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Der Frühling im Fenster

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24.10.2011
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Der Frühling im Fenster

Es war keiner dieser typisch trüben Spätwintertage.
Ein Hauch von Frühling lag in der Luft, als die alte Frau von Ihrem Nähzeug aufsah und aus dem Fenster blickte.

Gestern noch drückte der Wind die feinen Regentropfen mit Wucht gegen die Scheibe. Ein Geräusch, als würde ein Tieflader eine Ladung Nägel auf einen Betonboden kippen, übertönte alles andere. Tagelang. Die Welt war in ein nasses Tuch aus Nebel gehüllt. Das eintönige Grau kam durch die Fenster herein, Außen- und Innenwelt verschmolzen zu einer tristen, farblosen Masse und erstickten jeden Lebensmut. Der Winter hat lange genug das Hausrecht innegehabt und den Frühling, wie einen penetranten Vorwerk-Vertreter viel zu oft von der Türschwelle gejagt, fand die alte Frau. Dass nun endlich wieder Sonnenlicht Wärme und Geborgenheit spendete war allerhöchste Zeit. Sie genoss jeden Augenblick, den die Sonnen, von einem kräftigen blauen Himmel herunterschien, über den dicke weiße Wattewolken jagten. Das wärmende Licht fiel auf ihr ledriges Gesicht und sie schloss die Augen. Alles könnte so schön sein, wenn sie bloß glücklich wäre.

Schwermütig dachte sie an längst vergangene Zeiten, als sie, eben noch ein Kind, jetzt eine junge Frau, mit dem Fahrrad den alten Waldweg hinunter zum Ort ihrer Geburt fuhr. Sie konnte den blauen Himmel und die zart knospenden Bäume sehen. Sie sah ihre Beine wie sie, in einen weißen Rock gehüllt, stetig das Fahrrad antrieben. Auch ihre schönen glatten Hände, die auf den Lenkerenden ruhten, konnte sie sehen. Ihr war es, als atme sie selbst die klare saubere Luft, die sie heute so vermisste.
Die Sonnenstahlen, die warm und wie ein trockener Lichtregen durch die Zweige der Bäume fielen, kitzelten ihre Haut und sie lachte leise in sich hinein. Vor ihr lag das Ende des Waldweges, dort, wo sich der von Moos bewachsene Schotterweg in eine neue Asphaltstraße verwandelte, gerade so als wäre es das Natürlichste der Welt. Als sie damals die Straße teerten, war man noch mächtig stolz auf die Errungenschaft gewesen und der Bürgermeister hatte vollmundig den Beginn einer neuen, modernen Zeit für das Dorf verkündet. Man wäre nun an die Autobahn angebunden, was der Genossenschaft viele neue Exportmöglichkeiten bieten würde. Sie wusste nicht, was das bedeuten sollte. Niemand wusste das wahrscheinlich genau. Aber das Wort klang so schön und wichtig, dass es nur etwas Gutes sein konnte. Heute, fast zwei Jahre später, hatten sich diese modernen Zeiten noch nicht blicken lassen und niemand erwartete oder wünschte mehr ihren Besuch. Das Leben im Dorf war einfach weitergegangen und niemand nahm mehr Notiz von dieser Errungenschaft, Sie gehörte plötzlich zum Leben dazu, als wäre sie schon immer da gewesen.

