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Der Foliant
Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte der Finder an der Kante des wuchtigen Schreibtisches, der das kleine Arbeitszimmer dominierte. Der schmächtige Alte dahinter, aufgeregt die gichtkrummen Hände reibend, wirkte dort recht deplatziert.
„Nun, was sagen Sie?“ Seine Stimme glich dem heiseren Krächzen eines verendenden Vogels. Seine fast schon milchigen Augen lasteten erwartungsvoll auf dem breiten Rücken seines Gastes.
Der Finder stiess sich von der Tischkante ab und ging hinüber zu einer Glasvitrine, die sich über die gesamte Breite der Wand erstreckte. In ihr, geschützt vor jeglichen Umwelteinflüssen und fremden Händen, lagerten an die dreissig Bücher – gebunden in dunkles Leder und die Titel eingeprägt in goldenen Lettern.
Der Finder las einige der Titel durch, kam dann aber zu dem Schluss, dass sie ihm alle nichts sagten. Bücher waren für ihn nicht mehr als Papier und Tinte. Niedergeschriebene Worte aus einer lange vergangenen Zeit, die ihn nicht interessierte. Heutzutage waren Bücher rar und nur noch von Sammlern wie dem Alten am Schreibtisch gefragt.
Das geschriebene Wort war tot und das schon seit mehr als sechs Jahrzehnten. Zum Festhalten der Gedanken gab es nun Erinnerungskapseln, die alles Gedachte aufzeichnen und wie einen Film wiedergeben konnten. Wer brauchte da schon solch antiquiertes Zeug wie Stift und Papier?
Auch dem Finder war es schleierhaft, was für eine Faszination für den Alten davon ausging. Aber das war ihm auch egal, so lange er zahlte.
Der Finder kehrte zum Schreibtisch zurück und warf einen Blick auf die darauf ausgebreitete Karte.
Sie zeigte einen Ausschnitt des Ödlands. Ein Gebiet in der Mitte war rot eingekreist und jemand hatte das Wort „Bunker“ daneben geschrieben.
Der Finder nahm die Karte vom Tisch, faltete sie mehrmals und liess sie in einer Tasche seiner Jacke verschwinden.
Die Anspannung fiel von dem Alten ab wie ein Bleimantel und ein zufriedenes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht, in das die Jahre tiefe Furchen gegraben hatten, ab.
Das Ödland als unwirtlich zu bezeichnen wäre eine Untertreibung gewesen. Jene, die nicht von der Natur oder der Strahlung an ihre harten Bedingungen angepasst worden waren, fanden früher oder später den Tod. Wenn sie nicht von der sengenden Hitze dahingerafft wurden, endeten sie meist als Nahrung der wenig gastfreundlichen Wüstenbewohner.
Der Finder scheute die Gefahren des Ödlands nicht. Mehr als einmal hatte er ihnen getrotzt und war in einem Stück zurückgekehrt. Er war zuversichtlich, es auch dieses Mal zu schaffen. Obwohl dieser Auftrag zu den anspruchsvolleren zählte – führte er ihn doch in einen Bunker. Einst als letzte Zuflucht der Menschheit vor dem atomaren Supergau gebaut, hatten sie sich nach dem Fall der Bomben in wahre Todesfallen verwandelt. Denn viele der Bunker waren in zu großer Hast errichtet worden und hielten die nachfolgende Strahlung nicht ausreichend fern. Während in einigen Bunkern also die Reste der Menschheit die Nachwirkungen der Katastrophe schadlos überdauert hatten, waren sie in anderen von der Strahlenkrankheit ausgelöscht worden – wenn sie Glück hatten.
Brüllend fraßen sich die breiten Reifen des Buggys durch die festgebackenen Sandmassen. Die Sonne brannte als rotglühende Scheibe aus einem ockerfarbenen Himmel auf die ausgezehrte Erde herunter. Der Finder trug einen Hut mit breiter Krempe und einen beigen Wüstenanzug, der automatisch seine Körpertemperatur regulierte und einen Hitzschlag verhinderte. Der Große Fall, wie man den nuklearen Weltuntergang mittlerweile bezeichnete, hatte nicht nur die Planetenoberfläche leergefegt, sondern auch die Ozonschicht empfindlich geschwächt, so dass es tödlich war, mit ungeschützter Haut in die Sonne zu treten. Deswegen trug der Finder zusätzlich eine den ganzen Kopf umschliessende Maske mit speziellen Augengläsern und einem Atemfilter, der die Luft für den Träger anfeuchtete.
