Mitglied
- Beitritt
- 25.01.2017
- Beiträge
- 9
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Der Fluss
Die Zeit floss vorwärts. Ein reißender Strom ohne Anfang und Ende. Wild. Drängend. Unaufhaltsam. Keine Brücke führte zum anderen Ufer. Es war eine ansonsten triste Landschaft und nur hochragende Berge zerbrachen die Monotonie der Wüste. Kein Rauschen. Kein Zwitschern. Kein Rascheln.
Ein tiefer Atemzug, der jede verstaubte Kammer meiner Lungen erreichte, ließ mich erzittern. Alle Sinne, vor kurzem noch taub, schickten ihre Signale in meinen Kopf. Mir war nicht kalt und ich verspürte keinen Hunger, aber trotzdem wuchs augenblicklich eine nagende, unbeschreibliche Kälte in meinem Inneren heran. Jede Spitze meines Körpers war kalt, seltsam leer. Als hätte man die Muskeln und Sehnen rausgerissen und die offenen Wunden als Akt des Hasses hinterlassen. Ich fühlte keinen Schmerz, aber eine widerliche Leere, wo keine sein sollte. Schnell drehte ich mich vom Rücken auf den Bauch und strampelte wild mit meinen Gliedmaßen. Wenn man mich jetzt sehen könnte. Das nagende Gefühl blieb an mir wie ein Parasit.
Prompt richtete ich mich auf und blickte auf die befremdliche Landschaft. Weitlaufende Ebene. Berge. Ein Fluss. Wie war ich hier hergekommen? „Ist hier jemand?“, rief ich. „Kann mich jemand hören?“ Keine Antwort. Seltsamerweise packte mich nicht die Furcht. Alles fühlte sich natürlich an. Als sei es der unabdingbare Lauf des Lebens. Ohne weitere Anhaltspunkte machte ich mich zum Fluss auf. Statt der alltäglichen Kleidung trug ich zerrissenen und dürftig zusammengeflickten Stoff. Hat mich jemand entführt? Die Regierung? Ich schüttelte zweifelnd den Kopf. Das kann nicht sein. Warum sollten sie das tun? Bevor mein Gedankengang komplexere Richtungen einschlagen konnte, erstreckte sich der Fluss vor mir. Jedenfalls das, was von weitem wie ein Fluss aussah. Von Nahem betrachtet gab es nur oberflächliche Ähnlichkeiten mit Wasser.
Kein vertrautes Rauschen war zu hören und wenn die wasserähnliche Substanz hochspritzte, blieb die Umgebung genauso stumm. Mit einem lauten Pfiff versicherte ich mich, dass meine Ohren vollkommen einsatzfähig waren. Statt der bläulichen Farbe spiegelte der Fluss ein Farbenspektrum von rot bis grün wider, die mit der scheinbar rasenden Strömung rapide wechselten. Argwöhnisch scheute ich meinen Blick vom Wasser über die Landschaft. Nichts Bemerkenswertes.
Versichert, dass ansonsten alles einen normalen Eindruck erweckte, setzte ich zögerlich meinen Weg zum Fluss fort. Selbst als ich nur eine Armeslänge davon entfernt war, gab dieses fließende Gewässer keinen Ton von sich.