Ihr Fahrrad machte einen kleinen Sprung, als sie vom Schotter auf den Asphalt wechselte und das hölzerne Ortseingangsschild passierte. Vorbei ging es jetzt an den alten Bauernhäusern, die bereits beide Weltkriege und das gesamte deutsche Kaiserreich erlebt hatten. Das Muhen von Kühen und Quieken von Ferkeln war zu hören und Stallgeruch, den sie wirklich liebte, lag in der Luft. Linker Hand befand sich der Hof des alten Querkopfs. Sie kannte seinen richtigen Namen nicht. Der alte Querkopf wurde so genannt, weil er sich seit Jahr und Tag weigerte, in die Genossenschaft einzutreten und es stattdessen vorzog, alleine zu wirtschaften. Mit einem Hof mitten im Dorf und seiner inneren Einstellung, hatte er keinen leichten Stand bei den Bauern und Offiziellen des Dorfes. Böse Flüche wurden ausgestoßen und einmal hatte jemand nachts ein Güllefass auf der sandigen Zufahrt zum Wohnhaus des alten Querkopfs entleert. Als stinkender Nachdruck der Genossenschaftsvordergrund sozusagen. Doch so zäh und dickflüssig wie der Dung, war auch der alte Querkopf. Stoisch ließ er jeden Angriff, jede Stichelei und jede Drohung an sich abprallen. Sie bewunderte ihn dafür. Mit Zwölf hatte sie ihm einmal bei der Ernte helfen müssen. Hoch auf dem Erntewagen hat sie gestanden, die abgeschlagenen Ähren in Empfang genommen und später mit einem Dreschflegel bearbeitet, um die Körner herauszuschlagen. Damals waren viele Knechte in den Krieg gezogen. Teils freiwillig, teils unfreiwillig. Nun mussten also die Frauen und jungen Mädchen die Arbeit machen, was zwar furchtbar anstrengend aber auch schön war. Sie hielt immer vorsichtigen Abstand zum alten Querkopf, vermied ihn anzusehen, wie er mit seinem alten Strohhut auf dem Kopf und seiner alten Holzpfeife im Mund die Ochsen antrieb. Die bösen Gerüchte hatte es schon damals gegeben und in ihr eine Angst vor dem alten Querkopf geschürt. Doch nach einiger Zeit auf seinem Feld, in seiner Scheune und auf seiner Diele zum Essen, verlor sie nach und nach die Scheu vor dem Mann, den so viele schlecht gemacht hatten. Ihr fiel etwas Bemerkenswertes auf: Egal, ob es regnete oder die Sonne schien, egal, ob vom Ochsenkarren eine Achse gebrochen war oder ob er leicht über das Feld rollte, egal, ob die Ähren gute Körner ausspuckten oder nicht, der alte Querkopf hatte immer ein Lächeln auf den Lippen. Man sollte doch meinen, dass ein alter Querkopf auch ein alter Griesgram gewesen wäre, aber das war er nun wirklich nicht. So erkannte sie die Lügen der anderen zum ersten Mal und beschloss, sich immer erst ein eigenes Bild zu machen, bevor sie einen Menschen abstempelte.

Radelnd ließ sie den Hof hinter sich bog nach rechts Richtung Wirtschaft ab. Die Wirtschaft war der zentrale Punkt des Dorfes. Das sahen nicht nur die Trunkenbolde, sondern auch die Offiziellen des Dorfes so. Jeden ersten Donnerstag im Monat wurde hier eine Dorfversammlung abgehalten, auf der jeder etwas vorbringen konnte, über das dann, ganz im Sinne des neuen Gedankens der Demokratie, abgestimmt wurde. Sie hatte eine solche Versammlung erst einmal miterlebt und war der Meinung, dass es weniger demokratisch dort zuginge, als man es sich einredete. War eine Diskussion nämlich nicht im Sinne des Bürgermeisters, schnitt er diese kurzerhand mit einem simplen: "Genug geredet! Zeit für eine Lokalrunde Schnaps! Wirt!" ab und nachdem der Wirt jedem einen Schnaps eingeschenkt hatte, war das vorangegangene Thema schon wieder vergessen. Persönlich hielt sie dieses Vorgehen zwar für sehr verwerflich aber nicht minder geschickt. Es hatte sich allerdings, vergleicht man es mit den Versammlungen von vor ein paar Jahren, schon einiges geändert. Früher hatte bei solchen Zusammenkünften nur einer gebrüllt, während die Zuschauer lediglich frenetisch jubelten und grölten." Heil, Heil, Heil" schallte aus den Wänden der Wirtschaft durch das ganze Dorf. "Heil, Heil, Heil" ertönte auch aus den anderen Dörfern. Solang, bis die Heil-Rufe plötzlich leiser und verhaltener wurden und von einem auf den anderen Tag ganz verstummten. Die roten Flaggen mit dem schwarzen Kreuz auf weißem Grund, die zwar in ihrer Einfachheit herausragten aber durch die scharfen Kanten immer auch eine boshafte Hässlichkeit innehatten, früher stolz überall gehisst, dann auf Halbmast wehend, nun verschwunden. Neue Flaggen flatterten jetzt im Dorf. Schwarz, rot und golden. Obgleich sie fand, dass das Gold mehr Gelb war. Aber wenn es die neue Regierung glücklich machte, so konnte man es doch als Gold durchgehen lassen. Politik war noch nie ihr Thema gewesen. Vormals Großdeutsche Reich, jetzt die Bundesrepublik Deutschland, eine Demokratie. Ihr war das egal. Vielleicht war sie einfach zu jung.