Seine in Lederhandschuhen steckenden Hände hielten das aufgeheizte Lenkrad fest umklammert, während aus dem entfernten Flimmern am Horizont langsam sein Ziel vor ihm auftauchte.
Der Zugang des Bunkers lag oberirdisch und war erstaunlich gut erhalten. Der flache Betonbau ragte wie ein Fremdkörper aus dem Sand.
Gurgelnd erstarb der Motor des Fahrzeugs und der Finder setzte seine Stiefel auf den Boden. Bei jedem Schritt knirschte es unter seinen Sohlen, als er um den Wagen herumging und seine Ausrüstung von der Ladefläche nahm.
Ausgestattet mit Feldflasche, tragbarem Scheinwerfer, Kampfmesser und fünfläufiger Schrotflinte samt Munition, ging er auf die niedrige Tür des Gebäudes zu, hinter der ihn dichte, ölige Schwärze empfing.
Die Bunker glichen tief in die Erde gedrückten Türmen. In der Regel reichten sie bis zu zweitausend Meter in die Tiefe und boten für etwa dreihundert Personen Platz. Künstlich angelegte Gärten stellten eine langfristige Nahrungsversorgung sicher. Zudem gewährten die Bunker nicht nur Schutz sondern ebenfalls Komfort, weswegen sie den Reichen und Mächtigen vorbehalten gewesen waren. Lediglich die Elite der Menschheit war für würdig befunden worden zu überleben. Den Rest hatte man sich selbst überlassen.
Das Innere des Gebäudes musste einmal als Büro gedient haben. Als der Finder den Strahl seiner Lampe durch den fensterlosen Raum gleiten liess, riss dieser zertrümmerte Schreibtische und Stühle aus der Dunkelheit. Vergilbte Unterlagen waren über den gesamten staubigen Boden verteilt. In einer Ecke entdeckte der Finder ein uniformiertes Skelett, dem der Unterkiefer fehlte und der Schädel eingeschlagen worden war. Die Wand, an der es lehnte, wurde von rostfarbenen Flecken und Schlieren verunziert. Auch die halb zerfallene Uniform des Toten war voll davon. Offenbar hatte ein Mob der Verzweifelten Einlass gesucht und den Wachmann erschlagen. Die vor dem Bunkertor verstreuten Werkzeuge wie Vorschlaghämmer und Brecheisen bestätigten diesen Verdacht. Sie waren erfolglos gewesen und hatten sich ihrem Schicksal ergeben müssen.
Ein Tor, das einem direkten nuklearen Treffer standhalten konnte, zeigte sich für gewöhnlich unbeeindruckt angesichts solch primitiver Mittel.
Jetzt jedoch, knapp neunzig Jahre später, lag das Tor geborsten vor der kreisrunden Öffnung, die zum Aufzug führte. Die Innenseite der meterdicken Stahlplatte war mit tiefen Kratzspuren übersät. Für den Finder ein eindeutiger Hinweis darauf, dass dieser Bunker zu den undichten zählte. Noch dazu schienen die Bewohner nicht von der Strahlung zerkocht worden zu sein.
Man konnte niemals sagen, in was für ein Höllenloch sich ein unsicherer Bunker verwandelt hatte, wenn die Menschen darin immer noch lebten. Der Finder überprüfte noch einmal seine Waffe, bevor er durch den Rundbogen schritt. Dieser Job hatte sich gerade von anspruchsvoll zu verflucht schwer gesteigert.
Die Aufzugkabine war noch intakt – wenn man von dem klaffenden Loch im Boden absah. Irgendetwas Großes war den Schacht hochgeklettert und durchgebrochen.
Der Finder trat an den gezackten Rand und richtete den Lichtstrahl hinunter. Die Stahlträger an den Wänden des Schachts waren teilweise verbogen, auseinandergerissen und ragten in die Luft. Was auch immer geflohen war, hatte einen Pfad der Zerstörung hinterlassen.
Selbst wenn der Aufzug mit Strom versorgt gewesen wäre, was nicht der Fall war, hätte der Finder ihn unmöglich nutzen können. Nach wenigen Minuten wäre er steckengeblieben.
Der Finder leuchtete in jeden Winkel des Schachts auf der Suche nach einer Möglichkeit zum Abstieg. Aber alles was er fand waren die kümmerlichen Überreste einer an die Wand montierten Leiter, die von dem unbekannten Flüchtling herausgerissen worden war und nun größtenteils freischwebte.
