine und fuhr in eine ihm unbekannte Richtung.
Die Fahrt schien endlos.
Dann ergriff der Mörder das Wort.
"Halt hier an, gib mir 40 Minuten.
Danach fahren wir zurück, holen ein paar Sachen und verstecken die Leiche dort, wo nie jemand suchen wird.
"Und das wäre wo?" fragte Emil.
"Überlass das mir."
Er stieg langsam aus dem Wagen und sah sich um.
"Bin gleich wieder da."
Die Stille im Auto war unheimlich, jedes kleine Geräusch ließ Emil zusammenzucken, er erwartete in jedem Moment festgenommen zu werden.
Als der Kofferraum aufging, bretterte das Herz in seiner Brust wie nie zuvor.
"Fahr los, schnell.
Die Fahrt zurück war lächerlich simpel, es gab keine Verfolgungsjagden, keine Polizisten, die Kontrollen durchführten oder andere Probleme, die er wartend im Auto wieder und wieder durchgespielt hatte.
Sie fuhren zurück zu seinem neugewonnenen Haus und parkten in der Einfahrt, als kämen sie vom Einkaufen.
"Und was jetzt?" wollte Emil wissen, als sie eine Weile kommentarlos standen.
"Ich steige kurz aus und hol ein paar Sachen.
Im Keller liegen noch ein paar Dinge, die ich mitnehmen will.
Danach fahren wir zusammen an den Ort, den ich vorgesehen habe und wir gehen getrennte Wege."
Emil nickte, nicht sicher, was er denken sollte.
Kurz danach verschwand der Fremde in der Dunkelheit.
Die Finger fest am Lenkrad, wartete er nun auf die Wiederkehr des Beifahrers.
Dann ging alles ganz schnell.
Der fremde Mann riss überraschend die Fahrertür auf, zog Emil heraus und presste ihm ein feuchtes Tuch auf den Mund.
Wenig später wurde es noch schwärzer als die Dunkelheit selbst.
Als Emil am frühen Morgen erwachte, lag er nur in Unterhosen bekleidet in seinem Bett, als hätte es die letzte Nacht nicht gegeben.
Ein lautes Hämmern riss ihn aus dem Schlaf.
Fußtritte.
Stimmen.
Schreie.
"Keine Bewegung, Hände sofort auf die Decke legen.
ICH WILL IHRE HÄNDE SEHEN!"
Emils Augen klebten aneinander, nur langsam bekam er sie so weit geöffnet, das er sehen konnte.
Eine Gruppe bewaffneter, uniformierter Männer stand in seinem Zimmer und zielte auf ihn.
Dann ging die Tür auf.
"Wir haben das Opfer gefunden.
Sie liegt tot in der Badewanne."
Emils Gesicht wurde weiß, wie Schnee.
"Wohnen Sie in diesem Haus?"