Sie erreichte die Wirtschaft, bremste, stellte ihr Fahrrad an die hübsche, rote Backsteinmauer und ging fröhlich die drei Stufen zur Eingangstür. Das Innere der Wirtschaft war wegen der absichtlich milchigen Fenster in schummriges Licht getaucht. Drinnen war keine Menschenseele, nur der Wirt, von dem behauptet wurde, er wäre kein Mensch, weil er so unmenschlich viel saufen konnte. Einmal hatte jemand im Spaß gesagt, man solle ihn bloß niemals auf einem Scheiterhaufen verbrennen wollen, da es wegen des vielen Alkohols zu einer riesigen Explosion kommen würde, die das gesamte Dorf und weite Teile des Landstriches auslöschen würde. Damals wie heute fand sie das aber nicht komisch und war der Meinung, dass man sowas nicht sagen sollte, auch nicht im Spaß. Einmal, sie hatte von der Mutter den Auftrag bekommen, ihren Vater aus der Wirtschaft zu holen, weil eins der Schafe der Familie in Begriff war zu werfen, hatte sie ein Trinkgelage des Wirtes erlebt. Er stand hinter dem Tresen. Vor ihm unzählige leere Schnapsgläser. Sein Kontrahent am Tresen, mit einer Backe noch auf dem mit grünem Stoff bespannten Hocker, mit der anderen schon in der Luft, hielt sich krampfhaft an der Messingschiene des Tresens fest, um den drohenden Absturz doch noch abzuwenden. Der Wirt grinste nur spitzbübisch, füllte ein weiteres Glas und stürzte es in einem Zug herunter. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass der Wirt dieses Talent in Russland entdeckt hatte, als er und seine Kameraden vor Stalingrad standen und warteten. Gegen die Kälte und um die Zeit totzuschlagen, tranken sie Wodka, den sie vorher von den Einheimischen erbeutet hatten. Gerüchte besagten, dass all seine Kameraden fielen, ohne, dass auch nur ein Schuss gefallen wäre. Alkoholvergiftung. Nur er hatte als einziger überlebt und nach seiner Rückkehr die Wirtschaft von seinem Vater übernommen. Als sie ihn nun den Alkohol wie Wasser herunterstürzen sah, bekam sie Angst, dass dieses Gerücht wahr sein und sich ihr Vater hier auch wohlmöglich in sein Grab trinken könnte. Seit diesem Tag missfiel es ihr sehr, wenn ihr Vater seinen Mantel nahm, sich auf sein Fahrrad setzte und den kleinen Waldweg in Richtung der Wirtschaft hinunterfuhr. Hätte sie es ihm verbieten können, sie hätte es getan. Obgleich das höchstwahrscheinlich einen gesellschaftlichen Abstieg zur Folge gehabt hätte. Wer nicht mit den anderen trank, galt im Dorf als Sonderling und wurde gemieden. Das wollte sie natürlich nicht riskieren und so blieb es bei einer stillen Missbilligung.