Der Finder wandte sich vom Loch ab und richtete die Lampe zur Decke. Nach wenigen Augenblicken hatte er die dort angebrachte Luke entdeckt, drückte sie auf und hievte sich auf das Dach der Kabine.
Vor ihm spannten sich die zentimeterdicken Kabel, die die Konstruktion normalerweise auf und ab bewegten, sie jetzt jedoch lediglich an ihrem Platz hielten. Wenn der Plan des Finders aufging, würde er sich an ihnen zum Grund des Schachts abseilen können.
Vorausgesetzt, das Gewirr der Stahlträger war so stabil wie es aussah.
Der Finder umschloss mit seiner Rechten eines der starken Seile, während er mit der Linken das Messer aus seinem Gürtel zog. Er setzte die gezackte Klinge an und begann die Fasern zu zertrennen. Das Kabel zersprang mit einem Knall und ein Ruck ging durch die Konstruktion.
Rasch hatte der Finder sämtliche Halteseile durchtrennt und klammerte sich an ihnen fest, während die Kabine kreischend den Schacht hinabstürzte.
Nach kaum mehr als fünfzehn Metern wurde sie von den unter der Last ächzenden Trägern aufgefangen.
Vorsichtig glitt der Finder an den Seilen hinunter und landete leichfüßig auf dem Dach. Es knarrte und wackelte unter ihm. Er musste sich beeilen, bevor die Kabine jeden Halt verlor und mit ihm in die Tiefe raste. Schnell riss er zwei Seile herunter und verknotete sie mit jenem, das mit der Spule an der Schachtdecke verbunden war. Dann kletterte er wieder in den Lift und warf das lose Ende des Strangs durch das Loch. Er wusste nicht, ob er bis zum Grund des Schachts reichen würde, aber er hatte keine Wahl. Ohne zu zögern schwang er sich hinunter.
Der Abstieg gestaltete sich erfreulich unbeschwerlich. Lediglich hier und da musste der Finder aufpassen um nicht von dem spitzen Ende eines in die Höhe ragenden Trägers aufgespießt zu werden.
Etwa zwanzig Minuten später hatte der Finder wieder festen Boden unter den Füßen. Die aus dem Schacht gerissenen Trümmerteile hatten an dessen unterem Ende einen riesigen Schuttberg gebildet. Kleine Brocken purzelten herunter, als der Finder zum weit geöffneten Sicherheitstor stolperte. In dem Moment, in dem er über die Schwelle trat, brach oben im Schacht die Hölle los. Die Träger barsten und eine einzige Masse aus Stein und Metall jagte brüllend hinab wie eine wildgewordene Bestie.
Der Finder sprang gerade noch rechtzeitig beiseite, um nicht von ihr verschlungen zu werden.
Mit einem Donnergrollen schlug sie ein und liess den Schuttberg um mehr als das Dreifache anwachsen.
Der Schacht war völlig blockiert – dort gab es kein Durchkommen mehr.
Der Finder bewahrte Ruhe. Jeder Bunker verfügte im Normalfall über mehrere Evakuierungstunnel, durch die man notfalls an die Oberfläche gelangen konnte. Dies im Hinterkopf behaltend begann der Finder seine Suche.
Der Bunker selbst war so, wie der Finder ihn erwartet hatte: Ein in das Erdreich getriebener Trichter, an dessen Wänden neun ringförmige Plattformen hingen. Von jeder Plattform gingen unzählige Türen ab, die zu Bereichen ausserhalb der Hauptkammer führten. Am Grund ebendieser Kammer hoffte der Finder die Ursache seine Kommens aufzustöbern. Es wartete viel Arbeit auf ihn.
Der Eingangsbereich war nicht weniger im Chaos versunken als das Büro oben. Decke, Wände und Boden waren rostrot gesprenkelt und von gewaltigen Klauen zerkratzt worden. Nur Leichen waren nirgends zu sehen. Bis auf ein paar Fetzen Kleidung war nichts zurückgeblieben.
Zur Überraschung des Finders benötigte er seine Lampe in der Hauptkammer nicht: Hell erleuchtet lag der gewaltige Komplex unter ihm. Das ferne Summen von Generatoren hallte durch die still daliegenden Gänge.
Die Luft roch merkwürdig.
Die Belüftungsanlagen des Bunkers arbeiteten deutlich hörbar und doch roch es irgendwie muffig, abgestanden und verbraucht. So als würde sie jemand oder etwas schneller wegatmen als sie aufbereitet werden konnte.
