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Der Freie Fall

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09.11.2013
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Der Freie Fall

Im Freien Fall fallen zwei Körper mit der exakt gleichen Geschwindigkeit und Beschleunigung. Sie fallen und werden immer schneller. In der Natur - auf unserer Welt - gibt es den Freien Fall nicht. Wenn es ihn gibt, so ist er nur ein Versuchsaufbau, nicht natürlich, nur eine wissenschaftliche Spielerei. Es braucht ein Vakuum, ein Nichts; die Beschleunigung hört dann nie auf. Dann wirst du immer schneller und nichts bremst dich. Alles ist gleich im Nichts. Das gilt auch für menschliche Körper. Erst mal aus der Ruhelage losgelassen, geht’s abwärts, immer schneller, 9,8 Meter pro Quadratsekunde. Luft ist das einzige, was der ewigen Beschleunigung entgegenwirkt. Wir brauchen sie zum Leben, aber sie bremst uns. Das ist der Reale Fall; so nennt man das auf unserer Welt.

Die Höchstgeschwindigkeit des menschlichen Körpers beträgt 200 km/h im Realen Fall. Wenn Du dich streckst, Kopf voran, dann gehen auch 500 km/h. Nach ziemlich exakt 157,31 Metern erreicht der durchschnittliche menschliche Körper seine maximale Fallgeschwindigkeit. Egal ob Realer oder Freier Fall, in einem sind sich beide gleich: Es zieht dich runter, solange bis Du aufschlägst. Die Dichte von Beton beträgt ca. 2 g/cm³, die Dichte eines durchschnittlichen Menschen etwas über 1 g/cm³. 200 km/h, das ist verdammt schnell und ich, ich bin verdammt durchschnittlich. Das sieht sie, denn sie schaut mich an, sieht mir direkt in die Augen.

„Wie hoch ist der eigentlich, der Kölner Dom?“
„157,31 Meter der Südturm“, sage ich.
„Interessant“, sagt sie.

Wir haben uns auf einer Internetseite gefunden. So ein Forum. Ich habe von meinen Narben erzählt, von diesem Drang die Welt zu spüren. Sie hat mich verstanden.

„Was machst ’n für ’n Gesicht?“, fragt sie.
„Nix.“

Ich schaue runter zu den menschlichen Schildläusen, mit ihren teuren Handys, ihren schicken Markenklamotten und wichtigen Jobs, wie sie betulich auf der Domplatte Vater-Mutter-Kind spielen und nicht checken, dass ich hier oben sitze; hier oben auf ’m Dom – mit ihr.

Ich: „Krass, dass wir das hier jetzt gemeinsam durchziehen.“
Sie: „Ja. Scheiße. Echt fett, oder? Was die da unten wohl dazu sagen?“ Sie spuckt runter.

Ich zucke mit den Schultern. Im Hintergrund schleppt sich der Rhein an der Nacht entlang. Sterne sehe ich keine, die Stadt überstrahlt mich. Das hier war ihr Einfall. Wird ein riesen Rummel geben, hat sie gesagt. Dann müssen sie endlich hinschauen; uns sehen. Am Anfang dachte ich: Super Idee, vielleicht die beste. Doch jetzt, wo wir hier oben stehen, weiß ich nichts mit mir anzufangen.

„Du ziehst das aber schon durch. Oder?“, fordert sie mich heraus.
„Klar. Haben wir doch gesagt“, beschwichtige ich.
„Ich will ‘s hoffen. Ich bin nicht den ganzen Weg aus meinem Dreckskaff hierhergekommen, dass Du jetzt irgendwie den Moralischen kriegst.“ Sie grinst.
„Nee, alles gut.“ Ich versuche zu grinsen, meine Lippen kleben an den Zähnen.
„Komm, weiter!“, feixt sie. „Ich scheiß mir sonst gleich in die Hose. Und ich will nicht die sein, die den Schwanz einzieht.“ Sie hat Recht. Ich nicke.
„Können wir das nicht von hier machen?“
„Nee, wenn, dann von ganz oben.“ Sie schaut mich an, sieht mir direkt in die Augen.

Sie ist schön. Ich schaue weg, hoch zum Turm; 157,31 Meter. Auf die Aussichtsplatte sind wir über die Treppe gekommen, haben uns reingeschlichen und versteckt, versteckt bis all die Kulturgaffer weg waren, bis abgeschlossen war. Reden konnten wir nicht. Angeschaut haben wir uns die ganze Zeit. Um jetzt auf den Turm hoch zu kommen, müssen wir außen hochklettern; an den Zinnen, die herausragen. Eine nach der anderen. Sie geht vor. Ich schaue ihr nach.