Der Wirt nickte ihr lächelnd zu als sie aus der Tasche, die sie sich selbst in ihren Rock genäht hatte, ein Geldstück dieser neuen Währung, die frisch und silbrig glänzend, nun als Zahlungsmittel überall akzeptiert wurde, zog und es ihm reichte. Das Geld sollte eine offene Rechnung ihres Vaters begleichen, der es zwar hasste irgendwo Schulden zu haben, doch immer wieder anschreiben lassen musste, da ihre Mutter, seine Frau, das Geld verwaltete und ihm nie etwas herausrückte. Ihr Vater war bei Leibe kein verschwenderischer Mensch, so sagte er zumindest von sich selbst. Ihre Mutter behauptete dagegen, dass irgendwo tief in ihrem Vater ein dicker Adeliger steckte, der nur darauf wartete seinen Reichtum unter das Volk zu streuen. "Vermutlich hat sie sogar ein bisschen recht damit.", hatte ihr Vater einmal selbst zugegeben. Er war der Hufschmied im Dorf. Ein grobschlächtiger Mann aber von einer Herzensgüte, die dem aufgeblasenen Pastor gut zu Gesicht gestanden hätte. Ihren Vater mit dem Pfaffen in einen Topf zu werfen, darauf wäre man im Dorf aber nie gekommen. Die Weiber tratschten unentwegt -allerdings auch mehr im Spaß– dass er mit dem Teufel im Bunde stünde. Der Grund war simple und eigentlich nicht der Rede wert aber was soll man machen, wenn die großen Spielshows noch nicht im Fernsehen angekommen sind und man sich keine Gesprächsthemen von der Mattscheibe abschauen kann? Wann immer er auf seinem grellroten Fahrrad durchs Dorf fuhr, konnte man die Leute rufen hören:"Deuka, doa kummt Adolf mit de Düwelskoarn." Ihr Vater grüßte dann immer besonders freundlich und trat dann doch noch etwas fester in die Pedale, um den Schwätzern zu entkommen. Wie so viele andere im Dorf war ihr Vater im Krieg gewesen, hatte gekämpft, vielleicht sogar getötet. Er sprach nicht darüber. Sie wusste nur, dass er in russische Kriegsgefangenschaft geraten war. Erst von Onkel Otto erfuhr sie irgendwann eine Geschichte aus Kriegstagen. Onkel Otto war mit ihrem Vater im Krieg gewesen. Vorher hatte sie keinen Onkel Otto gehabt, erst als der Krieg aus war, kam der Onkel hinzu. Sie fand das damals zumindest ein wenig merkwürdig.