Der Finder befand sich auf Ebene Neun. Um auf die Ebene Null zu gelangen musste er entweder einen Lift oder das Treppenhaus benutzen. Nach seinem mehr oder weniger lebensgefährlichen Abstieg entschied er sich bereits für die Treppen, bevor er sie überhaupt ausfindig gemacht hatte.
Glücklicherweise war der Weg ausgeschildert, sodass ihm wenigstens lästiges Herumsuchen erspart blieb. Er folgte den in gelber Signalfarbe an die Wände gesprühten Beschreibungen und warf immer wieder einen prüfenden Blick über das brusthohe Geländer. Nichts regte sich, und bis auf das gleichmäßige und rythmische Arbeiten der Maschinen war es geradezu unheimlich still. Der Finder wurde das Gefühl nicht los, belauert zu werden. Irgendwo in den dunklen Eingängen unter ihm war etwas und beobachtete ihn. Er spürte die gierigen Augen auf sich ruhen und bereitete sich darauf vor, auf ihren Besitzer zu treffen.
Auf Ebene Fünf entfuhr dem Finder ein Fluch, als diverse verschrammte Möbel und andere sperrige Gegenstände seinen Weg blockierten und ein weiteres Vorankommen unmöglich machten.
Ärgerlich trat er auf die Ringplattform hinaus und übersah dabei völlig den fleischigen, keulenartigen Arm, der ihm entgegengeschwungen wurde.
Er traf den Finder mit voller Wucht an der Brust und schleuderte ihn zurück. Hart prallte er gegen die Wand und ging zu Boden.
Durch den klingelnden Schmerz in seinem Kopf hindurch hörte er schwere, behäbige Schritte und ein unverständliches Gebrabbel, das aus zufällig ausgestoßenen Tönen und Rülpslauten bestand.
Der Finder rappelte sich hoch und kam schwankend wieder auf die Beine, da torkelte der Angreifer durch die Türöffnung – ein missgestaltetes verquollenes Ding. Der einem gewaltigen Tumor ähnelnde Körper war mit den Resten eines ehemals knallorangenen Overalls behangen. Fauliggelbe Augen stierten aus einem breiten, deformierten Kopf, der in dem massigen Oberkörper zu versinken schien.
Die Linke des Finders schnellte nach hinten – und griff ins Leere! Der Schreck durchfuhr ihn mit Eiseskälte. Sein Blick raste über die nähere Umgebung, verzweifelt nach der Waffe suchend. Der Finder entdeckte sie gut vier Meter von seiner Position entfernt auf dem Boden. Das Wesen riss den schiefen Mund auf und entblößte zwei Reihen spitzer fleckiger Zähne. Ein kehliges Brüllen drang aus ihm hervor und der feuchtglänzende Fleischberg warf sich voran. Flink sprang der Finder beiseite.
Dumpf klatschte die Kreatur gegen den Beton und stiess einen wütenden Schrei aus.
Der Finder rollte sich ab und bekam sein Gewehr in die Finger. Er riss den Lauf hoch und zielte auf das sich neu ausrichtende Etwas. Er zog den Abzug durch.
Die Schrotladung schlug schmatzend in das rohe Fleisch ein. Blökend flog das Ding zurück, seine klaffende Wunde haltend. Der Finder pumpte noch zwei weitere Ladungen in den mutierten Körper. Das Ding schnaufte, sackte zusammen und blieb reglos liegen.
Der Finder wartete noch einige Augenblicke, bevor er es sich gestattete, ein wenig zu entspannen.
Den langsam ausblutenden Leichnam im Auge behaltend, steckte er frische Patronen in das Magazin der Schrotflinte. Er steckte sie in den Holster auf seinem Rücken und kehrte auf die Plattform zurück – diesmal jedoch vorsichtiger und die Umgebung genau sondierend.
Auf dem Weg nach unten war die Luft immer dicker geworden, geradezu klebrig. Der Finder musste sich anstrengen, den mittlerweile nach Fäulnis riechenden Dunst in seine Lungen zu saugen und wieder herauszupressen. Auch der Filter seiner Maske schaffte keine Abhilfe.
Ein Blick über das Geländer offenbarte dem Finder ein Bild aus Chaos und Zerstörung.
Die Ringplattformen der Ebenen Vier bis Eins waren von den Wänden gelöst und zu einem gewaltigen Konstrukt verwoben worden. Sie bildeten einen riesigen Deckel, der keinen Blick auf den Boden der Kammer zuliess.