Das Gefühl von Verwirrung im Keim erstickend, streckte ich meine Hand aus und berührte mit einer Fingerspitze die Ausläufer des Flusses. Doch statt der erwarteten Kälte und Nässe, schrie plötzlich eine Stimme in meinem Kopf auf. „FINN! F-!“ Wie ein versteckter Dolch traf mich der ohrenbetäubende Schrei hinterlistig und unerwartet. Hastig zog ich meine Hand wieder heraus und krabbelte auf dem Kiesboden achtlos vom Fluss weg. Zitternd blieb ich in sicherer Entfernung liegen. „Wer soll F-“, sprach ich meinen Gedanken frei aus, als mich die Wahrheit wie ein Tritt in die Leistengegend traf. Die unbestimmte Leere, die in mir spürte, füllte sich ein wenig und ein Keuchen entwich mir, als mir bewusst wurde, dass ich bis vor wenigen Sekunden nicht einmal meinen Namen gewusst hatte. Panisch suchte ich in meinem Gedächtnis nach einer Erinnerung, mit der ich etwas anfangen konnte. Familie. Verwandte. Freunde. Arbeit. Irgendeinen Gedanken, der mich meiner fehlenden Identität näher bringen könnte, doch alles blieb beim Gleichen. Die unbestimmte Leere in mir blieb verankert. „Finn-“, flüsterte ich und richtete mich wieder auf. „Finn!“, rief ich nun in der Hoffnung der Name würde etwas bewirken. Mich einer aktzeptablen Antwort näherbringen. Schnell formte sich ein roher Gedanke in meinem Kopf. „Ein Traum. Es ist nur ein Traum!“, meinte ich triumphierend, doch Zweifel blieben erhalten. Es füllte sich ziemlich echt an.
Räuspern. Eine andere Person. Eine ruhige Stimme. Sie gehörte einem Menschen, der in seinem Leben noch nie zu harter Arbeit genötigt worden war. Sanft, weich und überaus freundlich.
„Ein Traum erscheint immer wie die Realität, bis man aufwacht und merkt wie surreal die ganze Vorstellung war.“, erwiderte die Frau am Rande des fließenden Gewässers sitzend und ihren Kopf Richtung Fluss gerichtet. Perplex starrte ich sie an. Gerade eben war sie definitiv noch nicht da gewesen. Graues Haar, welches ihr wirr bis zu den Schultern wuchs, ging nahezu fließend in ihr graues Gewand überein. Ich blinzelte zwei Mal, bis ich meinen Mund aufbekam und mein Wort an die Fremde richtete.
„Guten Tag.“, quetschte ich nur heraus und blieb unschlüssig auf meinem Platz festgeklebt.
„Höflich.“, kam die knappe Erwiderung aus ihrem Munde. Stille. Entspannt blieb sie am stummen Flussufer sitzen und machte keine Anstalten mich einzuladen. Eine volle Minute verging. Die Neugier über diesen Ort und die Person klammerte sich immer fester in meinem Inneren und füllte die kalte Leere weiter aus.
„Wo bin ich?“, rang ich mich zu einer Frage durch.
„Am Ende.“, erwiderte sie kryptisch und verursachte nur noch mehr offene Fragen. Ich kratzte mich an meinem Hinterkopf.
„Wer sind Sie?“, stellte ich in einem kürzeren Abstand die nächste Frage.
„Deine Ehefrau.“
Von der Antwort völlig überrumpelt starrte ich die Frau an, die vorgab meine Ehefrau zu sein. „Meine Frau?“, sagte ich verdattert und setzte mich neben ihr auf den Boden. Ihre weichen Gesichtszüge erweckten keine verschollenen Erinnerungen und lösten keine Geistesblitze aus. In meinen Augen blieb sie eine Fremde.
„Wieso kann ich mich nicht erinnern?“, hakte ich nach. Ihr Gesicht drehte sich zu mir und offenbarte mir eine tiefe Narbe, die quer über die Stirn verlief. „War es denn nicht schon immer so mit dir, mein Schatz?“, meinte sie mit einem traurigen Lächeln. „Selbst nach deinem Tod erinnerst du dich nicht.“ Stumm und ohne jegliche Regung im Gesicht blickte ich die Fremde an. Die Worte ergaben überhaupt keinen Sinn.
Ich war nicht tot.
Ich war lebendig.
Quicklebendig.
Ich stand auf und ging mehrere Meter von ihr weg. Obwohl diese Information gravierend war, blieb mein Kopf fast leer. Es war keine Meisterleistung alle bekannten Informationen zu sortieren.
„Finn, komm.“, tönte ihre seichte Stimme an mein Ohr.