Die Geschichte, die der neue Onkel erzählte, spielte nachdem die Deutsche Wehrmacht nicht mehr auf verlorenem Posten kämpfte und der Krieg für sie eigentlich schon vorüber war. Ihr Vater und all seine verbliebenen Kameraden hatten sich der Roten Armee ergeben. Es war der einzige Weg zu überleben. Wie Vieh hetzte man die ausgemergelten, einst so stolzen Deutschen zusammen und trieb sie zu den Lagern, den Gulags, die irgendwo im Hinterhalt in Sibirien auf sie warteten. Ganze Divisionen sammelten sich wie ein Rinnsal aus braunem Abwasser in den Randsteinen der zerschossenen Städte und flossen zu den Lagern hin. Schweigend, Schlägen ausgesetzt, blankem Hass. Vom Peiniger zum Gepeinigten in weniger als fünf Stunden. Das Los der Soldaten. Auch ihr Vater schwamm mittendrin in dem Todesstrom. Ungewissheit. Zwangsarbeit oder der Tod. Was wird kommen? Es soll an einem Dienstag gewesen sein. Dienstag oder Donnerstag, Onkel Otto wusste es nicht mehr. Gerade als die Russen Wasser an die schweigenden Deutschen verteilten. Bloß nicht reden, denn wer redete wurde erschossen. Einfach so. Von irgendwo her war ein Motorengeräusch zu hören und auf der Kuppe eines Hügels tauchte ein LKW auf, der auf die Gruppe von vielleicht 150 Gefangenen zusteuerte. Onkel Otto und ihr Vater hockten nebeneinander im hohen Gras des Straßenrandes.
Wie zufällig. „Nein!“, hatte sich der Onkel mit ernster Miene selbst korrigiert, „Es gibt keine Zufälle!“ Es war russischer Frühling, fast Sommer. Der Schnee war größtenteils geschmolzen und die Luft fühlte sich angenehm warm auf der Haut an. Der LKW hielt vorne bei den Wachen an und schallendes Gelächter drang von ihnen herüber. Onkel Otto stand unbedacht auf, um in den Graben vor ihnen zu miegen , als sich der LKW vorne wieder in Bewegung setzte. Er nahm keine Notiz von den Schreien, die von den Leuten auf der Ladefläche den müden Deutschen zugerufen wurden. Er wusste, dass man sie auf das Übelste beleidigte. „Urod, Urod, Urod!“ , tönte es überheblich von der Pritsche. Er konnte nicht mehr sagen, ob er sich schon erleichtert hatte, als ihm auffiel, dass die Stimmen, die die Flüche wie Gewehrkugeln herausschossen, Frauen gehörten. Es waren Frauenstimmen, in denen mehr Hass und Abscheu mitschwang als in einer Rede des Führers, wenn er über die Juden sprach. Er erkannte, dass hier nichts richtig war. Es war nicht richtig hier zu sein. Er wollte nach Haus. Nur nach Haus. Der Onkel machte an dieser Stelle eine lange Pause in seiner Erzählung und sie erinnerte sich an das kurze Aufblitzen einer Träne in seinem linken Augenwinkel. Mit schwerer Stimme setzte er an der Stelle wieder ein, an der der LKW fast auf seiner Höhe war und er schleunigst versuchte seine Hose zu schließen. Schlagartig wurde im bewusst, dass ausgerechnet jetzt zu miegen, keine gute Idee gewesen ist. Das anschließende „Urod!“ galt nur ihm. Der Onkel fing an zu lächeln und hob beschwichtigend die Hände. Im nächsten Moment, warf ihn etwas zurück, dass wie eine unsichtbare Faust seine Schulter traf. Kurz benebelt, schwarz vor Augen für eine Sekunde, schaute er rücklings im Gras liegend herauf zu den Flintenweibern auf dem LKW. Sie lachten fast hysterisch und in ihren Augen fand sich keinerlei Menschlichkeit mehr. Eine von ihnen hielt eine Offiziers-Luger in der Hand, von deren Lauf gemächlich Rauch gen Himmel stieg. Sie schrien noch etwas unverständliches, dann setzte sich der LKW wieder in Bewegung und fuhr gemächlich an den geschlagenen Soldaten vorbei. Onkel Otto blieb zurück. Schmerz bestimmte jetzt sein Dasein und er wartete darauf, dass seine Seele, gleich dem Pistolenrauch gen Himmel fahren würde. Doch nichts geschah. Er lag nur da und blutete. Dann kam ihr Vater, zerriss seine Jacke und setzte einen Druckverband auf die Schulter des verletzten Kameraden. Ein glatter Durchschuss. Ihr Vater flößte dem Unbekannten Wasser ein und tupfte ihm den kalten Schweiß von der Stirn. Dann wurde der Tross plötzlich unruhig, denn die russischen Soldaten trieben die Gefangenen zum Aufbruch. Ohne ein Wort zu sagen hatte ihr Vater den verwundeten Onkel gepackt und über die Schulter geschmissen. So marschierten sie dann unzählige Kilometer durch die sibirische Einöde. Er gab Onkel Otto sein Wasser, seine karge Essensration und versorgte die Wunde. Jeden Tag, ohne zu klagen und ohne aufzugeben. Seine Kraft färbte auf den Onkel ab und auch er hielt, trotz bös entzündeter Wunde, durch. Es kam einem Wunder gleich, dass sie nach einer Woche auf einen Sanitätszug der Russen trafen, dessen Ärzte die Deutschen nicht als Verbrauchsmaterialien, sondern noch als Menschen sahen. Wenn der Krieg beginnt wird der Mensch zum Soldaten. Der Soldat ist kein Mensch. Er ist das Werkzeug der Offiziere. Einer der nach Befehlen handelt, der tötet, der überlebt, der stirbt, meuchelnd und gemein. Erst wenn der Krieg vorbei ist, wird der Soldat wieder zum Menschen. Das hatte ihm sein Ausbilder in Soest mit auf den Weg gegeben. Der Krieg war jetzt vorbei – für sie. Die Ärzte holten die Schwachen und Verwundeten aus dem Tross heraus. Sie hätten sowieso nicht mit guter Arbeitskraft glänzen können. So wurden ihr Vater und Onkel Otte