„Alter, kommst du?“ Ich folge.

Wenn uns jetzt einer sieht, ist alles aus. Polizei, Feuerwehr, Scheiße. Es ist dunkel. Ich klettere weiter. Der Wind reißt an mir. Fast verliere ich den Halt. Meine Beine kleben steif an der Turmwand. Meine Hände spannen über dem eisigen Trachyt. Warum muss es vor Weihnachten immer so kalt sein. Ich schwitze. Fucking Fest. Alle machen auf Familie. In meinem Kopf ist Vakuum. Unter mir Beton. Mit der Angst verhält es sich wie mit der Luft.

„Bleib mir bloß nicht kleben.“ Sie streckt mir die Hand entgegen.
„Mann, entspann dich, atme“, raunzt sie mich ruhig an. „Dafür biste doch hier hochgekommen.“ Sie hat Recht. Über ihr leuchten vereinzelt Sterne.

Wenn du dich verstiegen hast, brauchst du jemanden, der dir sagt, wo du dich hinstrecken musst. Sie greift meine Hand und zieht mich nach oben. Unter uns liegt die Stadt.

„Ist das nicht fett?“ Sie grinst. Ihre oberen Schneidezähne stehen leicht nach innen, wie Schmetterlingsflügel. Seltsam, dass mir das jetzt auffällt. Scheiße, ich glotze sie an. Sie checkt es.

„Was?“, provoziert sie.
„Nix“, stammele ich.
„Vor was hast Du Angst?“
„Ich weiß nicht. Eigentlich davor, dass ich die Kontrolle verliere und springe“, überlege ich.
„Du hast Angst, dass Du springst?“
„Ja.“
„Bescheuert.“
„Ja“, sage ich.

Sie schaut mich an, sieht mir direkt in die Augen.

Luftleerer Raum.

„Du bist echt was krass Besonderes“, sagt sie und küsst mich.

Schmetterlingszähne.
Spuke.
Freier Fall.

„Komm, lass das Foto machen und dann runter hier“, lächelt sie.

Ich nehme die Kamera aus meinem Windbreaker. Wir halten uns an dem kalten Kreuz fest, lehnen uns nach hinten und mit ausgestrecktem Arm mache ich ein Foto. Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange. Millionen „Klicks“ und „Likes“ wird es uns endlich bringen. Doch gerade interessiert mich das nicht mehr. Sie streckt sich nach hinten.

„Ist das Leben nicht geil? … Ja, Mann, das Leben ist geil!“, lacht sie raus.

Ich stehe hier oben mit diesem unglaublichen Mädchen, blicke hinunter auf all die Menschen, den ruhig fließenden Rhein, spüre die Welt und denke: Ja, sie hat Recht.

 
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Servus Elias,

deine Geschichte ist pfiffig, charmant, liebenswert.
Sofern man an ihr Ende gelangt.

Klar, du führst den Leser auf eine falsche Fährte, spielst mit seiner Erwartungshaltung, und natürlich hab auch ich mir am Beginn gedacht: „Scheiße, nein, bitte nicht schon wieder ein Suizidtext von einem Debütanten.“ Sobald mich nämlich dieser Verdacht beschleicht, lass ich das Weiterlesen in aller Regel bleiben, also da müsste schon was ganz Außergewöhnliches am Text sein, dass ich dranbliebe.
Aber bei deiner Geschichte musste ich einfach weiterlesen, weil du deine Falle wirklich sehr geschickt und lesenswert konstruiert hast.
Der lässige Jargon lässt die zwei Jugendlichen ungemein sympathisch wirken, man mag die beiden einfach und denkt sich: "Heilige Scheiße, ihr zwei kleinen Idioten! Macht um Himmels Willen nicht so einen Blödsinn. Schaut euch doch einfach mal um: die glitzernde nächtliche Stadt unter euch, das Wunder der Welt, das Mysterium des Lebens! Herrgott, ihr macht gerade eine Free Solo-Begehung des Kölner Doms! Ist das etwa nichts? Schon alleine das lohnt das Weiterleben, wer soll’s denn sonst euren Enkeln erzählen?"
Im Wissen darum, dass sowas ja tatsächlich immer wieder mal vorkommt, also dass sich verzweifelte Teenager im Virtual Life verabreden um sich im Real Life dann irgendwo in echt runterzuhauen oder solange gemeinsam die Luft anzuhalten, bis sie tot sind, liest sich dein Text natürlich umso beklemmender. Na ja, und dann kommt halt im letzten Augenblick der Twist zum Happy End. Überraschend und für mich nicht wirklich vorhersehbar. Sehr geschickt, vielleicht nicht gerade so genial, wie die Erfindung der Zwölfzacken-Steigeisen, aber allemal ein Schluss, der mich tief durchatmen und dann befreit grinsen ließ. (Wobei man beim Klettern natürlich nur dann von Erfolg sprechen kann, wenn man auch lebend wieder runterkommt ...)