Skeptisch blickte ich zu ihr und schaute überrascht zu, als sie entspannt einen Fuß in das Wasser setzte. Weder lief ihr Gänsehaut über den Rücken, noch zuckte sie erschreckt zusammen. „Was ist das?“, fragte ich skeptisch und deutete stirnrunzelnd auf den Fluss.
„Dein Leben. Dein Verbleib. Finde es für dich selbst heraus.“, erwiderte sie belanglos.
„Wenn ich mich weigere?“
Ihre Hand zeigte auf die Ebene. „Hier ist nichts. Wenn du wissen willst wer du bist, dann musst du mitkommen. So oder so, am Ende wirst du auf der anderen Seite stehen.“, sagte sie und zeigte zum Schluss zum anderen Flussufer. Dort herrschte dieselbe karge Einöde.
Den Wunsch uns die Gedächtnislücke in meinem Inneren zu füllen und den abstrakten Schmerz im Körper zu lindern, folgte ich ihrer Bitte. Diesmal setzte ich meinen Fuß ohne zu zögern in das Wasser und wappnete mich gegen die Schreie. Wie erwartet hörte ich zuerst lauthals meinen Namen. Ich hielt mir vergeblich die Ohren zu. Derweil deutete mir die Fremde, die nun schon bis zu den Schultern im Wasser versunken war, mitzukommen. Das Lichtschauspiel des Flusses intensivierte sich, während ich Schritt für Schritt tiefer im Wasser versank und trocken blieb.
„FINN, WO HAST DU DEN GANZEN TAG GESTECKT?“, schrie mir eine weibliche Stimme ins Gehirn. Das Wasser erreichte meine Knie.
„WAS HABEN SIE SICH DABEI GEDACHT, LANDRUT?“ Die Hüfte verschwand in einem grellen Lichtblitz. Die Stimmen wurden intensiver. Die Fremde ist komplett im Wasser abgetaucht.
„DU BIST EIN KEIN M-“ Bevor ein weiterer der unzähligen Schreie vollendet werden konnte, war nun auch mein Kopf unter Wasser und hörte die Stimmen nun nur in Form von gedämpften Geflüster.
Sorglos atmete ich auf und wieder ein. Kleine Bläschen bildeten sich und schwanden mit der leichten Strömung weg. Von der Fremden fehlte jede Spur, aber ein kleiner Junge saß auf den sandigen Grund und schaute in die farbige Ferne. Bewusst, dass ich den Griff zur Realität nicht in den Händen hielt, blickte ich nicht überrascht, sondern erwartend. Der Junge drehte sich um und schaute mich mit freundlich blickenden Augen an. Statt eines zerrissenen Stoffes bedeckte eine gewaschene Jeans und ein gelber Pullover seinen kleinen Körper.
„sie meinte du würdest vorbeikommen.“, sagte er und blickte wieder in die Ferne.
„Die Fremde?“
„elli!“, erwiderte er mit der Energie eines wilden Jungen.
Bevor ich das Kind mit weiteren Fragen löchern konnte, nahm das durchsichtige Lichtspektakel plötzlich eine Bild an, welches vergrabene Erinnerungen in mir weckte. Ich war in einem Spielzimmer - meinem Spielzimmer. Kleine Klötze lagen auf dem Spielteppich rum. Zwei Kleinkinder jagten sich im Kreis. Junge und Mädchen. Kleine Bläschen, die sofort von der Strömung erfasst wurden, bildeten sich hinter den tobenden Kindern. Ich schreckte zurück, als beide plötzlich durch mich hindurchrannten. „finn!“,schrie jemand unvermittelt hinter der geschlossenen Tür. Der Junge und ich drehten sich gleichzeitig um. Die Stimme gehörte einer Frau, die mit einer gerunzelten Stirn hereinkam und beide Kinder sofort zum Stehen brachte. „mama! elli will nicht aufhören!“, rief Finn, drückte mit einer Hand die Schulter von Elli und brachte sich mit einem kindlichen Sprung in Sicherheit. Elli schaute ihn dubios an. „ihr beide weckt unsere nachbarn auf.“, klärte die Frau beide Kinder auf und fügte dann etwas sanfter hinzu. „spielt doch etwas ruhiger, bis ellis eltern zu uns stoßen.“ Die Umgebung löste sich auf. Nur noch der Junge und ich verblieben im Farbenmeer.