getrennt. Onkel Otto kam nach Moskau, dann nach Berlin, dann nach Hause. Ihr Vater blieb in Sibirien. Onkel Otto aber vergaß ihn nicht. Schließlich verdankte er ihm sein Leben. Der Onkel besaß eine Möbelfabrik und nach seiner Rückkehr stellte er nicht ohne Überraschung fest, dass diese die zahllosen Bombenangriffe nahezu unbeschadet überstanden hatte. Und so kam es, dass eines Tages ein adrett gekleideter Mann und ein Mercedes Lastkraftwagen vor ihrem Geburtshaus standen. Es war ein bemerkenswertes Ereignis, denn es verirrten sich normalerweise keine LKWs in die kleine Straße, ja nicht mal in das Dorf. So seltsam es klingen mag, vertrieb dieser Stahlkoloss, der so gebieterisch vor dem Haus der Familie parkte die schlimme Zeit, in der niemand über den Verbleib des Vaters Bescheid wusste, in der es nur hieß, die Deutschen wären vernichtend geschlagen worden und der Vater wahrscheinlich tot. Er vertrieb auch die Tränen der Mutter, die sie so gut es ging verbarg, um der Tochter keine Angst zu machen. Aber das schluchzen und das Wehklagen, das Nacht für Nacht aus der Kammer der Mutter kam und sie verängstigte, zeigten eine andere, eine bittere Wahrheit, die nun nicht mehr zu zählen schien. Sie und Ihre Mutter stürmten sofort nach draußen, dachten an den Vater von dessen Verbleib sie nichts noch immer nichts wussten und fanden dann den Onkel, den es vorher in ihrem Leben nicht gegeben hatte. Zum Dank für seine Rettung und auch, weil er keine eigene Familie mehr hatte, kümmerte sich Onkel Otto um das finanzielle Überleben der Familie. So kam es auch, dass sie die feinste gute Stube im gesamten Dorf bekamen. Ihr schenkte Onkel Otto noch etwas besonderes, dass sie sehr lieb gewann, weil es in ihr mit Hoffnung verknüpft war. Ein kleines braunes Kanapee, das sie in ihrer kleinen Kammer unter dem Dach des alten Fachwerkhauses aufgestellt hatten und auf dem sie sehnsüchtig vom Vater träumte. Und eines Tages, es hatte gerade geschneit, war der Vater wieder da. Er saß einfach in der Küche, rauchte eine Zigarette und trank frisch gebrühten Kaffee. Fast so, als wäre er niemals fort gewesen. Ihr fiehl wieder ein, wie ihre Mutter in Ohnmacht fiel. Sie sah ihn, muss wohl an einen Geist gedacht haben, und schlug der Länge nach auf die Dielen der Küche. Sie selbst sah den Vater nur an. Versteinert. Starr vor Gefühlen, die sie übermannten. Unfähig zu weinen oder lachen. Als würde alle Freude, die in ihr für ihr ganzes Leben gelagert ist nun in einem Augenblick vollständig nach draußen dringen wollen aber dies nicht vermochte. Ihr Vater indes saß nur da, lächelte, half seiner Frau aufzustehen und als er Ihre Mutter, die noch immer auf wackeligen Beinen stand in die Arme drückte, fing sie endlich an zu weinen. Aus Freude natürlich. Sie hatte dann tagelang geweint und gelacht immer im Wechsel. Es waren die schönsten und aufrichtigsten Tränen, die sie bis dahin vergossen hatte. Allerdings sollte die Freude nicht lange halten. Ihr Vater hatte eine traurige Nachricht aus dem Lager mitgebracht, in das er all die Jahre eingesperrt war. Es betraf allerdings nicht ihre Familie, was aber der Tragik keinen Abbruch tat. Albert, der Sohn der Schröders, die nebenan wohnten, war gefallen. Sie kannte Albert, den Müllergesellen. Wenn er abends von der Mühle den Weg nach Hause entlangging, war er von oben bis unten mit Mehlstaub überzogen. Sein Anblick erinnerte sie immer an den sechsten Streich von Max und Moritz, in dem die beiden Tunichtgute in die Mehlkiste von Meister Bäcker fallen und letztlich gebacken werden. Sie hatte sich damals immer gefragt, wie Albert wohl schmecken würde, wenn man ihn bäckte. Vielleicht war sie ein wenig verliebt in ihn gewesen. Nun würde kein kalkweißer Bursche mehr jeden Abend an ihrem Fenster vorbeikommen. Niemals wieder. Sie konnte sich an die Wutschreie der alten Frau Schröder erinnern, die ihre Trauer verhüllten. "Warum er und nicht du?!" Warum er und nicht du? Diese Worte verblieben in ihrem Herzen und ließen sie ein ums andere Mal an der Welt zweifeln. Was für die Schröders eine Tragödie war, war für sie das größte Glück der Welt. Gerechtigkeit, liegt im Auge des Betrachters.
Als in diesem Jahr der Frühling kam, schmolz die zunehmende Kraft der Sonne nicht nur den Schnee, sondern auch alle Erinnerungen an den Krieg dahin. Das Leben ging weiter. Das Dorf erblühte zu neuem Leben und als im April das Osterfeuer hinter dem Schützenhaus loderte, verbrannte auch all die Ungerechtigkeit knisternd im Holz der abgeschlagenen Bäume. Sie erinnerte sich noch gut an die vielen Biere, die ihr Vater mit dem alten Herrn Schröder in Gedenken an seinen Sohn trank und die sie von der Theke holte und den beiden brachte. Sie war an diesem Abend bestimmt zwanzigmal mit zwei Bierkrügen hin und her gelaufen. Als das Feuer langsam verlosch und sich nur noch Asche in den Nachthimmel über dem Dorf erhob, war es fast so, als hätte es nie Krieg, Leid und Tod gegeben. Alle waren auf eine eigentümliche Art glücklich und beseelt. Aufbruch lag nun in der Luft. Vielleicht lag es an dem vielen Bier aber ein neues Land war geboren und hier in diesem alten Dorf spürte man es in dieser Nacht am stärksten.

