- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Der Freie Fall
Im Freien Fall fallen zwei Körper mit der exakt gleichen Geschwindigkeit und Beschleunigung. Sie fallen und werden immer schneller. In der Natur - auf unserer Welt - gibt es den Freien Fall nicht. Wenn es ihn gibt, so ist er nur ein Versuchsaufbau, nicht natürlich, nur eine wissenschaftliche Spielerei. Es braucht ein Vakuum, ein Nichts; die Beschleunigung hört dann nie auf. Dann wirst du immer schneller und nichts bremst dich. Alles ist gleich im Nichts. Das gilt auch für menschliche Körper. Erst mal aus der Ruhelage losgelassen, geht’s abwärts, immer schneller, 9,8 Meter pro Quadratsekunde. Luft ist das einzige, was der ewigen Beschleunigung entgegenwirkt. Wir brauchen sie zum Leben, aber sie bremst uns. Das ist der Reale Fall; so nennt man das auf unserer Welt.
Die Höchstgeschwindigkeit des menschlichen Körpers beträgt 200 km/h im Realen Fall. Wenn Du dich streckst, Kopf voran, dann gehen auch 500 km/h. Nach ziemlich exakt 157,31 Metern erreicht der durchschnittliche menschliche Körper seine maximale Fallgeschwindigkeit. Egal ob Realer oder Freier Fall, in einem sind sich beide gleich: Es zieht dich runter, solange bis Du aufschlägst. Die Dichte von Beton beträgt ca. 2 g/cm³, die Dichte eines durchschnittlichen Menschen etwas über 1 g/cm³. 200 km/h, das ist verdammt schnell und ich, ich bin verdammt durchschnittlich. Das sieht sie, denn sie schaut mich an, sieht mir direkt in die Augen.
„Wie hoch ist der eigentlich, der Kölner Dom?“
„157,31 Meter der Südturm“, sage ich.
„Interessant“, sagt sie.
Wir haben uns auf einer Internetseite gefunden. So ein Forum. Ich habe von meinen Narben erzählt, von diesem Drang die Welt zu spüren. Sie hat mich verstanden.
„Was machst ’n für ’n Gesicht?“, fragt sie.
„Nix.“
Ich schaue runter zu den menschlichen Schildläusen, mit ihren teuren Handys, ihren schicken Markenklamotten und wichtigen Jobs, wie sie betulich auf der Domplatte Vater-Mutter-Kind spielen und nicht checken, dass ich hier oben sitze; hier oben auf ’m Dom – mit ihr.
Ich: „Krass, dass wir das hier jetzt gemeinsam durchziehen.“
Sie: „Ja. Scheiße. Echt fett, oder? Was die da unten wohl dazu sagen?“ Sie spuckt runter.
Ich zucke mit den Schultern. Im Hintergrund schleppt sich der Rhein an der Nacht entlang. Sterne sehe ich keine, die Stadt überstrahlt mich. Das hier war ihr Einfall. Wird ein riesen Rummel geben, hat sie gesagt. Dann müssen sie endlich hinschauen; uns sehen. Am Anfang dachte ich: Super Idee, vielleicht die beste. Doch jetzt, wo wir hier oben stehen, weiß ich nichts mit mir anzufangen.
„Du ziehst das aber schon durch. Oder?“, fordert sie mich heraus.
„Klar. Haben wir doch gesagt“, beschwichtige ich.
„Ich will ‘s hoffen. Ich bin nicht den ganzen Weg aus meinem Dreckskaff hierhergekommen, dass Du jetzt irgendwie den Moralischen kriegst.“ Sie grinst.
„Nee, alles gut.“ Ich versuche zu grinsen, meine Lippen kleben an den Zähnen.
„Komm, weiter!“, feixt sie. „Ich scheiß mir sonst gleich in die Hose. Und ich will nicht die sein, die den Schwanz einzieht.“ Sie hat Recht. Ich nicke.
„Können wir das nicht von hier machen?“
„Nee, wenn, dann von ganz oben.“ Sie schaut mich an, sieht mir direkt in die Augen.
Sie ist schön. Ich schaue weg, hoch zum Turm; 157,31 Meter. Auf die Aussichtsplatte sind wir über die Treppe gekommen, haben uns reingeschlichen und versteckt, versteckt bis all die Kulturgaffer weg waren, bis abgeschlossen war. Reden konnten wir nicht. Angeschaut haben wir uns die ganze Zeit. Um jetzt auf den Turm hoch zu kommen, müssen wir außen hochklettern; an den Zinnen, die herausragen. Eine nach der anderen. Sie geht vor. Ich schaue ihr nach.
„Alter, kommst du?“ Ich folge.
Wenn uns jetzt einer sieht, ist alles aus. Polizei, Feuerwehr, Scheiße. Es ist dunkel. Ich klettere weiter. Der Wind reißt an mir. Fast verliere ich den Halt. Meine Beine kleben steif an der Turmwand. Meine Hände spannen über dem eisigen Trachyt. Warum muss es vor Weihnachten immer so kalt sein. Ich schwitze. Fucking Fest. Alle machen auf Familie. In meinem Kopf ist Vakuum. Unter mir Beton. Mit der Angst verhält es sich wie mit der Luft.
„Bleib mir bloß nicht kleben.“ Sie streckt mir die Hand entgegen.
„Mann, entspann dich, atme“, raunzt sie mich ruhig an. „Dafür biste doch hier hochgekommen.“ Sie hat Recht. Über ihr leuchten vereinzelt Sterne.
Wenn du dich verstiegen hast, brauchst du jemanden, der dir sagt, wo du dich hinstrecken musst. Sie greift meine Hand und zieht mich nach oben. Unter uns liegt die Stadt.
„Ist das nicht fett?“ Sie grinst. Ihre oberen Schneidezähne stehen leicht nach innen, wie Schmetterlingsflügel. Seltsam, dass mir das jetzt auffällt. Scheiße, ich glotze sie an. Sie checkt es.
„Was?“, provoziert sie.
„Nix“, stammele ich.
„Vor was hast Du Angst?“
„Ich weiß nicht. Eigentlich davor, dass ich die Kontrolle verliere und springe“, überlege ich.
„Du hast Angst, dass Du springst?“
„Ja.“
„Bescheuert.“
„Ja“, sage ich.
Sie schaut mich an, sieht mir direkt in die Augen.
Luftleerer Raum.
„Du bist echt was krass Besonderes“, sagt sie und küsst mich.
Schmetterlingszähne.
Spuke.
Freier Fall.
„Komm, lass das Foto machen und dann runter hier“, lächelt sie.
Ich nehme die Kamera aus meinem Windbreaker. Wir halten uns an dem kalten Kreuz fest, lehnen uns nach hinten und mit ausgestrecktem Arm mache ich ein Foto. Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange. Millionen „Klicks“ und „Likes“ wird es uns endlich bringen. Doch gerade interessiert mich das nicht mehr. Sie streckt sich nach hinten.
„Ist das Leben nicht geil? … Ja, Mann, das Leben ist geil!“, lacht sie raus.
Ich stehe hier oben mit diesem unglaublichen Mädchen, blicke hinunter auf all die Menschen, den ruhig fließenden Rhein, spüre die Welt und denke: Ja, sie hat Recht.