„Du bist also ich?“
„wer sind sie denn?“
„Finn.“
„ich bin finn landrut!“, erwiderte er wild und lief plötzlich in die Richtung des gegenüberliegenden Flussufers.
Als er stehen blieb, war seine Erscheinung verändert. Er hatte lange Haare, die er zu einem Zopf gebunden hatte und das Gesicht eines jungen Mannes, der nie über seinen eigenen Tellerrand geblickt hatte. Es gab keinen Spiegel in dem ich mich betrachten konnte, aber meine Hand traf auf einen glattrasierten Schädel. Wiedermals tauchte das Spielzimmer auf. Diesmal war es jedoch verändert. Keine Klötzchen lagen auf dem Boden, sondern ein großes Kissen, welches Platz für zwei Menschen bot. Finn und Elli saßen drauf. Schmiegten sich aneinander.
„wer hätte gedacht, dass das passiert.“, meinte Finn und strich eine Locke von Ellis Stirn. Elli lächelte bis über beide Ohren. „wir beide glücklich bis an das ende der welt.“, sagte sie mit träumerischer Stimme.
Das Szenario nahm plötzlich einen dunkleren Ton an. Als hätte jemand einen tiefschwarzen Klecks in das bunte Farbspektrum dazugetan. Zeitgleich verstärkte sich die Strömung. Die kleinen Bläschen wurden mit größerer Intensität von der Strömung erfasst. Ein männlicher Schrei gefolgt von einem viel höheren drang durch die geschlossene Eichentür in das Zimmer hinein. Beide sprangen sofort hoch und wollten zur Tür laufen, als diese aufging und meine Mutter hereinlief. „schnell, klettert aus dem fenster hinaus.“, rief sie ihnen zu und schloss die Eichentür hastig hinter sich.
Sie gehorchten ihrer Stimme und rannten zum offenen Fenster. In diesem Moment schlug eine solch gewaltige Kraft gegen die Tür, dass die sich dagegenlehnende Frau nach vorne auf den Boden flog. Die Person im Türrahmen ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
F. Crueger. Die Farbe um ihn nahm einen dunklen Ton an. Sein Gesicht war durch sich ständig bewegende Schatten verborgen und doch kannte ich ihn.
Ich wusste, dass ich ihn nicht zum ersten Mal sah. Ich wusste, dass der Mörder meiner Eltern vor mir stand. Brüllend raste ich auf ihn los, doch statt ihn zu treffen lief ich durch ihn durch. Crueger kniete sich zu meiner Mutter nieder und flüsterte: „still jetzt…als nächstes sind die kinder dran.“
Erneut zerfiel das ganze Gebilde und nur der zitternde Finn blieb zurück.
Er stand auf und rannte davon. Ich wollte ihm gerade folgen, als eine Hand mich zurückhielt. „Lass dich laufen.“, hauchte die vertraute Stimme mir zu. Ich drehte mich um und sah die ergraute Elli vor mir stehen.
„Was ist das alles?“, schrie ich.
„Habe ich dir das nicht schon gesagt?“, erwiderte sie mit einem Stirnrunzeln.
Mit der Zunge schnalzend schüttelte ich den Kopf. Nichts ergab einen Sinn.
Energisch fasste ich sie am Handgelenk. „Was ist das alles?“, fragte ich mit mehr Nachdruck.
Sie lehnte sich sanft an mich und überrumpelte mich mit einer Umarmung. „Dein Gericht.“, hauchte sie leise in mein Ohr und deutete mir dann an ihr zu folgen.