"Dormehe wär dien Voadders Zeddel betoalt." , sagte der Wirt grinsend in bestem Plattdeutsch. "Säch ihm n fienen Gruß von mie!" . Mit einem schüchternen Nicken bestätigte sie dem Wirt, dass sie es tun würde, machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Wirtschaft. Draußen begrüßte sie wieder die Sonne. Sie atmete tief die frische, klare Luft ein, stieg auf ihr Fahrrad und fuhr denselben Weg ganz langsam zurück. Sie musste unversehens lächeln, als ihr bewusst wurde, dass heute keiner dieser typisch trüben Spätwintertage war, sondern der Frühling endlich angekommen zu sein schien.

Mit eben diesem Lächeln auf den Lippen wandte die alte Frau ihren Blick vom Fenster ab, der ungewollt auf ihre Hände fiel. Das Lächeln verblasste auf ihrem Gesicht, gleich ihrer Hände, die eben noch glatt und schön, jetzt faltig und befleckt in ihrem Schoß lagen. Die Zeit hatte sie ebenso wenig verschont, wie alles, was sie in ihrer Erinnerung gesehen hatte. Ihr wurde bewusst, dass sie keinesfalls mehr die klare, frische Luft des Dorfes atmete sondern die abgasverhangene Luft der Stadt.
Ihr Dorf, so wie sie es sah, gab es schon lange nicht mehr. Mit dem Asphalt hatten sich doch die modernen Zeiten klammheimlich eingeschlichen. Sie ruhten unter dem Teer und erwachten, als dieser die ersten Risse bekam. Eine neue Schicht Teer wurde gelegt und Stück für Stück verschwand alles, was ihr so lieb an ihrem Dorf war. Das hölzerne Ortseingangsschild wich einem aus Metall. Je mehr Wochen, Monate und Jahre ins Land gingen, desto leiser wurde das Muhen der Kühe und das Quieken der Ferkel, bis es schließlich irgendwann ganz verstummte. Die alten Bauernhäuser, die die Kriege und den Kaiser gesehen hatten verfielen zusehends und selbst die alte Wirtschaft wurde weniger und weniger besucht. Die modernen Zeiten hatten sich als Rattenfänger entpuppt, die mit der Musik eines besseren Lebens, die Leute in die Vorstädte und Städte lockten. Im neuen Land war wenig platzt für die Provinz.
Auch sie folgte damals diesem Ruf. Ein seltsames Verlangen nach dem Heil der großen Stadt war in ihr aufgekommen. Vielleicht hatten sich die Heil-Rufe, die durch das Dorf halten doch irgendwie in ihrem Gehirn festgesetzt und bestimmten dann ihr Handeln. Auch sie war in die Stadt gegangen, um ihr Glück zu finden. Mit den Träumen und Sehnsüchten einer jungen Frau, der es nach der großen Welt hungerte. Die große Welt hat sie nie gesehen. 40 Jahre Fabrikarbeit am Fließband haben sie satt gemacht. Tag für Tag, Schraube um Schraube, bis sie selbst noch im Schlaf am Band fertigte und die Erinnerungen an alte Zeiten durch die eintönige Stupidität verblassten. Aber auch, wenn sie es wollte, sie konnte die Fabrik nicht verteufeln. Hier hatte sie ihren Mann kennengelernt. Die große Liebe – was immer das bedeutet. Am Band neben sich. Zwei Kindern schenkte sie das Leben. Stadtkinder, die nichts vom Leben im Dorf wussten, die vom Dorf selbst nichts wussten, denen es egal war. Gute Kinder, ein guter Mann, in guten Zeiten. Nun saß sie da, die guten Zeiten lang verloren. Ihre Kinder schon lange fort und ihr Mann seit Jahren verstorben. Allein - in ihrer kleinen kargen Rentnerwohnung.
Ihr Dorf hatte sie zuletzt vor gut 15 Jahren gesehen, als bereits alles so gut wie verlassen war. Damals hatte sie es als anders und fast schon befremdlich empfunden, als wäre sie dort niemals aufgewachsen. Aber nun sehnte sie sich nach allem dort.