Mitten auf dem Deckel hockte eine Gestalt. Aus der Ferne konnte der Finder nicht erkennen, ob es sich um noch eine Leiche oder einen weiteren Mutanten handelte. Ob er wollte oder nicht, er würde es gleich herausfinden.
Unweit seiner Position stiess der Finder auf eine Leiter. Sie war auf ungeschickte Weise am Geländer festgeschweisst worden.
Behände schwang sich der Finder auf die breiten Sprossen und glitt nach unten. Geräuschvoll kamen seine Stiefel auf der zusammengeflickten Platte auf.
Die Gestalt im Zentrum hob ihren haarlosen Kopf, was sie sichtlich anstrengte.
Der Finder zog seine Waffe und richtete sie auf das sich behäbig erhebende Wesen.
“Du hast den Wächter getötet, Aussenweltler”, sagte der hagere Mutant. Aus seinem nackten Körper ragte eine Unmenge an Schläuchen und Kabeln, die durch mehrere Spalten unter die Platte führten.
Die merkwürdig schnarrende Stimme des Mutanten wurde vielfach von den Kammerwänden zurückgeworfen.
“Du bist erstaunlich, Aussenweltler. Seit mehr als vierzig Jahren wache ich nun schon hier und noch nie ist es einem Menschen von der Oberfläche gelungen, mich zu erreichen. Doch warum, Aussenweltler, hast du diesen beschwerlichen Weg auf dich genommen? Es gibt an diesem Ort nichts, was für einen wie dich von Wert sein könnte.”
Der Finder antwortete nicht. Dieser Mutant war ihm suspekt. Mit seinen ruckartigen Bewegungen und dem stumpfen Galnz seiner Augen wirkte er wie eine Marionette. Doch wer war der Puppenspieler?
Wie sich herausstellte, war Sprechen nicht notwendig.
“Ich verstehe”, fuhr der Mutant fort, “Du suchst ein Buch. Doch das, was du zu finden hoffst, kann dir nicht gewährt werden. Es ist ein besonderes Schriftstück, dessen Bewahrung unsere Aufgabe ist. Wir können nicht zulassen, dass es in die Hände eines alten Mannes gerät, der nur aus Gier handelt.”
Der Finder entsicherte sein Gewehr. Das Gerede dieses wehrlosen dünnen Männchens rührte ihn nicht. Er war zum Geldverdienen und nicht zum Zuhören hergekommen.
“So ist das also, Aussenweltler. Du misst dem Geschriebenen nur materiellen Wert bei. Doch mit Gewalt wirst du nichts erreichen.”
Der Mutant streckte einen knochigen Arm aus und deutete auf einen im Dunkel liegenden Tunnel hinter ihm.
“Dieser Weg wird dich zurück an die Oberfläche führen. Auf ihm droht dir keine Gefahr. Ich gewähre dir die Chance, unversehrt von hier zu verschwinden. Nutze sie, denn ich gebe sie dir nur ein...”
Die Waffe ruckte in den Händen des Finders, als die Schrotladung hinausgeblasen wurde.
Der Kopf des Mutanten löste sich in eine rote Wolke auf. Sein hagerer Körper kippte kraftlos um und schlug dumpf auf den Boden.
Der Finder lud nach und steckte die Schrotflinte zurück.
Er kniete neben den Leichnam und musterte den erschlafften Leib.
Die bleiche, lederne Haut war bereits kalt. Aus den zerfledderten Halsresten drang nur wenig Blut. Es war geronnen! Hatte der Finder einen Toten enthauptet?
Die in dem Fleisch steckenden Leitungen knisterten leise vor sich hin.
Plötzlich sprang der abgemagerte Körper auf und umklammerte den völlig perplexen Finder. Tief gruben sich die steifen Finger in seinen Rücken. Der Griff war fest, fordernd, unnachgiebig. Der Finder schlug auf die Leiche ein, doch die zeigte sich davon unbeeindruckt.
Ein Beben durchzog die Platte. Grollend teilte sie sich in der Mitte.
Hilflos stürzte der Finder gemeinsam mit dem klammernden Leichnam in den sich öffnenden Abgrund. Tiefe Finsternis umschloss ihn. Unerträglicher Gestank spülte über ihn hinweg und raubte ihm den Atem. Nach wenigen Sekunden hatte die Dunkelheit sein Bewusstsein erobert.
Grelles Licht.
Der betäubende Gestank von Verwesung und Körperausdünstungen.