Unsicher folgte ich ihren Schritten. „M-mein Gericht?“, meinte ich verwirrt. Doch Elli gab keine Antwort. Stattdessen formte sich ein neues Gebilde. Ein Restaurant. Irgendwo im hinteren Winkel spielte eine Geige. Überall unterhielten sich angeregte Gäste miteinander. Die dampfenden Speisen hatten wie alles in den Gebilden keinen Duft. Die zwei wichtigsten Personen sprangen mir sofort ins Auge. Elli und Finn saßen sich mit Eheringen gegenüber, doch ihre Stimmung war in keinerlei Weise ein Abbild der Freude. Elli drückte Finns Hände. Sie war meine Frau, dessen war ich mir nun bewusst. Nichtsdestotrotz war diese Frau so gut wie ein leeres Buch für mich. Es gab keine plötzliche Erinnerungsflut. Eine unbeschriebene Seite in meinem Gedächtnis. „lass es hinter dir. du ruinierst nur dein leben.“, sagte sie zu Finn. „denke an unsere familie!“ Sie legte ihre Hand an den Bauch.
„das tue ich! er läuft nun wieder frei umher!“, erwiderte ich energisch. „ein monster wie er verdient die freiheit nicht. er muss s-“ Finn verstummte. Die Strömung wurde stärker. In Ellis Augen lag blankes Entsetzen. Sie erhob sich vom Stuhl.
„er ist ein monster. du bist kein monster!“
Mit langen Schritten entfernte sie sich von Finn und zerfiel in Bläschen. Sein Blick. Jahrelanger Hass. Dann zerfiel auch dieses Gebilde. Ich hatte mittlerweile Probleme den Weg nach vorne einzuschlagen, ohne von der Strömung erfasst zu werden. Sie zerrte an mir, versuchte mich von meinen Füßen zu holen. Elli schien jedoch keinerlei Probleme zu haben.
„D-das würde ich niemals tun!“, schrie ich ihr zu. „Das könnte ich niemals tun!“ Obwohl Finn die Worte nicht ausgesprochen hatte, wusste ich, dass er seinen Peiniger töten wollte. Wie konnte ich überhaupt auf einen solchen Gedanken kommen? Es war scheußlich. Elli erwiderte meinen Blick nicht, sondern ging stattdessen los. „Im Auge des Gerichts sind wir alle unschuldig.“, rief sie mir zurück und blieb stehen, bis ich keuchend bei ihr ankam.
Nun erschien noch ein Gebilde und in meinem Magen spürte ich, dass dies das letzte war. Das vorhin noch bunte Farbenspektrum war nun dunkel, schwarz und düster. Ein Mann mit glattrasiertem Schädel stand an einer schäbigen Tür und betätigte die Klingel. Sein Mantel war schwarz. Sein Kopf gesenkt. Kurz drehte er sich um und mein Gesicht blickte mir entgegen. Wut, Hass und Angst beherrschten die Mimik. „N-nein…“, brachte ich stockend hervor und als sich die Tür öffnete wusste ich, was geschehen würde. Ab hier war plötzlich kein Fragment in meinem Kopf lückenhaft und es war, als würde ich eine Wiederholung anschauen. Eine Szene aus einem Lieblingsfilm. Mit einem Tritt beförderte Finn den ausgemergelten Crueger zu Boden. Im Hintergrund hörte ich das vertraute Geräusch von schreienden Kindern.
Verzweifelt kämpfte ich gegen die immer stärker werdende Strömung und kroch zur Tür. „Tu e-es nicht…“, brüllte ich mit allen Leibeskräften, doch zum zweiten Mal bückte ich mich zu Crueger hinunter. Zum zweiten Mal legte ich ihm das Messer an die Kehle und flüsterte ihm den gleichen Satz zu, den er vor so langer Zeit selbst geflüstert hatte. „still jetzt…als nächstes sind die kinder dran.“ Meine eigene Stimme klang seltsam fremd. Kalt und leblos. Crueger schaute nur mit geweiteten Augen seinen Gegenüber an. Dann fing er an Blut zu spucken und erschlaffte. Die Kinder, schoss es mir durch den Kopf und entsetzt beobachtete ich mich selbst beim Aufstehen. Tränen flossen meine Wangen hinab, als ich merkte das ich nichts tun konnte, außer auf meinem Platz zu verharren und die Strömung bekämpfen. Ich konnte nichtmal eine Armeslänge vorwärts kriechen. Finn verschwand im Wohnzimmer. Der Fernseher. Die kleinen Betten. Obwohl ich die Augen geschlossen hatte, hörte ich die Kinderschreie hören und den Tathergang vor meinem geistigen Auge sehen. Es war schnell getan.