Plötzlich dachte sie an die, die im Dorf zurückblieben, die, die sie dort zurückgelassen hatte.
An den alte Querkopf, der sich, wie es seine Natur war, weigerte, seinen Hof aufzugeben, als die Landesregierung über sein Grundstück eine neue Autobahnanbindung schaffen wollte. Man fand ihn vor vielleicht 20 Jahren mit seinem verwahrlosten Strohhut auf dem Kopf und seiner alten Holzpfeife im Mund, baumelnd am Kirschbaum. Die Leute erzählten später, dass er, als man ihn wie eine verdorrte Kirsche vom Baum pflückte, gelächelt habe. Als sie davon hörte, wusste sie, dass es seine Art war der Landesregierung zu zeigen, was er von ihrem Vorhaben hielt. Obgleich es ihn das Leben kostete, hatte er gewonnen.
Dann dachte sie an den Wirt, der nur wenige Wochen nach ihrer Erinnerung letztlich doch an einer Alkoholvergiftung verstarb und ihm jeder bei seiner Beerdigung endlich die Menschlichkeit anerkannte.
Sie dachte an Onkel Otto, der zwar nicht mit ihnen im Dorf gelebt hatte aber ihr Leben entscheidend mitprägte. Er starb einsam und allein in seiner Fabrik, als er eines Nachts im Büro beim Verfassen seines Testaments einschließ und nicht mehr aufwachte.
Auch ihrer lieben Eltern erinnerte sie sich. Auch sie waren schon lange nicht mehr aber, und das freute die alte Frau ein wenig, hatten von Anfang bis Ende im Dorf gelebt. Sie hatten es am Leben gehalten und nun, das wurde der alten Frau in diesem Moment bewusst, war sie an der Reihe eben durch ihre Erinnerung das Dorf wieder mit Leben zu füllen. Und heute, ja heute, da blühte es vor Leben. Sie alle waren wieder dort, der Wirt, der alte Querkopf, Albert, die Bauernhäuser, die Asphaltstraße, die Tiere, ihre Eltern - alle, so wie sie waren. So wie sie immer sein werden - in ihr.

Vielleicht zum ersten Mal seit langer Zeit, hatte sie das Gefühl ein wirklich schönes Leben gehabt zu haben und war vom einem auf den anderen Moment sehr glücklich.

 

Hallo LoFimann

In blumiger Sprache lässt du da frühere Zeit auf dem Lande aufleben. Es ist ein stiller Rückblick, der mir dann an Spannung auflebte, als Onkel Ottos Kriegserlebnis thematisiert wird. Einzelne Passagen wirkten mir etwas kitschig überzeichnet und zu langatmig, diese Erinnerung der alten Frau. Doch insgesamt nett erzählt fand ich die Geschichte schon.

Noch ein paar Kleinigkeiten, die mir beim Lesen auffielen:

Sie genoss jeden Augenblick, den die Sonnen, von einem kräftigen blauen Himmel herunterschien, über den dicke weiße Wattewolken jagten.

Sonne

Als stinkender Nachdruck der Genossenschaftsvordergrund sozusagen.

Ich weiss nicht, ob ich dies missverstehe, das Wort ist mir so nicht bekannt. Wenn es ein Name ist, schiene mir besser: Genossenschaft Vordergrund.

Die Weiber tratschten unentwegt -allerdings auch mehr im Spaß– dass er mit dem Teufel im Bunde stünde.

Leerschlag nach resp. vor Gedankenstrich sowie ein Komma vor dass.

Der Grund war simple und eigentlich nicht der Rede wert aber was soll man machen, wenn die großen Spielshows noch nicht im Fernsehen angekommen sind und man sich keine Gesprächsthemen von der Mattscheibe abschauen kann?

simpel

Onkel Otto stand unbedacht auf, um in den Graben vor ihnen zu miegen , als sich der LKW vorne wieder in Bewegung setzte.

miegen, bedeutet das Urinieren? Leerschlag vor Komma löschen!

Im Ganzen gesehen, war es mir doch angenehm zu lesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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