Allmählich kam der Finder wieder zu sich. In seinem Kopf ratterten die Motoren einer ganzen Jeepkolonne. Mit schmerzenden Gliedern richtete er sich auf und wurde sofort von Schwindel und Übelkeit niedergeworfen.
Würgend sank er auf einen weich-feuchten Boden zurück. Über ihm schwebte der Kopflose, aufgehängt an den Leitungen, die in ein weit verästeltes Netz an der Decke liefen.
Das harte, weisse Licht brannte aus einer mächtigen Batterie aus Halogenleuchten herunter.
Ächzend schirmte der Finder mit dem Handrücken seine Augen gegen die blendende Helligkeit ab.
Vorsichtig setzte er sich auf.
Es kostete ihn Kraft, sich aufrecht zu halten. Seine Eingeweide protestierten grummelnd, doch er ignorierte sie. Mühsam stemmte er sich in einen unsicheren Stand.
Mit verschwommenem Blick schaute der Finder sich um.
Vor ihm lag eine weitläufige Höhle. Die ordentlich von Menschenhand geschaffenen Konstruktionen des Bunkers waren dem Chaos rosaroten Gesteins gewichen.
Die Luftfeuchtigkeit und Temperatur hier unten drangen sogar durch den Anzug des Finders und brachten ihn ins Schwitzen. Er drehte am Regler seiner Maske, um sich das Atmen ein wenig zu erleichtern.
„Willkommen, Aussenweltler!“
Die donnernde Stimme liess den Finder zusammenfahren. Er rutschte auf dem glitschigen Boden aus und schlug der Länge nach hin.
Etwas Feuchtes schlang sich um seinen Unterkörper und hob ihn empor.
Kopfüber baumelnd sah er, wie sich ein riesiges unförmiges Etwas auf ihn zuschob. Heisser stinkender Atem schlug ihm entgegen und beschlug die Sichtgläser seiner Maske.
„Du hast deine Chance zu verschwinden ausgeschlagen! Das war nicht klug!“
Der Finder bemerkte, dass sich die eine ohrenbetäubende Stimme in Wahrheit aus unzähligen einzelnen Stimmen zusammensetzte.
„Sieh uns an, Sandkriecher!“
Dem Finder wurde die Maske vom Kopf gerissen. Die nun ungefilterte Luft drang zäh und dick in seine Lungen ein. Er hustete und spuckte angewidert aus.
„Sieh uns an!“
Der verschwommene Schleier vor den Augen des Finders lüftete sich und offenbarte ihm das schrecklichste Ding, das er je zu Gesicht bekommen hatte.
Vor ihm erhob sich eine gigantische organische Masse aus dem von Gewebe überwucherten Boden. Ein dunkelrotes, pulsierendes Adergeflecht durchzog das entzündet aussehende Fleisch. Dutzende verquollene Gesichter starrten dem Finder aus dem aufgeblähten Ding heraus entgegen. Ihnen allen war ein Ausdruck der Wut gemein.
Dem Finder kam die ungute Ahnung, dass er gerade den Puppenspieler gefunden hatte.
Eines der Gesichter, das größte von allen, streckte sich vor. Durch seine leeren Augenhöhlen führten blutverschmierte Leitungen in den geschwollenen Körper hinein. Seine aufgerissenen Lippen formten die Worte, doch sie drangen kratzig und verzerrt aus einer Lautsprecheranlage unter der ebenfalls bewachsenen Decke.
„Es ist seltsam, nach so langer Zeit einem Menschen von der Oberfläche zu begegnen. Du hast den Fäusten des Wächters und den Worten des Botschafters getrotzt. Unter anderen Umständen wäre ich von deiner Leistung beeindruckt. Leider kenne ich den Grund deines Kommens. Es ist der einzige Grund, weshalb überhaupt jemand in dieses Loch hinabsteigen sollte. Der alte Mann hat dich gesandt. Ich sehe ihn in deinen Gedanken. Es ist diese Abscheulichkeit von Körper, die sie mir offenlegt.“
Das Wesen pausierte kurz, als ihm ein Schwall rötlichen Schleims gurgelnd aus dem Mund quoll.
„Ich kenne ihn. Hinter seinem gebrechlichen Äusseren versteckt sich eine grausame Bestie, wie du sie dir nicht vorstellen könntest. Niemals darf er den Folianten erhalten. In seinen Händen kann er die Welt ein zweites Mal untergehen lassen.“
Dem Finder stieg das Blut in den Kopf. Er versuchte, an sein Messer zu gelangen und sich loszuschneiden.