Mit tränenverschmierten Augen beobachtete ich wie Crueger unerwartet aufstand und seine Halswunde betastete. Er verschwand in der Küche, kam kurz später mit einem Messer wieder heraus und visierte torkelnd das Wohnzimmer an.
Zentimeter um Zentimeter schob mich die Strömung nun vom Gebilde weg. Es fühlte sich wie in einem Sturm an. Ich hörte meine Schmerzensschreie und die sterbende Stimme Cruegers an meinem Ohr. „wer feuer mit feuer bekämpft erhält nur asche.“ Dann verschwand das Gebilde in einem Ausbruch von Millionen Bläschen.
Schwarz. Alles war schwarz. Nur die wagen Umrisse von Elli waren erkennbar, die mit gesenktem Kopf dastand und meinen verzweifelten Augenkontakt mied. „Das k-kann ich nicht getan haben. „Das ist unmöglich!“, schrie ich zu ihr, doch anstatt zu anworten drehte sie sich um und verschwand in der Dunkelheit. Mit einem letzten Schrei wehrte ich mich gegen die Strömung, bevor sie mich entgültig erfasste und davonzerrte. Jeder Aufschlag auf den Boden war wie eine verdiente Strafe und jeder neue Kratzer ein Peitschenhieb. Ich trieb dahin, wurde geschleudert, getroffen und hatte, als ich wieder auf dem Boden lag, jegliches Zeitgefühl verloren.
Als die Schmerzen sich wieder legten ersetzten die aufgefrischten Erinnerungen ihren Platz und wünschte sofort wieder im endlosen Strudel gequält zu werden. „Ich gehöre an den schlimmsten Ort.“, krächzte ich und wünschte mir ich wäre nie in den Fluss gestiegen. Unwissen ist ein Geschenk der Gnade.
Irgendwann rappelte ich mich auf. Es war erst vorbei, wenn ich diesen Fluss verlassen hatte. Langsam schritt ich wieder voran. Als mein Kopf aus der Wasser lugte setzten wieder die schreienden Stimmen mit ihrer Kakaphonie fort. „VIER TOTE IN EINER WOHUNNG.“, schrie eine unbekannte Stimme an mein Ohr und schoss weitere Sätzen aus dem Lauf. „WELTWEITE ÖLKRISE!“ Diesmal bewältigte ich den Weg schneller. „WASSERKRIEGE IN DER D-“ Als ich endlich auf dem Kieselsteinboden zusammenbrach, schmerzte der Kopf. Mir war, als hätte ich mich tagelang auf einer ruhelosen Wanderung befunden. Obwohl der abstrakte Schmerz in meinen Gliedmaßen nicht mehr spürbar war, war mir, als hätte man meinen Verstand durch die schlimmsten Untiefen gezogen. Ein verkrampftes Zittern erfasste meinen Körper. Elli saß in einem Schneidersitz vor mir. Ihr Blick spiegelte eine tiefe Traurigkeit wider.
„Was nun?“, fragte ich stumpf.
Sie erhob sich und ging in die Kieselsteinwüste. „Nichts.“ Ein Schauder lief mir über den Rücken und unwillkürlich drehte ich mich nach dem Fluss um, doch der Fluss war weg. Ersetzt durch eine endlose Wüste aus Kieselsteinen. Als mein Blick zurückfiel traf mich das gleiche Bild.
Elli war weg.