Ja, Elias, mir hat deine Geschichte gefallen und die macht mich neugierig auf weitere Sachen von dir.

offshore

PS
Ich weiß übrigens wovon ich rede, weil eines der eindrücklichsten Erlebnisse meiner Jugend eine nächtliche Begehung der Westwand des Campanile Santa Maria Assunta auf Torcello war. Mit einem anschließenden unpackbaren Rundblick auf die venezianische Lagune. War einfach geil.

 

Hallo Ernst,

vielen Dank für dein freundliches Feedback.


E.

 

Danke für deine Kritik morlou. Natürlich ist die Wahrnehmung eines Textes immer persönlich geprägt. Brauchst dich deshalb nicht erklären, bin ja dankbar für die Meinungen, kann ja nicht in die Köpfe der Leute schauen.

Der Anfang ist gedacht als Allegorie für das Leben, so wie der Junge die Welt sieht. Es ist bewusst kantig und distanziert und soll ein Gefühl für die schwere Zugänglichkeit zu ihm vermitteln und auch ein Stück neugierig machen. So nach dem Motto: Was labert der und vor allem wer und wo soll das hinführen. Vielleicht bin ich da auch etwas über das Ziel hinausgeschossen. Ich versuche hier schon Dinge anzulegen, die ich später auflöse. Die Übertreibungen sind beabsichtigt, denn der Charakter lebt in Extremen und so nimmt er die Welt wahr. Alles super oder alles schlecht. Schade, dass dir der Ausstieg nicht gefallen hat, gerade den fand ich gut. Die Idee, dass er auch gesprungen wäre, wenn sie ihn dazu angestiftet hätte gefiel mir. Es ist die Geschichte von einem Gratwanderer. Auf jeden Fall mal Danke für deine Anregungen. Vielleicht mach ich ja noch was größeres =;-)

 

Im Hintergrund schleppt sich der Rhein an der Nacht entlang.
Schönes Bild,

Elias –
und damit erst einmal herzlich willkommen hierorts. Mir gefällt (incl. „allegorischer“ Einleitung) das Wagnis, den Schildläusen oder gar dem Hausherrn eins op’n Däts zu spendiern - und im Namen des alttestamentarischen Propheten - und einen unbequemen Fototermin wahrzunehmen. Wüssten wir denn, was Vernunft wäre, wenns nicht auch übermütig zuginge? Gleichgülzig, welchen Alters man sei.

Aber’n paar Anmerkungen (die bis auf die, welche die Grammatik betreffen, Vorschläge sind, denen man nicht folgen muss, aber kann).

Im Freien Fall fallen …
Der freie Fall ist vielleicht auf dem Weg dahin, aber er ist noch nicht als zweistelliger Name angekommen (wie auch der „Reale Fall“). Vielleicht kann die Fallzahl auch etwas reduziert werden durch den Austausch des Verbs durchs gleichbedeutende „stürzen“, das wahrscheinlich bei den angegebenen Fluggeschwindigkeiten sogar treffender wäre …

Es braucht ein Vakuum, ein Nichts; …
Hier mein ich, dass das Vakuum eines Adverbs („da-„ oder „hierzu“) bedarf, sehn wir mal davon ab, dass ein (näherungsweise) luftleerer Raum mehr als nichts ist …

Hier die Meter besser mit Dativ-n

Nach ziemlich exakt 157,31 Meter[n] …

Hier eine Angabe mit dem „das“ ein Komma, ohne dem, keines …
200 km/h[,] das ist verdammt schnell …
oder
200 km/h […] ist verdammt schnell …

hier vorm Relativsatz
…, von diesem Drang[,] die Welt zu spüren.

Super Idee, vielleicht die Beste.
Die Beste besser klein, Attribut zur Idee, was beim ersten Wort des Satzes ja schwerlich auffallen kann ..

Gern gelesen vom

Friedel

 

Hi Friedel,

vielen Dank für dein Lektorat. Ich habe einige deiner Änderungsvorschläge schon umgesetzt. Freut mich auch, dass die Geschichte dir gefallen hat.

hier vorm Relativsatz
…, von diesem Drang[,] die Welt zu spüren.
Da sitzt das Komma schon richtig. Habe extra drauf verzichtet ;-)

Lieben Gruß

E.


P.s. Check das noch nicht so richtig mit dem Zitieren.

 

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