„Hör uns zu, Schwachkopf!“, brüllten alle Gesichter gleichzeitig.
„Ich möchte dich nicht töten, Aussenweltler“, fuhr der verkabelte Kopf fort, „Unter Umständen kannst du uns noch nützlich sein. Doch erst sollst du verstehen. Ich werde es dir erklären.“
Von beiden Seiten näherten sich dem Finder wurmartige Fangarme, die sich um seine Gliedmaßen schlangen. Sanft brachten sie ihn mit den Füßen auf den Boden, hielten ihn jedoch weiterhin in ihrem Griff.
Der Kopf senkte sich ein wenig zu ihm herab.
„Mein Name ist.....war....Georg Mertens. Vor mehr als neunzig Dekaden, noch bevor die Bomben fielen, wurde ich zusammen mit meinen Mitarbeitern hier eingeschlossen. Wir waren Wissenschaftler. Wir hatten den Auftrag, ein Mittel zu entwickeln, das den Menschen gegen die atomare Strahlung immunisiert.
Doch um etwas heilen zu können, muss man zuerst die Krankheit verstehen.
Aus diesem Grund erhielten wir einige Probanden zu Versuchszwecken. Strafgefangene, die niemand vermisste.
Anfangs verliefen die Experimente reibungslos. Tatsächlich machten wir unerwartet zügig Fortschritte, was wir zum großen Teil unserem Leiter, Dr. Biermann, verdankten. Er war ein ausserordentlich tüchtiger Mensch, ein Arbeitstier, ein Genie. Wir hatten ja keine Ahnung, dass er völlig andere Ziele verfolgte als wir.“
Die Gesichter zischten hasserfüllt.
„Eines Tages erhielt die gesamte Belegschaft von Biermann die Anweisung, sich auf Ebene Null einzufinden. Dort befanden sich damals die Zellen der Versuchspersonen. Natürlich leisteten wir, in Erwartung eines Durchbruchs in unserer Forschung, Folge.
Biermann war nicht da. Die Probanden ebenfalls nicht.
Zu spät erkannten wir die Falle.
Bewaffnete Soldaten stürmten die Einrichtung und sperrten uns auf den unteren Ebenen ein. Sie brachten ein neues Wissenschaftlerteam mit sich, dessen Leitung Biermann übernahm. Tagelang blieben wir über die Hintergründe im Unklaren.
Dann kam Biermann.
Er missbrauchte uns als Versuchskaninchen für ein Programm, das er „Operation Stahlfaust“ nannte. Er behandelte uns wie Tiere.
Wir können uns nicht mehr erinnern, wie lange wir ihm ausgeliefert waren und was in diesem Zeitraum mit uns geschah. Da sind nur noch Schmerzen, unendliche Schmerzen.
Doch irgendwann nahm es ein Ende.
Biermann stritt sich mit dem Befehlshaber der Soldaten, einem Mann namens Steiner. Er nannte Biermann immer „Kamerad“.
Der Streit eskalierte und in der darauffolgenden Auseinandersetzung injizierten sich einige der Soldaten das Serum, das an uns getestet worden war. Sie verwandelten sich in grauenvolle Bestien und richteten ein Blutbad an. Biermann konnte entkommen, verlor dabei aber sein Forschungsjournal, das er immer als „Folianten“ bezeichnet hatte, auf dieser Ebene.
Als der Kampf vorüber war, verschwand Steiner gemeinsam mit seinen Männern und liess uns zum Sterben zurück. Einige von uns konnten dank ihrer Mutationen die Kammer erklettern und aus dem Komplex entkommen.“
Der Finder erinnerte sich an den verwüsteten Aufzugsschacht.
„Der Rest blieb hier. Über die Jahre verschmolzen unsere Körper zu einem einzigen Organismus.
Wir bauten die Platte zum Schutz und erschufen den Wächter als auch den Botschafter. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Welt vor Biermanns Aufzeichnungen zu bewahren. Die darin beschriebenen Verfahren können, falsch angewandt, großen Schaden anrichten. Wir hätten den Folianten einfach vernichtet, doch klammerten wir uns immer an die Hoffnung, jemand könne das Wissen darin für unsere Heilung verwenden. Dies scheint aber Wunschdenken zu sein.“
Ein Knurren entfuhr den vielen Mündern des riesigen Mutanten.
„Dennoch!“
Hunderte Augen funkelten.
„Uns bleibt noch immer die Rache. Der Mann, der dich hersandte. Biermann! Er will seine kostbaren Forschungsergebnisse zurück!“
Schmatzend öffnete sich im fleischigen Boden ein Spalt und ein transparenter Kunststoffbehälter kam zum Vorschein. Darin sah der Finder ein dickes, perfekt erhaltenes Buch. Es war in graues Leder gebunden. Auf der Titelseite prangte ein stilisierter Vogel, wie der Finder noch nie einen gesehen hatte. Das majestätische Tier hatte die Flügel ausgebreitet und unter seinen Klauen befand sich ein Wappen: Ein seltsames Kreuz.
„Es ist verwunderlich, dass er noch immer lebt, aber das werden wir ändern. Er wird bezahlen! Und er selbst ist es, der uns das Werkzeug zu seiner Vernichtung in die Hände spielt!“
Ein aufgeregtes Johlen ging durch die Masse.
Der Finder verspürte ein Brennen unter der Haut, so als schmölze etwas sein Fleisch darunter. Schreiend ging er auf die Knie. Die Tentakel um seine Arme und Beine wanden sich in spastischen Zuckungen.
Was geschah mit ihm?
„Ein Teil von uns kommt mit dir, Finder!“
Die Nachricht von der Ankunft des Finders versetzte den Alten in pure Verzückung. Freudig strahlend trat er in sein Büro.
Sein Gast lehnte, wie vor wenigen Tagen, an der Tischkante und hatte die Arme vor dem Brustkasten verschränkt. Auf dem Tisch lag ein in ein schmutziges Tuch gewickelter Gegenstand.
“Ist es das?”, fragte der Alte aufgeregt, “Haben Sie es gefunden?”
Der Finder nickte.
So hastig, wie seine morschen Beine es zuliessen, eilte der Alte zum Tisch und nahm den Gegenstand in die zitterigen Hände. Behutsam wickelte er das Tuch ab und musterte das gelb angelaufene Schriftstück. Es war in einem furchtbaren Zustand. Er versuchte die halb verblichenen Buchstaben auf dem Titel zu entziffern.
“W..art.....ung.......von.......Bunk..er.....belüft....ungssystemen...?”
Das Lächeln des Alten schwand.
“Was hat das zu bedeuten?”
Zornig riss er seinen Blick von dem Buch und starrte den Finder an.
“Das ist nicht, weswegen ich Sie losgeschickt habe. Das ist das falsche Buch, Sie Vollidiot!”
Die Stimme des Alten überschlug sich vor lauter Wut. Doch er verstummte, als seine Augen die des Finders trafen. Die Skrupellosigkeit und Geldgier waren darin nicht länger zu sehen. Stattdessen glühte in ihnen tiefe Abscheu und etwas, das nicht menschlich war.
Der Alte bekam es mit der Angst zu tun. Er wollte gerade nach der Wache rufen, da schnellte der Arm des Finders nach vorn und packte ihn an der Kehle. Der Alte fühlte, wie er in die Höhe gehoben wurde. Er strampelte und schlug um sich, aber es half nichts. Die Finger des Finders pressten seinen dürren Geierhals zusammen. Er japste und schnappte keuchend nach Luft, doch der Finder schaute ihn gleichgültig an.
Langsam schwanden dem Alten die Sinne. In seinem letzten wachen Moment riss er sein Hemd auf und umklammerte mit aller Kraft das Amulett vor seiner knochigen Brust.
Dann verschlang ihn die ewige Dunkelheit.
Mit Verachtung schaute der Finder auf die Leiche zu seinen Füßen hinab. Die belegte Zunge des Alten ragte einer fetten Made gleich aus dem weit aufgerissenen Mund.
Der Finder wartete noch einige Sekunden, dann verliess er das Büro. Niemals würde dieser Mann Schaden anrichen können.
Nachdem der Finder gegangen war, öffnete sich eine verborgene Tür und ein großgewachsener, blonder Mann trat ein. Er ging zu dem Leichnam und beugte sich über ihn. Sein Blick fiel auf die um das Amulett geschlossene Faust. Lächelnd bog er sie auf. Auf der verschwitzten Handfläche lag das metallene Abbild eines schwarzen, zwölfspeichigen Sonnenrades. Der Mann nahm es heraus und steckte es in eine der Taschen seiner Uniform.
“Das wird dir nicht mehr helfen, Kamerad.”
Der Blick seiner stahlblauen Augen ruhte noch kurz auf dem Toten, bevor der Mann wieder durch den Geheimgang verschwand.